Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commercial parties, including placing lechnical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain fivm automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogXt "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct and hclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers rcach ncw audicnccs. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at |http: //books. google .com/l
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Uiheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in Partnerschaft lieber Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche Tür Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials fürdieseZwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter |http: //books . google .coiril durchsuchen.
' v>
\-
> •
- • »
//*
..^^■
t i
• •/"
» '
*^A'-
\'
- L'V
*• i
. >
N t «
< ,'• J
^^
/.
r /
r* /
■■ ■-. .-' ■" \ >
V
.V.W. ^^
)'-
f
- ,■ \
-■" ■ «
k ' /
'. . i
>^r
'* ', >
V
^■"
V
V \
BEQUEATHED BY
PROZESSOR OF
6ermanfc Xanguages anö Xfteratutes
IN THE
1896-1899.
' {
<y.
/" V
\ i
) L.
i-^';,\
^ .^\
.■\;
;j
>
7 >
^'.--
* -
.'V.
^ ■■ I
' )
'' . ' / 1 ^ V
■> - V
*1 *■
' 's J— \ " »' -.
. ' • • '- \
>/> J
\ —^
1
J '
J \
, : r.. ,-■
/ ■' .
^- - ' >'
' <
.1 ■ • ^
^ \ >i
• - ■<%
- 1 * *..
• - / *
y\
r^
' V
4 .
T ,-
\
. f
Ci hä'
"VUvuiv
D
as
Leben der Sprache
iinci ihre AVeltstelliing.
Von
I>r. Xt^udolf XSIleiiipaul.
ERSTER BAND:
Sprache ohne Worte.
Leipzig.
Verlag von Wilhelm Friedrich.
1893.
Sprache ohne Worte.
Idee einer allgemeinen Wissenschaft der Sprache.
Von
Dr. Rudolf Eleinpaul,
Leipzig.
Verlag von Wilhelm Friedrich,
Alle Rechte vorbehalten.
Allem, was Sprache hat,
gewidmet.
Da ich aus dem Schlaf erwachte,
Noch nicht wusste, dass ich dachte,
Gäbest du mich selber mir;
Liessest mich die Welt erbeuten,
Lehrtest mich die Rätsel deuten,
Und mich spielen selbst mit dir.
Friedrich Rückert. An die Sprache.
^
Vorwort.
Die drei linguistischen Bücher: „Sprache ohne Worte",
„Stromgebiet der Sprache" und „Rätsel der Sprache", die
ich im Laufe von vier Jahren nacheinander herausgegeben
habe, lege ich hiermit unter Einem Titel vor, wie es von
vornherein in Aussicht genommen worden war. Sie bilden
ein geschlossenes System der Sprachwissenschaft, sofern man
darunter die Lehre vom Leben und Weben der Sprache
selbst, keine Spezialuntersuchungen, versteht. Das erste
beschäftigt sich mit der Sprache im denkbar allgemeinsten
Sinne, sogar mit einer ohne Absicht der Mitteilung und ohne
Gedankenaustausch — deis zweite mit der Laut- und Wort-
sprache, deren Entwickelungsgeschichte in grossen Umrissen
— das dritte mit dem Sprachbewusstsein der Menschheit, der
Wortdeutung oder Etymologie, wie sich das fertige Werk-
zeug des Gedankens im Kopfe der Gelehrten und Unge-
lehrten spiegelt, üngesucht hat sich mir in Bezug auf die
Sprax^hphilosophie eine ähnliche Dreiteilung ergeben, wie
sie Hegel mit dem System der abstrakten Philosophie vor-
genommen hat, indem er dasselbe in drei grosse Gedanken-
kreise: die Wissenschaft der Idee an sich, die Naturphilosophie
und die Philosophie des Geistes gliederte. Wie dort das
unbestimmte Sein, spitzt sich hier im dialektischen Prozess
die Sprache zu drei Haupterscheinungen: der Gebärden-
sprache, der Schrift und der Lautsprache zu, welche letztere
sofort die Führerschaft übernimmt und, nachdem sie durch
mehrere Stufen der Existenz hindurchgegangen ist, endlich
im grammatischen Satze, im ersten vernünftigen Worte
gipfelt; und wie sich dort die Idee aus ihrer Entfremdung
- vni ~
in der Natur wiederzusammenfasst und als Geist zu sich
kommt, so kommt hier gleichsam die Sprache zu sich, erblickt
sie in dem denkenden Geiste, der sich ihrer bediente, ihren
Wiederschein, beginnt ihre Selbsterkenntnis, die, weil sie so
spät eintritt und inzwischen Laute und Begriffe ihre eigenen.
Wege geg^gen sind, so sehr erschwert wird. Sie steht
vor lauter Rätseln, derselbe Mensch, der die Sprache her-
vorgebracht hat, weiss nicht mehr was er spricht; er ist auf
einmal im Besitz eines wundervollen Werkzeugs und begreift
nicht, wo er dasselbe her hat. Die Antwort auf diese Frage
erteilt die Sprachwissenschaft, zu der sich dcis sprechende
Volk erhebt, die am Ende des zweiten Teiles das Problem
vom ,, Ursprung der Sprsiche" aufwirfl, im dritten ihre
eigenen Gesetze \md Grundregeln untersucht.
Möge das ganze Werk, das den ernsten und den ersten
modernen Versuch darstellt, die Sprache als solche wissen-
schaftlich zu begreifen, allgemeine Gesichtspunkte für die
Sprachforschung anzugeben und ihre Gebiete abzustecken,
den Erfolg haben, den die Verlagshandlung wünscht und
der Gegenstand verdient, und den Fachgelehrten nicht wert-
los, den Laien nicht unnütz, niemand langweilig sein.
Leipzig 1893.
Rudolf Kleinpaul-
Inhalts -Verzeichnis.
Erstes Buch.
Ohne Absicht der Mitteilung und ohne Gedankenaustausch.
Erstes Kapitel.
Die Sprache im allgemeinsten Sinne. Seite
I. Die Weltsprache. Einleitung 3
Die Idee einer Uhiversalsprache — Versuche diese Idee zu ver-
wirklichen — inwieweit die einzelnen Sprachen dem Ideal einer
Weltsprache nahegekommen sind — das Volapük, seine Absur-
dität und Hoffnungslosigkeit — die Kraft eines Individuums wird
mit der Kraft eines Volkes verwechselt — eine Sprache kann
überhaupt nicht erfunden werden — das Volapük selbst ein
Beispiel für diese Unmöglichkeit — es ist ein Jargon, wie die
Lingua Franca oder wie das Pigeon English — wir sehen uns
nach einer andern Art Weltsprache um — nach einer Sprache,
die diesen Namen verdient — wie uns dieselbe aufgegangen ist:
persönliche Erinnerungen — die sprechende Nachtigall aus
Tausendundeine Nacht — die Sprache, welche sie kann, ist
nicht die einzige, es gibt auch eine Sprache ohne Worte —
die ganze Welt ist Sprache — die Himmel erzählen die Ehre
Gottes, die Ruinen predigen laut, Falstaff hat eine ganze Schule
von Zungen in seinem Bauch — die Welt, wie sie uns erscheint,
redet von einer höheren Welt, die hinter der Welterscheinung
steht — dies die erste und älteste, von den Menschen selber
vor jeder andern gesprochene Sprache.
II. Die Symbolik 20
Abermals in Florenz: siehst du den schwarzen Hund durch Saat
und Stoppel streifen? — wenn wir die Welt mit den Augen
des Eingeweihten ansehn — die Nachtigall und die Rose —
jedes Bild als solches sprechend ähnlich — natürliche Abbilder
— X —
Seite
— die Lotosblume, die Passionsblume, die Signatur der Pflanzen
— Beziehungen der Blumen zu den Geschlechtsteilen — das
Sinnbild — das Ei, die Kugel, das Sistrum: Weltsymbole —
das sehende Dreieck; die Schlange, die sich in den Schwanz
beisst — das Pentagramm , das Ypsilon — das Stehaufchen,
Symbol des Eigensinns — Tiere und Pflanzen, alte Sinnbilder
für gewisse Eigenschaften — der Granatapfel und das Mohn-
haupt, der Hase und der Karpfen — warum die Rose und die
Myrte der Venus heilig sind — die Weide und das Keusch-
lamm — das Sieb, das Einhorn und das Hermelin — der Ele-
fant — drei Bäume mit dauerhaftem Holze: die Akazie, die
Zypresse und die Zeder — der Lorbeerbaum und die Palme
-r- der unsterbliche Pfau — die christliche Symbolik — Christus,
das Licht der Welt — irdische Symbole Christi — der Wein-
stock — das Schiff — der Fisch, das Lamm und die Taube,
Hauptsymbole des christlichen Altertums — die heidnischen
und die christlichen • Symbole sind Worte einer Weltsprache,
die vor Jahrtausenden gesprochen worden ist.
in. Die Divination 44
Drei Träume — wenn wir unter dem Lebensbaume der Welt
sitzen, ist es' uns auch als ob wir träumten — Piatos Erklärung
von der Gabe der Weissagung — die Leber nicht bloss ein
subjektives Organ der Divination — Vorbilder des Kommenden
— Eingeweideschau und Vogelflug — Spinnen und Schafherden,
Raben und Krähen, Hornissen und Hasen — persönliche Er-
lebnisse sind bildlich und vorbedeutend — die Salisation, das
Niesen — Omina, die auf die letzte Mahlzeit Christi und den
Karfreitag zurückgehen — das Verschütten des Salzes , die
Zahl Dreizehn, der Freitag — die Menschen bauen den An-
zeichen des Unglücks vor — deuten sie um — Bischof Otto
in Pommern — Vorbilder Christi im alten Testament — heid-
nische Vorbilder — die Welt, ein Sigtiiwi^ quod a Deo homini-
hus portenditur.
IV. Die Traumsprache 57
Auffassung der Träume im Altertum — der Morpheus des Ovid
— die Träume eine Art selbständiger Geister, die von den
Göttern auf die Erde gesendet werden — die zwei Pforten,
aus denen sie kommen — die Sprache des Traumes, eine vierte
göttliche Off'enbarung — die Träume Augurien , die Traum-
deutung Divination — die Bildlichkeit des Traumes — sie er-
innert an die Ausdrücke der Dichter und Propheten — Paral-
lelen, die man zwischen den Träumen profaner Personen und
den Visionen alttestamentlicher Propheten ziehen kann — zwei
— xr —
Seite
von Fredegar mitgeteilte Träume fränkischer Könige — die
Seele und die Maus — die Bildersprache des Traumes ist oft
abhängig von der Zeit, der Nation und dem Ilande des Träu-
menden, sowie von persönlichen Zuständen — Idee ein6r allge-
meinen Traumsprache und eines "Wörterbuchs derselben —
Proben: Redensarten des Traums, die durch die ganze Welt
gehen — Verirrungen, Zahlensymbolik in Italien und in Wien.
V. Schottisch 74
Die Sprache der Hochschotten — das Zweite Gesicht — das-
selbe eine allgemein menschliche Offenbarung und eine Sprache
Gottes wie der Traum — Hans von Einsiedel und ApoUonius
von Tyana — Unterschied zwischen Träumen und Visionen —
letztere erinnern an mythologische Schöpfungen — dämonische
Kräfte, die hinter der Natur geahnt werden — die Schuld des
Baron von Neuhof — die wahre Schuld — das weibliche Ge-
schlecht das Leibgeschlecht ominöser Erscheinungen — Dion
und Brutus — dämonische Weiber — nichts ist so dämonisch
als das Weib — Flüche, Sünden, Krankheiten als Frauen an-
gesehen — der Tod und die Weisse Frau — die vier Apoka-
lyptischen Reiter — der Apostel Petrus als Todesbote — der
Dämon in eigener Gestalt — Schutzengel und Genien — gött-
liche Stimmen im Leben religiöser Personen — der Dämon
kann unsere eigene Gestalt annehmen und zum Doppelgänger
werden — es sind entscheidende Momente , die den inneren
Gott veranlassen zu sprechen — siete soddisfatto?
:Zweite8 Kapitel.
Die Sprache des Angesichts.
I. Allgemeines. Geschichte der Physiognomik .... 92
Die Quidproquos der Physiognomiker — Fi-onti nulla fides —
der Schädel Rafaels — das ehrliche Gesicht des Evangelisten
Marcus — der kleine Talbot — Uhland ein Papiermachergesell
oder ein Uhrmacher — die Phrenologie — Lavater und Gall,
verspottet und widerlegt — die Physiognomik immerhin eine sehr
nützliche Kunst — und eine alte Kunst — Scriptores Physiogno-
fnoniae veteres — Hippokrates und Aristoteles — wie Sokrates
von einem Physiognomiker für einen alten Wollüstling erklärt
wird und er dieses Urteil bestätigt — der Physiognom kann •
nur die natürlichen Anlagen bestimmen — Tierähnlichkeiten
— Vogelgesichter, Hundeköpfe, Wildprettypen und Haustiertypen
— die Volksphysiognomie hat Beziehungen zur Fauna des Lan-
des — Giambattista della Porta, sein geheimes Wissen und seine
Analogien — er begründet nach der Meinung der Italiener die
Wissenschaft der Physiognomik — sie ist eine Sprachwissenschaft
— xn —
Seite
— Animi imago vultus est — die Symbolik der menschlichen
Gestalt — innere und äussere Bedingungen der Physiognomie —
die Physiognomik nicht mit der Mimik zu vermengen — der
menschliche Körper ist wie eine Porträtstatue des Geistes, der
Modell gestanden hat.
IL Die leiblichen Analogien 103
Verhältnisse der einzelnen Körperteile zu einander — die ärzt-
liche Semiotik — populäre Kennzeichen: der Harn, die Zunge,
die Fingernägel — Bleichsucht, Gelbsucht, Blausucht — die
Korpulenz, bedingt durch das Darniederliegen der Geschlechts-
thätigkeit — einzelne Naturfehler und ihre psychologischen
Effekte — die Buckligen, die Schwerhörigen — Zeichen der
Gesundheit: das Auge — die Temperamente, Formen der Ge-
sundheit — stehende Korrelationen — die Symmetrie des Ske-
lettes — Nase, Mund und Fuss haben am Körper ihre Korre-
spondenzen — männliche und weibliche Geschlechtseigentüm-
lichkeiten — Vorderbacken und Hinterbacken — sogar die
Muttermale und Leberflecken sollen sich wiederholen — Gibbon
und die Marquise Du Deffand, die sein Gesicht befühlt.
ni. LeibundSeele iii
Die Enthüllung der Mumie des König Ramses IL — seine
mächtige Habichtsnase — die königliche Nase — die Nase das
Aushängeschild des Charakters und immer vielsagend — Nasen,
die bedeutende Männer gehabt haben — die Ohren und das
Ohrläppchen — die Augen, ein Spiegel der Seele, ein Prüfstein
der Gesundheit , ein Massstab für das Alter — Taubstumme
und Blinde — die Accessorien an den Augen: die Augenbrauen
und der Hoffartsmuskel — die verschiedenen Formen der Hand :
die sensible und die motorische, die weibliche und die männ-
liche Hand — die psychische und die elementare Hand — die
Handfläche — ex ungiie leonem — die Handschriftendeutung —
der Mund und die Lippen — hiermit sind die Sinnesorgane
erledigt und wir sehen uns den ganzen Menschen an — die.
Statur — Homo longus raro sapiens y sed si sapiefis sapientissimus
Vorliebe grosser und dicker Männer für kleine und zarte Frauen
— Vir pilosus aut libidinosus aut fortis — der Herakles Melam-
pygos — das Haar — alles ist in seiner Art charakteristisch:
der Gang, das Lachen — die Hässlichen — sie haben häufig
Glück in der Liebe — Krates und Hipparchia, der Herzog von
Lauzun, Rizzio — Don Quixote und Matthias Claudius über die
Schönheit.
IV. Nationalität und Rasse 127
Zur Beförderung der Menschenkenntnis — die Physiognomie nicht
X
— XIII ~
Seite
bloss ein Protokoll des Charakters, sondern auch ein Geburts-
schein — die ethnographischen Kenntnisse unserer Zeit, nament-
lich der Grossstädter - — woran die Florentinerin den Engländer
erkennt — russische, römische, griechische, jüdische, deutsche
Nasen — Familiennasen, die Kaisernase — il Labbro Austriaco
— der Nacken des Polen, der Rücken des Friesen, die Stea-
topygie der Hottentottinnen — Rassenmerkmale: die Hotten-
tottenschürze — Geschöpfe der Wüste und Geschöpfe des
platten Landes — die Sitten und Gewohnheiten der Völker:
Orient und Occident — die Sitten sind nicht bloss an sich
charakteristisch, sie hinterlassen auch dauernde Spuren in der
leiblichen Erscheinung — wie an der Nase, am Kopfe, an den
Geschlechtsteilen, am ganzen Körper herumgebastelt wird —
einseitige Thätigkeit und abnorme Lebensweise bei den Grossen:
Lappen und Tataren — sonstige Verunstaltungen durch unver-
nünftige Zierraten — Natur und Erziehung — das Bild des
Volkes.
V. Stand und Profession 136
Die Hand steckt in einem Handschuh, den ihr das Leben über-
gezogen hat — der ganze Körper steckt im Mantel des Berufs,
wie der Glaukos des Plato — durch einseitige Beschäftigung
wird die Harmonie gestört, bei Individuen wie bei ganzen. Völ-
kern — jedes Handwerk hat seine besondere Missbildung — die
krankhaften Beine, die sich die Menschen anstehn und ansitzen
— Gewerbekrankheiten — das Bäckerbein — Habitus der Schnei-
der, Schuster, Tischler, Leineweber — die letzteren meist ge-
drückt und furchtsam — der grosse Kopf des Gelehrten, der
kleine Kopf des Maurers — Gastwirte und Kellner, Soldaten
und Seeleute — die protestantischen Geistlichen und die katho-
lischen Pfaffen — die Bewegungen des Handwerks werden zur
Gewohnheit: Schneider, Schuster, Musikanten, Studenten —
Kennzeichen der Erziehung — quo semel est imbuta receiis^ ser-
vabit odorem testa diu.
VL Erfahrungen und Schicksal 144
Vier Brüder — das Leben und das Schicksal zeichnet die Men-
schen ins Angesicht — die Abenteuer, die Gil Blas erlebt hat,
sind auf seiner Stirne zu lesen — die wahre Chiromantie —
man sieht es dem Menschen gleich an, was er für Tage gesehen
hat, ob er reich oder arm ist, ob er tausend oder zweitausend
Mark zu verzehren hat — wie der reiche Mann spuckt und
wie der arme Mann spuckt: Lesefrucht aus Labruyfere — Schick-
sale und Erfahrungen gelangen nur durch Vermittelung der
Affekte zum Ausdruck im Gesicht — die Objektivität muss
^
— XIV — .
Seite
durch die Subjektivität hindurchgehen — nur das dauernde
Bild der Seele, an dem Vaterland, Geschlecht und Stand ein
'für allemal mitgearbeitet haben, ist der Vorwurf des Physiogno-
mikers.
VII. Die Kleidung. 148
Die künstliche Haut des Menschen — weite Ausdehnung ihres
Begriffs, die jedoch hier nur angedeutet wird — an der Kleidung
nach Jesus Sirach der Geist des Mannes zu erkennen — zu-
nächst erkennt man an ihr Stand und Nationalität — . die
Nationaltrachten vermischen sich, die Standesunterschiede ver-
wischen sich — der nivellierenden Mode zum Trotz bleiben immer
noch genug Nuancen übrig, die den Beobachter leiten können
— auch bringt nicht selten der Beruf eine bestimmte Tracht
mit sich r— wie die römische Polizei mit Hilfe kupferner Stifte
eine unbekannte männliche Leiche rekognosziert — innerhalb
der durch Nationalität und Stand gezogenen Grenzen macht sich
der Charakter des Individuums geltend — moralische Eigen-
schaften, die sich in der Kleidung spiegeln — die Eitelkeit,
die aus den Löchern im Mantel des Antisthenes hervorguckt —
wie sich der Weltmann kleidet — Vergleich zwischen der
physiognomischen Prognose und der Bestimmung von antiken
Marmorbildem, bei welchen ebenfalls auf die Kleidung zu achten
ist — wie jene auf den dargestellten Gott, leitet diese auf den
Geist, dessen Ebenbild der menschliche Körper ist.
Drittes KapiteL
Die Sprache der Mienen und Geberden.
I. Die' gelegentlichen Äusserungen. Interjektionen . . 158
Niemand badet zweimal in demselben Flusse — umsoweniger als
sich der Badende selbst verändert — dennoch bleibt die Form
des Organismus bis zu einem gewissen Grade stationär — die-
selbe wird nur vorübergehend gestört, indem Reize an den
Organismus herantreten und er auf die Reize reagiert — der
Spiegel des menschlichen Angesichts zerbricht einmal über das
andere und stellt sich dann von selber wieder her — zum Bei-
spiel bei Aufregungen, im Zorne — der Kardinal Wolsey, der
rasende Ajax, Othello, Hamlet — das Spiel der Mienen macht
von der stehenden Physiognomie eine Diversion — die Reflex-
bewegungen sprechende Symptome, sie reden von den Affekten,
dfe sie hervorgerufen haben, und mittelbar von den entsprechen-
den Reizen — alle Geheimnisse seines Haushalts schwatzt der
Organismus, aus — das Tier selbst hat diese Sprache — ^ die
Ohren der Pferde, der Schwanz des Himdes, das Erwachen der
Harpyie — Theoderich, durch einen Fischkopf an das Gesicht
— XV —
Seite
des Symmachus erinnert — die Reaktionen teils sichtbar, teils
hörbar — Begriff der Interjektionen — dieselben sind bei den
verschiedensten Völkern gleich, gehen von Volk zu Volk —
wie der polnische Jude macht, wenn man ihm auf den Fuss
tritt — sie werden gern verdoppelt und untereinander verbunden
— Ergänzungen des Naturlautes durch Pronomina und andere
Worte — Gewohnheit, im Schmerz das höchste Wesen anzu-
rufen — der Name Linos, ein semitischer Klageruf — es läuft
vieles unter dem Namen Interjektion, was nichts damit zu thun
hat — ö, bald Ausruf, bald Zuruf — inwiefern Flüche und
Schwüre die Funktion von Interjektionen erfüllen — sie werden
oft absichtlich verstümmelt und verdunkelt — Missbrauch des
Begriffes Interjektion • — Lockrufe, Scheuchrufe und andere Wei-
sungen, so man den Tieren angedeihen lässt, dürfen nicht mit
Näturlauten in einen Topf zusammengeworfen werden — die
Lockrufe bestehen in den Namen der Tiere — wie Gänse,
Hühner , Enten , Tauben , Schweine , Ziegen , Katzen gerufeö
werden — in Interjektionen reden ist ein Widerspruch —
auch die Wörtchen, die man Menschen zuruft, keine Interjek-
tionen, sie haben vielmehr Beziehungen zu Sprachwurzeln —
Holla! zu liolen, Hip! zu hüpfen ^ St! zu stehen — Theorie, wo-
nach die Sprache überhaupt aus Interjektionen hervorgegangen
sein soll — uns genügt es zu konstatieren, dass einzelne Inter-
jektionen zu Substantiven und imifangreichen Begriffen erhoben
worden sind, denn wir können die Interjektionen in unserem
Buch nur brauchen, nicht sofern sie Worte sind, sondern sofern
sie keine Worte sind.
II. Lachen und Weinen 178
Darwins Prinzip der Antithese — noch wichtiger ist das Prinzip
der natürlichen Übertragungen oder der psychologischen Meta-
phern — die ganze Psychologie steckt voll bildlicher und in-
direkter Ausdrücke , voll volksmässiger Gleichnisse — streng-
genommen ist sie die Lehre vom Atem — alle Sprachen leiten
die Vorstellung des Geistes und der Seele aus dem Begriffe des
Atmens her — anderemale wird die Seele als eine Art zweiter
Leib oder als ein Tierchen vorgestellt — das Zeugen und das
Erkennen — äusserliche Vorarbeiten werden für die nach-
kommende Seelenthätigkeit genommen — die Menge geht über
die äusserlichsten und unwesentlichsten Erscheinungen des Seelen-
lebens nicht hinaus — hiernach begreifen wir, wie die Natur
selbst geistige Zustände als solche nicht begreift — alle Geheim-
nisse seines Haushalts schwatzt der Organismus nach Einer
Leier aus — erste Stufe: die Reaktion erfolgt auf einen sinn-
— XVI —
Seite
liehen Reiz — zweite Stufe: die Reaktion erfolgt auf die blosse
Vorstellung des Reizes, zum Beispiel bei der Furcht — dritte
Stufe: die Reaktion erfolgt auf allgemeine Störungen hin, welche
unter dem Bilde eines lokalen Reizes angeschaut werden — die
physischen Reize liefern das Tertium Comparationis — das
Weinen und das Lachen: handgreifliche psychologische Meta-
phern — selbige Metaphern sind neue, aber unbewusste Kund-
gebungen der Natur und Elemente der Sprache ohne Worte.
III. Der Kuss 193
Wie Lude sich die Weltsprache denkt — er kann sich auf
Shakespeare berufen — r nachdem wir gesehen haben, dass die
natürlichen Mienen und Geberden auf bestimmte Reize hin er-
folgen , müssen wir nach dem Grunde fragen , der uns treibt,
diese Reize hervorzubringen — dieser Grund ist das Gefühl,
das uns eine Person einflösst — jedes Gefühl hat wieder seine
spezifischen Geberden, zum Beispiel die Liebe den Kuss — das
Präludium des Beischlafs — die geschlechtliche Liebe ist ego-
istisch und hat wenig von der wahren Liebe, die selbstlos und
nur auf das Wohl des andern bedacht ist — der Kuss ein Vor-
schmack und eine Probe des Beischlafs und wie dieser ein
egoistisches Vergnügen — der Küssende küsst sich gleichsam
selber, wie Philine, die Kusshändchen austeilt — Übertragung
des Liebeskusses auf Freunde und Verwandte — der Kuss von
dem Mund auf untergeordnete Teile übertragen — seit den
ältesten Zeiten grüsste man die Gestirne durch einen Kuss auf
die eigene Hand — die Kusshand bei der Adoratio der Römer
— den Göttern und Kaisern werden die Knie, die Füsse, die
Kleider, die Schuhe geküsst — die drei Stufen des Kusses: der
Liebeskuss der geschlechtlichen Liebe, der der Ekel; der Kuss
der wahren Liebe, der der Hass; der Kuss der Hochachtung,
.der der Stolz und die Verachtung entgegengesetzt ist — alle drei
Stufen in Christus vereinigt — eine vierte Stufe: das Küssen
der Verstorbenen.
IV. Die Selbstbeherrschung 203
Die diplomatische Miene des Tiberius, die unveränderte Miene
des Marc Aurel — die Apathie der Stoiker — die alten Ger-
manen sinken lachend in die Arme des Todes, die Indianer
singen am Marterpfahle lustige Lieder — wir kaufen das Lachen
und bestellen die Heiterkeit: die Sandwichmänner in Paris —
im Dreissigjährigen Kriege lacht der Hauptmann nur am Sonn-
tag, der Weltumsegler Cook lacht nur Sonnabend abends —
Krokodilsthränen — die Welt ein grosses Schauspielhaus, die
ganze Natur auf den Kopf gestellt — die Gewalt, welche wir
— xvn —
Seite
über unsere Mienen und Geberden haben, äussert sich bald in
negativer , bald in positiver Weise , jenachdem wir sie unter-
drücken oder reproduzieren — das Reich Monomotapa niest
— Unterschied zwischen dem falschen Geberdenspiel in der
Gesellschaft und dem Spiel des Mimen im Theater — die Frauen
überschauspielern Adrienne Lecouvreur und Rachel F^lix — die
Menschen wollen beobachtet werden, thuen aber so als ob sie
nicht beobachtet werden wollten — wenn die Absicht , eine
künstlich reproduzierte Miene sehen zu lassen , eingestanden
wird, entsteht eine höhere Form der Sprache ohne Worte —
Schluss des ersten Buches.
Zweites Buch.
Mit Absicht der Mitteilung, aber ohne Gedankenaustausch.
Erstes Kapitel.
Ein Schritt vorwärts. Die Reveille 211
Der Stein der Weisen — es scheint, wir haben ein Pulver ge-
funden, das die Kraft hat, die ganze Welt in Sprache zu ver-
wandeln — warum die Weltsprache noch keine rechte Sprache
ist — der Zweck macht das Wesen der Thätigkeit aus, die
Absicht der Mitteilung ist es, was eigentlich Sprache macht —
das animalische Leben der Boden, in welchem die eigentliche
Sprache keimt — indessen der Gedanke, der mitgeteilt werden
soll, ist vorerst noch nicht entwickelt — es kann sich fügen,
dass nur die Absicht der Mitteilung allein zum Ausdruck kommt,
der Gedanke im Hintergrunde bleibt — die Weckstimmen,
die Reveille in der Sprache — das Anklopfen — wie man in
England klopfen muss — diese Verständigung eine Vorstufe des
Verkehrs — ausgestellte Wachen bei Gemsen, Affen, Kranichen
— Unterhaltungen zwischen Insekten — der Krokodilwächter
— Krebs und Muschel — es fragt sich, inwieweit die Signale
der Tiere bewusst erfolgen — die Zeichen, welche sich die
Menschen untereinander geben — der Pfiff des Odysseus und
die Pfeifsprache auf Gomera — die Trommelsprache in Kame-
run — das Klatschen in der Diamantenwäscherei — das Zei-
chen wird konventionell und verschieden gestaltet, um seine
Ausdrucksfähigkeit zu steigern — Kanonenschüsse, Glocken-
geläute, das Tamtam oder Gonggong — die Flaggensprache —
wie die Wenden zur Gemeindeversammlung eingeladen werden,
wie der oberösterreichische Bauer Gevatter bitten geht — der
Ceremonienmeister, der Droschkenkutscher, der Schutzmann, wie
sie sich bemerkbar machen — die Klingeljungen der Bolleschen
— XVIII —
Seite
Milchwagen, die seltsamen Weckapparate der Hausierer — diese
Reveille nur eine Vorstufe der Sprache — wir können damit
nur den schlafenden Verstand aufwecken.
Zweites Kapitel.
Offizielle Wiederholung natOriicher Geberden.
L Die Beredsamkeit des Marmors 227
Die Marmorstatue des Philosophen Condillac — Statuen, Typen
der Kälte und Empfindungslosigkeit — sich in eine Statue ver-
wandeln heisst zur Leiche werden — die Elfenbeinstatue Pyg-
malions macht eine Ausnahme hiervon — die griechische Bild-
hauerkunst hat eine Entwickelung durchgemacht, die an das
allmähliche Auftauen und Erwarmen der schonen Galatea er-
innert — versteinerte Geberden: der Zeus des Phidias, der trun-
kene Satyr, Harpokrates, Narciss — Vergleich zwischen Statuen
und den Denkmälern Verstorbener — die ersteren beleben sich
allmählich mit dem Fortschreiten der Kunst und fangen an zu
reden — der Wunderglaube des Volkes verleiht den Statuen
häufig eine phänomenale Beweglichkeit und schreibt ihnen die
Geberden lebender Wesen zu — die klingenden Statuen auf dem
Kapitol, das wiehernde Pferd des heiligen Georg in Konstan-
tinopel — Don Juan und der Steinerne Gast — aber die Statuen
leben und sprechen schon als solche — wir selbst gleichen
Marmorstatuen, die mit Geberden sprechen — Unterschied zwi-
schen unserer Geberdensprache und der Beredsamkeit des Mar-
mors — die gesprächigen Statuen gleichen Modellen, an denen
wir uns die Sprache ohne Worte deutlich machen, wie sich das
Volk die Weisheit gelehrter Männer an bronzenen Köpfen
deutlich macht — jedermann stellt die beste Bildsäule von sich
dar — die neunte Stutue in dem Märchen aus Tausendund-
eine Nacht.
II. Plastische Zeichen der Gesinnungen 241
Die systematische Darstellung — Zeichen der Liebe : der Kuss,
die Umarmung und der Händedruck — letzterer aus dem Hand-
schlag hervorgegangen — Hand in Hand — im Mittelalter reichte
der Ritter der Dame nicht den Arm, sondern die Hand — der
Nasenkuss der Fidschiinsulaner — Zeichen der Verehrung —
sie laufen auf eine Selbsterniedrigung hinaus — Grade der letz-
teren: die Niederwerfung, das Niederknien, die Vemeigung,
das Hutabnehmen, das Ausziehen der Schuhe, das Ausweichen
und Platzmachen — wir verfolgen diese Geberden durch Alter-
tum, Mittelalter und Neuzeit — Beispiele aus der Bibel, histo-
rische Belege, Beobachtungen, die auf Reisen gesammelt sind
— Stellungen beim Gebet — die Adoratio und die ÜQoqxvvrjaiq
— XIX —
Seite
— Abraham und die drei Engel — Herzog Rollo und Karl
der Einfaltige — der Selam der Türken — Zeichen der Dank-
barkeit: sie fallen vielfach mit den Geberden der Liebe und
Verehrung zusammen — Zeichen des Beifalls: das Klatschen
— die Nachsicht: durch die Finger sehen — Zeichen des Miss-
fallens: sie sehen den Zeichen des Beifalls oft sehr ähnlich —
der Zorn: die Ohrfeige — der Verweis: die Nase — Zeichen
des Spottes: der Storch, das Eselbohren, das Herausstrecken der
Zunge , Hörner machen , Rübchen schaben , eine lange Nase
machen, ein Schnippchen schlagen — Zeichen der Verachtung:
das Ausspeien , das Entblössen des Gesässes , das Bieten der
Feige, das Ausstrecken des Mittelfingers — die Feige ein Bild
der Gebärmutter, die Geberde ein Bild des Coitus.
Drittes Kapitel.
Die Beibringung von Thatsachen.
I. Rhetorische Kunststückchen 277
Die lakonische Kürze, deren sich die Engländer in der Sprache
befleissen — sie sprechen oft gar nicht, sondern argumentieren
mit Thatsachen, zum Beispiel die Temperanzler — Facta loquun-
tur — faktische Beweise, die der Redner beibringt — er lässt
die Dinge reden, wie Cid mit seinem Degen redet — Edmund
Burke schleudert einen Dolch ins Parlament — dieser praktische
Tropus ist verfehlt — Burke hätte sich die Alten zum Muster
nehmen sollen — Cato wirft frische Feigen in den Senat — der
Sack ist leer — Lebende und Tote werden zu Zeugen angerufen:
Hyperides und Phryne, Antonius und Cäsar — der Levit, der
Stücke seiner Frau an die zwölf Stämme Israels versendet —
das sind praktische Tropen und die gewaltigsten Redefiguren
unter allen.
n. Populäre Argumente 283
Wie die Bettler reden — wie der Kaiser Augustus die Hand
aufhält — wie Not und Unglück für sich selber sprechen — Graf
Eberhard der Rauschebart schneidet das Tischtuch entzwei —
der Mönch bittet um Verzeihung mit einem Stricke um den Hals
— der Besiegte übergibt dem Sieger seinen Degen — das Ab-
schneiden des Haares — Diogenes beweist dem Philosophen
Zeno die Bewegung, indem er geht — der alte Graf geht dem
neuen Fürsten, Frau von Pfaffenrath geht der Frau von Glei-
chen vor.
m. Offizielle Akte 287
Wie Herzog Anton Ulrich von seinem Lehen Besitz ergreift —
moderne Formen der Besitzergreifung — der Bräutigam tritt der
Braut auf den Fuss, Beispiel im Meier Helmbrecht — warum
— XX —
Seite
der Verlobungs- und der Trauring an den Goldfinger der linken
Hand gesteckt wird — Absprechen des Besitzes — wie der alte
Mieter herausgetrieben wird — Lauzun zerbricht sein Schwert
vor den Augen des Monarchen — St. Dominicus zerreisst eine
Urkunde vor den Augen des Bischofs, Capponi eine vor dem
französischen König — eine Drohung ausführen ist besser als
drohen, ein Versprechen erfüllen ist besser, als versprechen —
das Ei des Kolumbus — die faktischen Beweise sind zweck-
mässig gewählte Experimente — Schluss.
Viertes Kapitel.
Die Wahl von Bildern. Blumensprache — Briefmarken-
sprache.
I. Die Bildersprache des Volkes 293
Philomela stickt Bilder, da sie nicht mehr sprechen kann —
wie sie, geht die Sprache von schlichten Worten zu poetischen
Bildern über — in Bildern zu reden scheint eine Sache der
Dichter und der Redner zu sein — aber Männer jeden Schlages
wählen gern Bilder, um ihre Gedanken kurz und treffend aus-
zudrücken — das Volk selbst ist an dichterischen Anschauungen
reich, das Volksgemüt die grosse Quelle der poetischen Meta-
phern — die Bilder wechseln von Land zu Land und von Na-
tion zu Nation — die Sprache eine phantasievolle Dichterin —
das Volk wählt gelegentlich noch greifbarere Bilder — es wird
etwas gezeigt, geschickt, gethan, was ins Auge fällt — sind die
Dinge in natura nicht zur Hand, so nimmt man »Symbole
der Dinge — Beispiele werden aufgesucht und Fabeln in Szene
gesetzt — die Wirkung einer solchen Demonstration eine ausser-
ordentliche — wie ein Pastor zwei bissige Hunde eine philoso-
phische Disputation vornehmen lässt — zwei prozessierende
Bauern, die eine fette Kuh auseinanderreissen, während sie der
Advokat melkt — wie Sancho Panza als Gouverneur eine Frau,
die über Notzucht klagt, ad absurdum führt.
II. Die Bilder werden gewählt, um die Wahrheit ein-
dringlich zu machen 300
Das eiserne Schloss und die Leimrute beim Eidschwur Don
Alfonsos des Tapferen — symbolische Gebräuche und Hand-
lungen — Napoleon zertrümmert das Papsttum — er wird von
Pius VII. ein Komödiant genannt — Gelimer, der letzte König
der Vandalen, bittet in seiner höchsten Not um ein Brot, einen
Schwamm und eine Harfe — die Botschaft der Scythen an Da-
rius: ein Vogel, eine Maus, ein Frosch und fünf Pfeile — der
heilige Bernhard steckt seinem Vater das Haus an, um ihm die
Hölle anschaulich zu machen — Franklin schickt dem eng-
— XXI —
Seite
lischen Minister Klapperschlangen — Aristodicns jagt die Sper-
linge aus dem Tempel des Apollo — die Bienen in der Bilder-
sprache — wie ein Pädagog die abstrakten und die konkreten
Begriffe bezeichnet — der rote und der schwarze Stiefel Ros-
kowskis — die Verhaltungsmassregeln, die Justinus Kemer seinen
Kranken mit verschiedenfarbigen Fahnen gibt — das Bild liegt
auf der Strasse — die Aufnahme des Prinzen Aureng-Zeyb in
die Schweigende Akademie.
III. Die Bilder werden gewählt, um die Wahrheit nicht
gerade herauszusagen 307
Die Bildersprache ist ebenso undeutlich wie deutlich — es gibt
Dinge, die man nicht gern mit Worten sagt — die Engländerin
und die Türkin, beide geben den Grund, warum sie sich von
ihrem Manne scheiden lassen wollen, bildlich an — der Schuh
ein Symbol der weiblichen Scham — die schamhaften Frauen
sprechen überhaupt von geschlechtlichen Dingen nicht gern
direkt — die Männer bedienen sich der Bilder aus Furcht oder
aus Vorsicht — Thrasybulus, der Ähren, Tarquinius Superbus,
der Mohnköpfe abhaut — Commodus tritt mit einem Straussen-
kopfe in der Hand xmter die Senatoren — die Bildersprache
besonders für Schimpf und Spott geeignet — die Belagerung
von Kufstein — das Hundetragen — anzügliche Zusendungen:
Hunde, Federbälle, Plätteisen, Kastanien, Hirsekörner, Wasser-
melonen — zu den anzüglichen und bedeutsamen Sendungen
gehören auch die Blumen und die frankierten Briefe — der
Selam der Türken — die goldne Rose, die Lutherrose, die ge-
heime Gesellschaft der Rosenkreuzer — die Art, die Freimarken
aufzukleben — das Häckselstreuen und der Sfrohkranz, Andeu-
tungen, dass das Mädchen ein Kind bekommen habe — der
Messerschmied und der Advokat, Typen für die Bildersprache
des Volkes.
Anhang. Die Blumensprache. Die Briefmarkensprache. 315
Fünftes Kapitel.
Significative Waffen und Kleidungsstücke.
I. Fächer- und Handschuhsprache. Kleine Mitteilungen
auf dem Wege der Toilette 319
Ergänzung der Geberdensprache durch Toilettengegenstände —
die Spielhahnfedern am Hute der jungen Burschen in Tirol und
Oberbayern — die Stocksprache, die Handschuhsprache — was
eine schöne Frau mit ihren Handschuhen und ihrem Fächer
alles sagt — die Akademie, auf welcher junge Damen im Ge-
brauch des Fächers unterrichtet werden — Spanien, das klas-
sische Land der Fächersprache — die Kleidungsstücke sind an
— xxn —
Seite
sich significativ — Frauen ziehen sich anders an als Männer,
verheiratete Frauen anders als Jungfrauen — erstere haben Hau-
ben, die letzteren gehen im Haar — die Schwestern der Brüder-
gemeinde zeigen ihren Rang durch die Farbe der Haubenbänder
an, ebenso die Mädchen auf den florentiner Fastenmarkten —
in der Bretagne verraten sie ihre Mitgift durch die Streifen
ihrer Röcke — das Signal der Frau von Soubise: ein Paar
smaragdene Ohrgehänge.
IL Stehende Abzeichen. Freiwillige — Aufgezwungene. 324
Die vorübergehenden Mitteilungen auf dem Wege der Toilette
gleichen schwarzen und weissen Segeln, die aufgezogen werden
— uns kommt es auf stehende Signale und dauernde Abzeichen
an — auf Abzeichen, wie der Pantoffel, den der Ritter Poly-
phem auf seinen Helm steckt — auch die Frauen tragen poli-
tische Abzeichen: die Damenhüte in England, die Spanierinnen
bei den Stiergefechten — in erster Linie sind es die Männer,
die Farbe bekennen sollen — Farben sind an sich oft Abzeichen
politischer Parteien — andereraale haften sie an bestimmten
Blumen, welche die Abzeichen bilden — das Geranium, das
Veilchen, die weisse und die rote Rose — andere Abzeichen:
der Bundschuh, der Bettelsack — Erkennungszeichen, die ge-
wissen verfemten Menschenklassen, wie Sträflingen, vom Staate
aufgezwungen werden — Tracht der Juden und der prostituierten
Frauenzimmer — die Brandmarkung — der Strick um den Hals.
HL Uniformen, Orden und Gradabzeichen 330
Abzeichen dienen auch dazu, die Lebensstellung, den Rang und
das Dienstverhältnis zu charakterisieren — sie greifen nicht
selten auf die gesamte Tracht über — Uniformen, durch die der
Staat einzelne Stände und Volksklassen auseinanderhält — ihre
Supplemente, Orden und Gradabzeichen — der Ornat — die
Uniformierung arbeitet der nivellierenden Tendenz entgegen —
der doppelte Naturzustand des Menschen — Proben der Art,
wie die Kleidung in verschiedenen Kreisen geregelt wird — in
Konstantinopel: Kopfbedeckungen, Beinkleider, Pantoffel sind
voi^eschrieben — die Jäger und Kutscher der Gesandten in
Petersburg — die Eisenbahnbeamten — das Militär: nationale
Farben und Montierungsstücke , Unterscheidungsmerkmale der
einzelnen Truppenteile und Truppengattungen, Rangabzeichen —
der Tigerpelz Zietens — nirgends ist das Uniformwesen so sorg-
fältig ausgebildet und so systematisch durchgeführt als wie beim
Militär — Feldzeichen und Feldbinden im Dreissigjährigen
Kriege — die Montierungsstücke wandern von Land zu Land
und kommen von Nation zu Nation in Aufnahme, zum Beispiel
— xxni —
Seite
der Tschako, der Dolman, der Attila — Husaren, Dragoner,
Ulanen, von den Franzosen alle als Ulans bezeichnet
rV. Wappen und Aushängeschilder 337
Ein Brief des Herrn von Hopfgarten — sein Wappen ist überall
angebracht, zuerst auf seinem Schilde — die Malereien auf den
Schilden der alten Deutschen — Wappen sind Waffen — die
Wappen aus Schildbildern und Helmkleinoden hervorgegangen
— sie sind ein sprechendes Accidens der Rüstung — nicht alle
redend, aber alle sprechend — sie erzählen von dem Geschlecht
und, da sie im Laufe der Zeit darauf übergehen, von dem Be-
sitz, der Herrschaft, dem Amt des Trägers — der deutsche
Adler — der zweiköpfige Adler — die Wappenschau der He-
rolde bei den Turnieren : Blason, Heraldik — die Wappen wer-
den von Schild und Helm auf alles übertragen, was zur Familie
gehört — Gesellschaftswappen, Klosterwappen — Herrschafts-
und Länderwappen sind dem Geschlechtswappen des Herrn ent-
nommen — die Fahnen der Innungen — der gekrönte Brezel —
Aushängeschilder der Handwerker — eine mittelalterliche Bilder-
sprache und Bilderschrift — Auslese von Wappen und Aus-
hängeschildern in tabellarischer Form.
Drittes Buch.
Mit Absicht der Mitteilung und mit Gedankenaustausch.
Erstes KapiteL
Die entwickelte Spraclie. Pantomimen und Hieroglyplien des Voiles . 357
Was ist besser, ein Feuerzeug oder ein brennendes Licht? —
bisher hat man uns nur das Feuerzeug gereicht — Entwickelung
des Gedankens aus dem Dinge — Wirklichkeit und Wahrheit —
was geschieht eigentlich in uns, wenn wir denken? — der den-
kende Mensch gleicht dem Hirten im Evangelium, der das ver-
lorene Schaf in seinen Stall zurückbringt — gleich ihm bringt er
das Individuum in der Art vermöge des Urteils unter — in der
Sprache wird das Individuum zum Subjekt, die Art zum Prädi-
kat, das Urteil zum Satz — der Satz wird wiederum in vierter
Reihe zur Verknüpfung eines Substantivs mit einem Verbum —
alle Sprache dreht sich um den einfachen Satz — die Reali-
sierung des Satzes in der Lautsprache und in der Sprache ohne
Worte — die Darstellungsmittel der letzteren sind die Geberde
und die Schrift — der Klub des Stillschweigens in London,
seine seltsamen Gebräuche und Satzungen — er übersieht nur,
dass sein Stillschweigen kein absolutes und dass die Geberden-
— XXIV —
Seite
spräche auch eine Sprache ist — die Kunst der Pantomime —
der pontische König erbittet von Nero einen Schauspieler, der ihm
helfen soll, sich mit Barbaren zu verständigen — die Chironoviia
der Alten: Beispiel an einer antiken Vase — die Finger kleine
alpartige Geister — was man mit ihnen alles zu wege bringt
— die Geberdensprache und der plastische Sinn der Neapoli-
taner — jeder Neapolitaner vom Lazzarone bis zum König
spricht mit seinen Händen — die Rede des Re Bomba — die
Finger als Geschwister, als Sekretäre — die Bilderschrift- des
Volkes in Wirtshäusern und Schaubuden — Theaterzettel und
andere Anzeigen in Bildern — Hier wird nicht gepumpt —
Schimpf und Spott greifen zur Bilderschrift — die Geige, ein
volksmässiges Sinnbild für das Weib — wie sie gefallenen Mäd-
chen angehängt und zu einem allgemeinen Ausdrucke des Spottes
erhoben wurde — in Tirol wird sie an die Wand gemalt —
Korrespondenz per Postkarten zwischen einem Westfalen und
seinem Stammtisch in Leipzig — die Bilderschrift dient gele-
gentlich dazu, die Gedanken des Schreibers zu verhüllen —
Gaunerzinken und Spitzbubenzinken — Zeichen der Fahrenden
Leute: der Pfeil — zum Teil sind diese Zeichen uralte deutsche
Personenbezeichnungen — Pfeile, Herzen, Fackeln auf Liebes-
briefen des XVI. Jahrhunderts — erotische Wandmalereien —
die griechische Drei und die polnische Fünf.
Zweites Kapitel.
Die vernünftige Geberdensprache. Wilde — Taubstumme — Mönche . 377
Der Mensch ein Baldanders und ein Proteus — Kunststücke
des Arabers Abdallah an Bord eines Nilschiffes — an Proteussen
fehlt es nicht — wir haben alle etwas von einem Proteus und
ahmen gleich ihm sichtbare Gegenstände mit unserm ganzen Körper
nach — anderemale bilden wir die Gegenstände nur plastisch
mit Händen und Füssen ab — noch anderemale begnügen wir
uns damit, sie in der Luft zu zeichnen oder nur darauf hinzu-
weisen — Gespräch zwischen der Bella Maddalena und einem
Dienstmädchen im fünften Stocke — Disputation eines Pfarrers
und eines Schuhmachers in der Fastenzeit auf der Kanzel — wäh-
rend wir nur unter besonderen Umständen und aus Not zur Ge-
berdensprache greifen, ist sie bei gewissen Menschenklassen, die
entweder immer in der Not sind oder sich die Not grundsätzlich
selber machen, das stehende und regelmässige Mittel der Verstän-
digung — dergleichen Menschenklassen sind: einzelne wilde Völ-
ker, die Taubstummen und die Cistercienser Mönche — natür-
liehe Übereinstimmung dieser drei Klassen in ihren Geberden —
— XXV -
Seite
merkwürdiges Gespräch zwischen einem Donimus Reverendus
von Clairvaux, einem Indianer vom Lorenzbusen und einem Zög-
ling des berliner Taubstummeninstituts — wie sie Feuer und
Wassety Regen und Hagely Gott und Seele, sehen und geheimhalten
zum Ausdruck bringen — Idiotismen der einzelnen Klassen —
das Zeichen für die Stadt Charlottenburg in dem berliner Taub-
stummeninstitut — wie die Trappisten leben und sterben — wie
die Indianer den Hund, die Taubstummen das Brot, die Milch und
das Kind in der Geberdensprache nennen — das Brot in der
Lautsprache das Gebraute oder das Gebrochene, in der Geberden-
sprache das Geschnittene — Abbildungen gleicher Gegenstände
müssen sich ähnlich sehen — wie der liebe Gott nach Ecker-
mann Goethe die Schöpfung hätte überlassen können, so kann
auch der Lehrer der Geberdensprache seine Schüler nur ma-
chen lassen.
Drittes Kapitel.
Wie so ich dieses schreibe.
I. Die alte Bilderschrift 389
Die Nachbildung der Dinge auf Flächen mittels Linien und
Farben noch ergiebiger als die plastische Nachbildung — unsere
eigene Schrift beruht darauf — wie ein Taubstummer rotes Zelt
schreibt — die Figuren eines Zeltes und einer Zeltthüre gehen
durch die Jahrtausende — was heisst schreiben? — schreiben
heisst kleine Bilder zeichnen, denn Hieroglyphen und Sino-
gramme, Keile und Runen waren von Haus aus Bilder sicht-
barer Gegenstände — Bilder wie die Sudeleien der Schuljungen,
die Kritzeleien der Hinterwäldler in Amerika, die Schmierereien
unserer Narren — es kam nicht darauf an, ob diese Bilder gut
waren — die roheste Nachbildung genügte, wie sie bei den Cro-
quis der Einjährig-Freiwilligen und beim Situationszeichnen ge-
nügt — auch unsere Kalenderzeichen sind nicht viel besser, im
Gegenteil sie stimmen mit den Hieroglyphen und Sinogrammen
auf das genaueste überein — Zeichen für Sonne und Mond, Pla-
netenzeichen, Apothekerzeichen — wie Feuer und Wasser, ein
Tier und ein Baum, unten und oben ausgedrückt wird — der
Buchstabe H ein Gitter, O ein Auge — die ägyptischen Hiero-
glyphen und die chinesischen Sinogramme sind nichts, was nicht
täglich auch bei uns vorkäme — wir alle malen Quadrate,
Kreuze, Sterne, Pfeile, Hände, Donnerkeile, Spiesse und haben
für Begriffe, die häufig vorkommen, konventionelle Bilder — wie
in Norwegen Kristiania geschrieben wird — Fruchtbarkeit dieser
einfachen Bilder: sie drücken nicht bloss die Gegenstände selbst
sondern auch alles das aus, was dieselben begriflflich einschliessen
— XXVI —
Seite
oder symbolisch darstellen — Götter und Naturkräfte» profane
Dinge — sie vertreten leider auch alle Dinge, deren Namen
dem Namen des Originals gleichlauten, das heisst alle Ho-
monymen.
II. Übergang der Bilderschrift zur Buchstabenschrift . 398
Die phonetische Krankheit — Wort und Sache wird nicht aus-
einandergehalten und infolgedessen das Bild nicht bloss für das
Ding, sondern auch für das Wort genommen — diese Methode
ist uns nicht fremd, auf ihr beruhen die sogenannten Rehussf —
historische Beispiele aus Frankreich, Spanien und Italien —
Charaden, wie sie in Deutschland aufgeführt zu werden pflegen
— die Ägypter haben auch Rebusse gemacht und Bilderrätsel
erfunden — wie das Bild des Löwen für den Begriff ll^asser
verwendet wird und wie darauf die Sitte zurückzuführen ist, bei
Öffentlichen Brunnen das Wasser aus Löwenrachen quellen zu
lassen •- die Hinxufügung der Determinativa — derselbe Ent-
wickelungsgang in der chinesischen Bilderschrift und in der
Keilschrift, aber in der ägyptischen Schrift ist er am deutlich-
sten — nachdem das Bild auf das Wort übertragen worden ist,
schreitet das Volk daiu, das Bild auf den Anlaut des Wortes
tu übertragen — so gelangte es zu einem System der Laute
überhaupt - für das Ding, das bisher mit einem einzigen Bilde
bezeichnet waril, brauchte man nun so viele Bilder als sein
Name Laute enthielt — die ideographischen Zeichen verschwan-
den vlamit nicht ganz, aber das frühere System war überwunden.
dAS Volk hatte Buchstaben gewonnen — Vergleich mit den
Taubstummen, welche die Buchstaben des Alphabets erlernen.
IIL Das griechisch-phönirische Alphabet 410
Die Schritt tritt in den Dienst der Lautsprache — die Phöni-
iier bekommen die 3^j\*plischen Buchstaben in die Hände und
geben ihnen neue» aber gleich anlauten vi e Xamea — tias Beth
ntSv? vUsi<v,r.el in vien Schulen Kai tha^vR »ai Zeit der Vandalen-
hetrschat^ - - aus viem phÖTiirischeu Alphabet gehen die ver-
breiietsten >ch:'st:arten viei Ftv'.e, viie arabis^cfce und die latei-
t:i$sc>ie he:>\M — Ka^i^v.^js bnagt sex^hreha Buchstaben nach
OriecV.e'nU'^i — .Ue Fi^aren wer.?ev, u^v-irfkehit cni die Zeichen
ß:T Hiac>lv^'*e i:5 J^eicVie?: tüi Vokale \TfT"tt-aT:.?eh — durch die
GT-Jory.;?*:?; Si:^/,^f r.* \:r.*« l'Tn:^:i:jiben> wi:\^ ia> T»b5iaÄi>>che Alpha-
Sä i^-Ä R>ve:T: kS<'tv..^.::c*: - - \\ >»--.: wi<-.ieT Zeichen der
A>n-^i:'ii:.^K - G^^^>.':c>.:f .->: 1^^* ><:jiSeTi F. V, £ — Verhalt-
T.T< £*•-: Vi.-fT- ^c>.>:j;>r^ O ::r.* 1^ - AÄ^NTTScV.e .;<< C im
jÄtt R.xn: — 0>:^^\^ ir.; i^i' K't.yff :'S>-er' - F;r*r.T>eT^:2g an die
— XXYII —
Seite
IV. Die lateinische Schrift in Deutschland 417
Durch Ulfilas und Cyrillus kommt die griechische Schrift zu den
Germanen und zu den Slawen — die Cyrillica bildet die Grundlage
der russischen Schrift — die ältesten Schriftzeichen der Germanen
waren die Runen — sie sind aus dem lateinischen Alphabet her-
vorgegangen — das Futhark — jede Rune hatte einen bestimmten
Namen, der bald aus der Mythologie, bald aus dem Leben genom-
men war — die Runen wurden auf Buchstaben eingeritzt, welche
man zur Losung und Weissagung benutzte — sie galten als
Zauberzeichen — allmählich fingen die Runen an, nur den An-
laut ihres Namens zu vertreten und wurden schliesslich zu Laut-
zeichen überhaupt — seit dem V. Jahrhundert wird das Runen-
alphabet, als ein deutsches und heidnisches, durch das lateinische
Alphabet verdrängt — die Mönche, die lange im alleinigen Besitze
der Schreibkunst waren, machten eine ganz neue Schriftart dar-
aus, die deutsche oder gotische — dieselbe ist jedoch nichts
Deutsches — von den Klöstern ist auch der Missbrauch ausge-
gangen, die Hauptwörter gross zu schreiben — die phonetische
und /die historische Schreibweise — man soll nicht dieselben
Laute durch verschiedene Zeichen, noch verschiedene Laute
durch dieselben Zeichen wiedergeben — was dasselbe ist: jeder
Laut soll nur einunddasselbe Zeichen und jedes Zeichen nur einen-
unddeiiselben Laut haben — wie viel ein deutsches Kind Unter-
richtsstunden braucht, um fest in der Orthographie zu werden
— Vereinfachung der Zeichen — mit allen ihren Mängeln ist
doch auch unsere Schrift ein Erbteil uralter Weisheit — jedes
geschriebene Wort ein optisches Vexierbild — dieses Buch, wel-
ches die Schrift als einen Ableger der Sprache ohne Worte zu
erweisen sucht, wäre selbst ohne die Schrift nicht denkbar.
V. Tabelle 429
Viertes Kapitel.
Unsere angeborenen Ziffern 436
Die Ziffern ein Rest der alten Bilderschrift — ihr Ursprung
dunkel — Erinnerung an einen Professor der Mathematik, der
die Revolution der Zahlen predigte — er behauptete, jede Ziffer
müsse so viel Striche haben als Einheiten, danach restaurierte
er die ZiflFern — wie er die Null geschrieben wissen wollte —
alle Ziffern sind gewissermassen Nullen — der arabische Ur-
sprung unserer ZiflFern — Unterschied zwischen einfachen und
zusammengesetzten Ziffern — nur um die ersteren handelt es
sich; auf welchem Wege gewannen die Völker einfache Ziflfern?
— erstens auf dem ebenangegebenen: soviel Striche zu machen
als Einheiten vorhanden sind — zweitens dadurch, dass sie die
— XXVIII —
Seite
Anfangsbuchstaben der Zahlwörter zu Ziffern erhoben — drit-
tens, indem sie die Buchstaben des Alphabets zu Zahlzeichen
benutzten und dieselben die ihrer Stelle entsprechende Zahl ver-
treten Hessen — an diese Methode, erinnert der Ausdruck Küm-
tnelbläitcfien , eigentlich Gtmelblättchen — viertens, indem sie die
Ziffern durch Dinge ausdrückten, welche erfahrungsgemäss eine
bestimmte Anzahl von Einheiten enthalten — die römische Ziffer
V hat die Form einer Hand, X ist eine doppelte Hand — es
gibt Dinge, welche zufallig die Gestalt von Ziffern haben, sie
gehen uns nichts an, ebensowenig die Ziffern, welche mit den
Fingern nachgemacht werden — dagegen besteht bei der Hand
und der Fünf ein innerer Zasammenhang, denn die Hand ist eine
lebendige Fünf, die Finger sind lebendige Einheiten — die ita-
lienische Einheit in Neapel — die Dreieinigkeit mit den Fin-
gern dargestellt — Hand und Fünf sind in der Sprache des
Volkes geradezu gleichbedeutend, wie bei den modernen Römern
die Beine der Frau die Zahl Zwei bedeuten — wie, wenn alle
Ziffern aus solchen natürlichen Zahlen hervorgegangen wären?
8ach-Register 449
Erstes Buch.
Ohne Absicht der Mitteilung und ohne Gedanicenaustausch.
Kleinpaul, Sprache ohne Worte.
Erstes Kapitel.
Die Sprache im allgemeinsten Sinne.
I. Die Weltsprache. Einleitung.
Die Idee einer Universalsprache — Versuche diese Idee zu verwirklichen —
inwieweit die einzelnen Sprachen dem Ideal einer Weltsprache nahegekommen
sind — das Volapük, seine Absurdität und Hoffnungslosigkeit — die Kraft
eines Individuums wird mit der Kraft eines Volkes verwechselt — eine Sprache
kann überhaupt nicht erfunden werden — das Volapük selbst ein Beispiel für
diese Unmöglichkeit — es ist ein Jargon, wie die Lingua Franca oder wie das
Pigeon English — wir sehen uns nach einer andern Art Weltsprache um —
nach einer Sprache, die diesen Namen verdient — wie uns dieselbe aufgegangen
ist: persönliche Erinnerimgen — die sprechende Nachtigall aus Tausendundeine
Nacht — die Sprache, welche sie kann, ist nicht die einzige, es gibt auch eine
Sprache ohne Worte — die ganze Welt ist Sprache — die Himmel erzählen
die Ehre Gottes, die Ruinen predigen laut, Falstaff hat eine ganze Schule von
Zungen in seinem Bauch — die Welt, wie sie uns erscheint, redet von einer
höheren Welt, die hinter der Welterscheinung steht — dies die erste und älteste,
von den Menschen selber vor jeder andern gesprochene Sprache.
Seitdem der Philosoph Leibniz die Idee einer Universal-
vSprache in Europa aufgebracht hat, sind die Projekte nicht
wieder alle geworden, eine internationale Weltsprache zu
begründen, wie eine Weltpost, eine Weltzeit und eine inter-
nationale Weltschrift in den Ziffern und im Morseschen
Telegraphenalphabet besteht. Deutsche, Engländer, Fran-
zosen, Russen; Gelehrte, Bischöfe, Taubstummenlehrer,
Diplomaten haben Vorschläge gemacht, wie dieses grosse
Desideratum der Völker, dieses notwendige Verständigungs-
1*
— 4 —
mittel am besten zu erreichen sei — da ist das Ntü Bino,
da ist die Pasüingua, da ist das Volapiik. Johann Martin
Schleyer, weiland Pfarrer in Lizzelstetten bei Konstanz,
also ein katholischer Geistlicher, hat aus reiner Liebe zur
vielgeplagten Menschheit das Evangelium eines neuen Idioms
verkündet imd macht dafür, namentlich in den Schichten
der Kaufleute, Propaganda; das Evangelium heisst Volapvk,
das heisst wörtlich Weltsprache {Vola, Genitiv von Vol, Welt; Pük,
Sprache). Weltsprache! Das ist leicht gesagt; denkt man
aber ein wenig darüber nach, so merkt man, welche unver-
schämte Arroganz in diesem Titel liegt. Der Hochehr-
würdige, der eine Weltsprache konstruiert, kommt mir gerade
so vor, wie ein Schulamtskandidat, der ein Programm ver-
fasst hat und behaupten wollte: Meine Schriften haben
Weltruf! — oder wie ein Materialwarenhändler, der sich
in Krähwinkel am Markte etabliert hat und an seinen Laden
schreibt: Dieses Haus ist ein Welthaus! — Man kennt in
Leipzig die KaflFeeschenken und die Gosenkneipen, die ihre
Inhaber in den Zeitungen bombastisch als Weltcafes und
als Wdtrestaurants ausschreien. So wohlfeilen Humbug
treiben Herr Pfarrer Schleyer und Konsorten. Ehe man
eine Weltsprache anzeigt, sollte man doch warten, bis man
eine hätte. Eine Weltsprache möchte es einmal gegeben
haben — vor dem Turmbau zu Babel, als noch alle
Welt einerlei Zunge und Sprache hatte; aus jener
Zeit stammt, wie verlautet, das Wort Sack, die Bezeich-
nung des Rucksackes, den die Menschen alle mit auf die
Reise nahmen, als sie der Herr von dannen in die Länder
zerstreuete; nebst noch einigen anderen, nicht minder treff-
lichen antibabylonischen Weltworten. Seitdem hat man von
einer Sprache, deren alle Nationen der Erde mächtig ge-
wesen wären, nichts wieder vernommen; selbst die relativ
verbreitetsten Sprachen des Erdkreises: das Chinesische,
das Englische imd das Hindi, die Sprache des indobriti-
schen Reichs, bleiben doch noch soweit hinter dem Begriff
einer Universalsprache zurück, dass sie mit einer solchen
— 5 —
kaum verglichen werden können. Wenn von einer oder
der anderen ein oder das andere Wort als Fremdwort in
die meisten andern Sprachen übergegangen und wie Sack
ein Weltwort geworden ist — wenn einzelne Worte wie
Palast und Magazin, Sklave und Kuli, Kaffee und Bier durch
die Welt gehn — so ist das schon viel. Davon, dass eine
ganze Sprache durch die Welt ginge, kann vorläufig keine
Rede sein; die Welt ist gross. Die menschliche Bevölke-
rung der gesamten Erde beträgt nach den neuesten Zu-
sammenstellungen 1434 Millionen. Nun, das Chinesische
wird etwa von einem Viertel dieser Summe, das heisst un-
gefähr von 350 Millionen, das Englische und das Hindi je
von 100 Millionen gesprochen; während auf das Deutsche
beiläufig 76, auf das Russische 62, das Spanische 55, das
Französische 45, das Italienische 35, das Portugiesische 21
und das Arabische 20 Millionen entfallen mögen. Einzelne
dieser Sprachen sind allerdings auch ausserhalb ihrer eigent-
lichen Gebiete als Umgangssprachen gäng und gäbe, wie
zum Beispiel das Französische in den Salons von Konstan-
tinopel oder Beirut so gut wie in denen der Republik Haiti
widerklingt, das Chinesische in Japan, Korea und Anam
vielfach gesprochen wird, das Arabische von Vorderasien
bis zur europäischen Türkei hinauf und von Nordafrika bis
in das Herz von Afrika hinabreicht. Teilen wir die Mensch-
heit nicht nach Nationen, sondern nach Klassen und Stän-
den ein, so ist und bleibt das Latein die Lieblingssprache
der europäischen Gelehrten, Französisch die der Diplomaten
und der Höfe, Englisch die der Seeleute und Ingenieure.
Man kann solche Sprachen mit Flüssen vergleichen, die über-
treten und die angrenzenden Wiesen überschwemmen. Hat
sich aber auch die bekannteste Umgangssprache jemals zu
dem emporgeschwungen, was man unter einer Weltsprache
verstehen müsste? — Höchstens in dem Sinne, in welchem
sich die höhere Gesellschaft als grosse Welt bezeichnet —
welch ein verschwindend kleiner Bruchteil ist sie doch da-
von! — Also mächtigen Völkern ist es mit ihrem tausend-
— 6 -
jährigen Einfluss nicht gelungen, ihrer Sprache nur auf der
halben Erde Geltung zu verschaffen, unendlich viel fehlt
daran; und ein Pfarrerchen aus Lizzelstetten bei Konstanz
hat auf einmal über Nacht ein Piik erdacht, wie ich sage,
in einer schlaflosen Nacht aus der Soutane geschüttelt, das
in der ganzen Vol gesprochen wird? Das nennt man Genie!
— Im Gegenteil, das nennt man masslose Reklame.
Der bescheidene Mann! Er hätte seine herrliche Er-
findung etwa die nene oder die einfache oder die natürliche
oder die gute oder meinetwegen wie das Sanskrit die voll-
kommene Sprache nennen können; er nennt sie nur das, was
er hofft, dass sie einst werden möchte: Sprache der ganzen
Welt. Sie ist es zwar noch nicht, sie wird zunächst nur
von Johann Martin Schleyer und einigen bornierten An-
hängern gesprochen; aber sie ist wie das Senfkorn; und je
eher man sie so betitelt, wird sie 's werden. Volapiik eignet
sich dazu, von allen Menschen der Erde erlernt, gesprochen
und verstanden zu werden; Volapük ist Volapük in spe, Ei, ei,
das wäre doch immer etwas, eine Sprache, die Hoffnung hat.
Leider ist es viel gewisser, dass noch vor Ablauf unseres
Jahrhunderts niemand mehr von Volapük spricht, als dass
jedermann es spricht: Herr Pfarrer Schleyer hofft wohl, seine
Sache selber ist völlig hoffnungslos. Weshalb? Weil eine
Sprache überhaupt nicht von einem einzelnen Menschen er-
funden werden kann — wenn Herr Schleyer, der angeblich
55 Sprachen beherrscht, beim Studium derselben noch nicht
einmal das gemerkt hat, so ist er wahrlich kein Philosoph.
Zwischen Volk und Individuum und zwischen der Kraft
eines Volkes und der Kraft eines Individuums ist ein spe-
zifischer Unterschied, weil durch das Zusammenleben von
Millionen Menschen und das Aufeinanderfolgen zahlloser
Generationen nicht etwa bloss ein vielfaches Individuum,
sondern ein ganz anderes Wesen höherer Ordnung und
Art entsteht, das seine eignen Naturgesetze und Lebens-
bedingungen hat und das eben Volk genannt wird. Es
gibt Dinge, die der Einzelne machen, durch die er sich in
— 7 --••
seinem Volke auszeichnen und dem Vaterlande nützlich
erweisen kann; es gibt aber auch Dinge, die der Einzelne
überhaupt nicht machen kann, weil eben ein Volk dazu
gehört. Kann ein Einzelner Krieg führen? Kann ein Ein-
zelner einen Staat entwickeln? Kann ein Einzelner eine
Kultur, eine Civilisation aufweisen? Und — — kann ein
Einzelner eine Sprache erfinden? — Der Ausdruck ist
überhaupt so albern, dass er allein die absolute Unfähig-
keit, in sprachlichen Dingen mitzureden, darthut. Eine
Sprache wird nicht erfunden wie eine Dampfmaschine, son-
dern sie ist unbewusst mit der Kultur und Religion ent-
standen; sie stellt gleichsam ein Netz von Brückchen dar,
welche die Menschen der Urzeit über das Wasser zu
einander schlugen, um untereinander verkehren und sich
gegenseitig ihre Gedanken mitteilen zu können. Zu allem
Sprechen sind mindestens zwei Menschen erforderlich, von
denen der eine spricht, der andere innerlich nachspricht, d. h.
hört, denn niemals spricht ein einziger Mensch allein; und zu
dieser Verständigung werden Ausdrücke gewählt, die nicht
etwa der Pfarrer Schleyer im Studierzimmer ausgeklügelt
hat, sondern die den Sprechenden selbst eine Art von In-
tuition im Augenblicke eingibt. So sprach zunächst ein
Paar, indem vielleicht nicht mehr als ein einziger Satz
herausgebracht ward — denn auch dies ist eine Thatsache,
ausschlaggebend bei der Beurteilung unseres Falles: dass
niemals in einzelnen Worten, sondern (wenigstens dem Sinne
nach) immer nur in Sätzen gesprochen wird, daher Wörter-
bücher und Grammatiken einer Sprache nicht vorausgehn,
sondern erst dann kommen, wenn die Sprache bereits voll-
endet ist. Zu dem ersten sprechenden Paare gesellten sich
andere, und indem die gleichsam an tausend Tischchen ge-
führte Unterhaltung wechselweise gehört und nachgeahmt
und die Fähigkeit dazu nicht bloss auf die Nachbarn über-
tragen, sondern auch von Geschlecht zu Geschlecht vererbt
und weitergegeben ward, entwickelte sich die Sprache, die
von einem Volke gesprochen wird, die nun wie eine At-
- 8 —
mosphäre über dem Lande lieg^ und von der jedes Indivi-
duum sein Teilchen abbekommt — das Sprachvermögen
abbekommt, denn die Sprache ruht zunächst nur potentiell
im menschlichen Gehirne und wird erst bei besonderer Ver-
anlassung aktuell. Keine von den tausend und aber tau-
send Sprachen der Erde ist anders entstanden, keine von
einem einzelnen Weisen erfunden und vorgeschlagen worden
— erfunden wird die Sprache von einem höheren Genius,
der so hoch über dem einzelnen Menschengeiste steht, wie
die Himmelslichter über einem irdischen Lämpchen stehn
— erfunden, nicht erfunden, sondern nach und nach, auf
Millionen Male und in übermenschlichen Zeiträumen er-
zeugt und ausgeboren — nicht geboren wie ein Kind, son-
dern nur wie eine Fähigkeit im Volksgeiste aufgespeichert
und bei Gelegenheit geübt.
Will man etwa hiergegen die schon von uns selbst
berührte Thatsache geltend machen, dass doch ein Morse
ein Alphabet erfunden und damit scheinbar eine Art Welt-
schrift gegeben hat, sintemal es im telegraphischen Welt-
verkehr gebraucht wird — so antworten wir: das Morse-
sche Alphabet wird ausschliesslich im Telegraphenbureau
gebraucht. Trotz der Einfachheit des nur aus Strichen und
Punkten und aus Kombinationen dieser zwei elementaren
Zeichen bestehenden Systems hat sich noch keine Nation
entschliessen können, ihr vielleicht höchst unpraktisches
Alphabet mit dem Mörseschen zu vertauschen. Beim Tele-
graphen ist es anders; hier kann man des Morseschen
Alphabets nicht entraten, weil die Technik des Morseschen
Schreibtelegraphen für vereinbarte Schrift daran gebunden
ist. Was die Arabischen Ziffern, die angeblich ein Inder
erfunden hat, oder die internationale SchiflFstelegraphie an-
belangt, so sind das viel zu spezielle Zeichen, um Schlüsse
daraus zu ziehn. Im grossen und ganzen ist es mit der
Schrift wie mit der Sprache — sie wird nicht erfunden und
der Pasigraphie fehlt es wie der Pasilalie an nichts Anderm
als am Fasi {itäai, d. i. für Alle),
— 9 —
Aber werden wir denn nicht praktisch widerlegt?
Eine Sprache soll nicht erfunden werden können, und das
Volapük ist doch da! Herr Schleyer hat doch eben das
Volapük erfunden! — Herr Schleyer hat nichts erfunden.
Was er gekonnt hat? Das Englische verhunzen und die
Grammatik anborgen. Ein ekelhaftes Gemisch verdorbenen
Sprachgutes ist sein Werk, schlechter als das roheste Ge-
plapper weltferner Barbsiren. Es gibt Unsprachen, welche
sich in Grenzländern, namentlich aber abseits vom Vater-
land im Verkehr unvereinbarer Volksstämme gebildet haben,
und die, ruchlos und heimatlos, Abfälle aus dem Wort-
schatze jedes einzelnen Stammes enthalten. Sie gleichen
dem verbrecherischen Gesindel, das sie in den Matrosen-
schenken und in den berüchtigten Strassen der Hafenstädte
spricht. Solche Jargons sind die Lingua Franca an den
Küsten des Mittelmeeres, welche in der Levante als Ver-
kehrsmittel zwischen der einheimischen Bevölkerung und
den Europäern dient, ein verdorbenes Italienisch, das mit
französischen, arabischen, neugriechischen, türkischen Wor-
ten und Wortformen untermischt ist — das Chinook, die
chinesisch-indianisch-englische Mischsprache der Pelzhändler
an der Küste von Oregon in Nordamerika — das soge-
nannte Figeon English, ein mit chinesischen Wörtern und
Redensarten versetztes Englisch, dessen Fich die Engländer
und Amerikaner in China im Verkehr mit den Eingebore-
nen bedienen — die sogenannten Creolendialekte im tropi-
schen Amerika, welche aus dem Spanischen, Französischen
und Englischen entstanden sind und die auch die Neger
sprechen — das Gitano, die Sprache der spanischen Zigeuner,
das Judendeutsch, das Botwelsch u. s. w. Diese hässlichen,
unreinen Gebilde des Abschaums der Menschheit, deren
Keime sich schon im Munde ungebildeter Touristen beob-
achten lassen und die gelegentlich als Diebs- und Gauner-
sprachen umgehn, hat sich Herr Pfarrer Schleyer zum
Muster genommen. Seinem Wortschatze liegt das Englische
zum Grunde, das er phonetisch schreibt und zurichtet wie
— 10 —
ein Wilder. Aus tcorld macht er, wie wnr g-esehen haben:
volf aus speeik: pük, aus father: fat, aus moon: rnnriy aus meet:
mit, aus great: glet. Dieses Stammkapital vermehrt er durch
Wörter, die den verschiedensten andern Sprachen entnom-
men sind und die er abermals flottweg beschneidet und
abändert, wenn sie ihm nicht klingen. Zum Beispiel klon,
Krone, und vitn, Wunde, sind deutsch, aus dem Lateinischen
entlehnt er das Wort für Haus (dorn) und in der Form von
pos die Präposition post, aus dem Spanischen die Präposition
seguriy das lateinische secundum, aus dem Russischen die
Fragepartikel U (jih) und die Konjunktion ibo, denn (h6o).
Mit den Romanen sagt er Ja (st) und Nein (no). Den Ar-
tikel wirft er über Bord, wie die slawischen Sprachen keinen
haben; beim Genus gefällt es ihm wieder, die englische,
offenbar höchst umständliche und unschöne Methode zu
befolgen und das Femininum durch Vorsetzung der Silbe
ji r= engl, she vor das Masculinum zu bilden; aus man.
Mann, macht er ji-man, die Frau, wie der Engländer she-
wolfy die Wölfin, gleichsam der Sie-wolf, she-hear, die Bärin,
sagt. Doch heisst bei Schleyer das weibliche sie gar nicht
ji, sondern of.
Die Grammatik ist nicht origineller. Der moderne
Mezzofanti hat den Plan der vorhandenen Sprachen adop-
tiert; er tischt die alten Redeteile, die alten Kasus und
Numeri, die alten Tempora und Modi und die Genera Verbi
auf; gerade hier tritt die Impotenz des Mannes, der eine
neue Sprache schaffen will, recht deutlich hervor. Seine
ganze Schöpferkraft reduziert sich auf eine willkürliche
Auswahl unter Formen, die vor ihm geschaffen worden
sind. Man thut dem Volapük eine unverdiente Ehre an,
wenn man es unter die Agglutinierenden Sprachen
rechnet, zu denen zum Beispiel das Türkische gehört. Es
kennt keine Flexion im engeren Sinne; die Deklination
wird durch angefügte Kasusendungen, die Konjugation
durch angefügte Personalendungen, sowie durch Präfixe
bewirkt, die Laute der Wurzel aber bleiben dabei unver-
— 11 —
ändert. So kann zum Beispiel von fat, Vater, ein Genitiv
(fat'O), ein Plural (fat-s) und ein Genitiv Pluralis (fat-a-s);
oder von löf, lieben, eine erste Person Singiilaris im Prä-
sens (löf'Oh), eine dito im Imperfektum {ä-löf-öh), im Futurum
(O'löf'Oh) und im Futurum Passivi (p-o-löf-oh) gebildet wer-
den u. s. w. Willkür, regel- und schrankenlose Willkür
chcirakterisiert dieses armselige Machwerk, das den Anspruch
erhebt, für den Instinkt der Menschheit massgebend zu sein;
wie ein Sperling nascht Herr Schleyer bald von diesem
Kirschbaum, bald von jenem; wie ein Kind wirft er die
Bausteine der menschlichen Sprachen durcheinander, dass
es eine Art hat. Das s, womit die Engländer den Plural
bilden, steht ihm an: men heisst „Mensch", me^is „die Men-
schen"; das französische on dit scheint ihm nicht ungeeignet,
er verwandelt es in pük-on; die dritte Person Singularis da-
gegen fabriziert er mit Hilfe von om, welches doch wohl
mit dem französischen komme, demnach mit dem französi-
schen on identisch ist. Oder geruhte er etwa das m, womit
die Indogermanen die erste Person Singnlciris bezeichneten,
das m des lateinischen sum und des griechischen öiöco^c zu
adoptieren, es aber aus Scherz vom ersten Platz auf den
dritten Platz zu setzen? Warum nicht, da er umgekehrt das
türkische ol vom dritten Platz auf den zweiten Platz gesetzt
und du daraus gemacht hat. Ja, Herr Schleyer hat sich
tüchtig umgesehn. Übrigens, um ihm nicht unrecht zu thun:
auch Steiners Pasilingua ist nur eine Mischsprache germa-
nisch-romanischer Sprachelemente auf der Basis des doch
so schon genug gemischten Englischen; auch seine Gram-
matik, wenn ich mich so ausdrücken darf, nur eine eklek-
tische. Ei, die .grossen, die genialen Erfinder! Die sich
über die alten bekannten Sprachen hermachen, sie verball-
hornen und wie eine Latwerge untereinanderrühren und
nun sagen: EvQrjytafiev! Wir haben eine Weltsprache er-
funden! — Ha! Es Hesse sich wohl denken, was wir schon
angedeutet haben: dass im Weltverkehr der Völker einzelne
Fremdwörter und gewisse Redensarten von selbst, wie reife
— 12 —
Äpfel von einem Baum abfielen und dass dieser natürlichen
Weltworte nach und nach so viel würden, um mit ihnen
durch die Welt zu kommen — dass sich für die Ufer des
Weltmeeres spontan das bildete, was die Lingua franca für
die Mittelmeerküsten oder das Neger-Englisch für West-
indien ist; der Anfang ist schon gemacht. Aber man muss
dem Genius der Menschheit nicht ins Handwerk pfuschen;
ihm die Wege vorschreiben, die er gehen soll — die Ge-
danken eingeben, die er in Zukunft haben soll — die Worte
diktieren, die er einst sprechen soll — ist eitel und lächer-
lich. Er wird schon selber sprechen und die rechten Worte
finden, wenn's Zeit ist; bis dahin wollen wir heber das echte
Englisch lernen und es nebenbei einmal mit Weltdeutsch
versuchen. Vale, vale, vale, Volapük! Das Jahrhundert
ist für die Weltsprache nicht reif
Tiefere Gedanken, höhere Pläne mochten des grossen
Leibniz Geist durchkreuzen, als er seine Historia et commen-
datio linguae characteristiccie universalis schrieb; obwohl es
nicht das erstemal gewesen wäre, dass ein bedeutender
Philosoph für die Sprache und ihr Leben nicht den richtigen
Sinn gehabt hätte, man denke an Plato. Aber wir wollen
Genio Leibnitii nicht misstrauen: auf den einsamen Höhen der
Weltweisheit thut man Blicke in eine andere Lingua univer-
salis, als wie sie von menschlichen Lippen jemals tönen
dürfte. Ich weiss eine Weltsprache — ich will keinem
Schleyer und keinem Steiner Konkurrenz machen, Gott
bewahre mich davor — etwas himmelweit Verschiedenes
meine ich. Die Weltsprache ist kein Ideal, das erst in
femer Zukunft verwirklicht werden könnte — sie wird be-
reits gesprochen und es vernimmt sie, wer Ohren hat zu
hören. Ein Wunder, eine göttliche Gnade ist das — wie
Siegfried plötzlich den Gesang der Waldvögel verstand,
da das Blut Fafhirs seine Lippen netzte — wie dem grie-
chischen Seher Melampus ein Schlangenpaar die Ohren
— 13 —
ausleckte, dass er die Sprache der Tiere deuten und weis-
sagen konnte — also muss ein Gott den Sterblichen das
Gehör aufschliessen, wenn sie vernehmen sollen, was die
Weltesche Yggdrasill rauscht und flüstert. Meint der gütige
Leser, dass ich phantasiere? — So will ich ihm ein Stück-
chen aus meinem eignen Leben erzählen; aber ich muss
weit ausholen.
Es sind ungefähr zehn Jahre her, dass ich in Rom an
dem sogenannten Malariafieber schwer erkrankte und nach
meiner Wiederherstellung von den Ärzten nach Florenz
geschickt ward, um die Luft zu wechseln. Ich kannte die
herrliche, toskanische Metropole längst; während ich aber
früher in der inneren Stadt gewohnt hatte, bezog ich dies-
mal eine Vorstadtvilla in dem schönen neuen Quartier vor
der Porta San Gallo nach Fiesole zu, auf der Via Antonio
Giacomini. Es war Frühling und wundervolles Wetter,
gerade der Monat, w^o das lachende Florenz am meisten
lacht: April — wirklich schien mich alles anzulachen, Natur,
Himmel und Jahreszeit; und ich gab mich mit Behagen der
weichen, träumerischen, heiter-ernsten Stimmung hin, wie
sie Rekonvalescenten eigen ist. Und siehe, gleich am ersten
Tage, während ich ohne bestimmte Beschäftigung am offe-
nen Fenster sass, geschah etwas, dieser Stimmung Nahrung
zu geben: es flog mir ein schöner, goldgelber Kanarien-
vogel zu; ich fing ihn und that den lieben gefiederten
Gast in einen Bauer, wo er sofort zu singen anfing. Ich
ging aus und hatte meine Betrachtung über den kleinen
Vorfall, der alle Tage vorkommt: unter den obwaltenden
Umständen erhielt er für mich eine unerwartete Bedeutung.
Ich bildete mir ein, mir sei ein Augurium zu teil ge-
worden, und ich hätte keinen Kanarienvogel, sondern den
wunderbaren Charadrius gesehn, dessen Anblick ein Trost
für Kranke ist. 0, Herr-in, sagt Ekkehard zur Herzogin
von Schwaben, da sie Sindolt mit einem Silberfasan ver-
glichen hat, wer ist so vermessen, unter dem was da kreucht und
fleucht ein Sinnbild für Euch zu suchen? — Da sie aber auf
— 14 —
einem neuen Verg-leich besteht, so fährt er fort: Dann weiss
ich nur Einen Vogel, wir haben ihn nicht und Jtiemand hat ihn : in
klaren Mittemächten fliegt er hoch zu unsem Häupten und streift
mit den Schtcingen den Himmel. Der Vogel heisst Caradrion;
wenn seine Fittiche sich zur Erde senken , soü ein siecher Mann
genesen: da kehret sich der Vogel zu dem Manne ^ und thut seinen
Schnabd über des Mannes Mund, nimmt des Mannes Vnkraft an
sich und fährt auf zur Sonne und läutert sich im ewigen Licht:
da ist der Mann gerettet. Ekkehard irrt, wir haben den Vogel
wohl und auch ItaKen hat ihn, hier heisst er Martinello:
es ist nämlich der bekannte Goldregenpfeifer, der alte XaQu-
ÖQiog, der unser Vaterland alljährlich zweimal gelegentlich
seiner Reise nach dem Süden besucht und allerdings bei
seinem Zuge sehr hoch und hauptsächlich während der
Xacht fliegt. Die hellen Goldflecken, die ihn charakteri-
sieren und die mit der Jahreszeit wechseln, brachten die
^lenschen auf die sinnige Idee, dass er, gleich der Gold-
ammer, die Gelbsucht an sich ziehe und gleichsam auf sich
nehme; diese Sage wird bereits in den Tiergeschichten des
Alian erwähnt- Beide Vögel fliehen daher angeblich viel-
mehr den Blick der Gallenkranken, anstatt dass sie ihn
suchen, denn sie müssen, während jene genesen, sterben.
Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich
unsere Schmerzen — diese Stelle wollte mir gar nicht aus
dem Sinn. Ich ging immer weiter. Wie dereinst Petrus
Forschegrund aus dem Kloster Heisterbach bei Bonn in
einen nahen Wald ging und über die Ewigkeit nachdachte;
wie er da plötzlich auf einem Baume einen Vogel singen
hörte, dessen Töne ihn in Staunen und Entzücken versetzten,
weil sie einer andern hohem Welt anzugehören schienen;
wie er stehen blieb und horchte imd sich und alles über
dem wundervollen Gesang vergass, worüber tausend Jahre
verflossen — — so schwärmten mir die Gedanken in der
einmal eingeschlagenen Richtung unwillkürlich abwärts,
und ich verlor mich in tiefen Träumen und in mystischen
Kombinationen.
- 15 —
Ein Kreuzschnabel kletterte an einer Pinie auf und
ab: die Pinie war das Kreuz, an dem der Erlöser hing,
und der Vogel zog mit seinem Schnabel an einem Nagel
des Kreuzes, um Christus loszumachen — ein Rotkehlchen
hüpfte auf einem wagerechten Aste hin und her: es sang
dem sterbenden Erlöser etwas vor und ritzte sich das
Brüstchen an der Domenkrone blutig da, was war
das für ein Lied? Träumte ich denn im Ernste oder war
die ganze Welt verzaubert? —
Ich war an eine Villa gekommen, die sich wie ein
himmlisches Paradies am Ufer des Mugnone ausbreitete.
Die Erde wirkte und webte und sprosste und knospete;
berauschend stieg der Duft der Orangenblüten auf und in
den immergrünen Laubhallen der italienischen Eichen girrte
und zwitscherte es tausendstimmig. Im Hintergrund führte
eine Allee von mächtigen Cypressen zu einer Laube, in
der ein Liebespaar sass; darüber wiegte sich auf einem
Zweige ein buntgefiederter Vogel mit einem purpurroten
Schnabel, der sang mit menschlichen Worten von der Ver-
gänglichkeit des Lebens und von der Pflicht der Liebenden,
die Rose zu brechen, ehe sie verblühe:
trapassa al trapassar d^un giomo
della vita mortale il fiore e '1 verde,
ne perche faccia indietro april ritomo
si rinfiora ella mai, ne si rinverde ....
Ha! Jetzt wusste ich es, das war der sprechende Vogel
von Tausend und eine Nacht — der Bülbülhesar oder die
tausendstimmige Nachtigall*) der Prinzessin Parisade, die
*) ßülbül ist der persische Name der Nachtigall, der sogenannten Hafis-
nachtigall; hezar heisst tausend; ßülb^ülhezar ist demnach so viel wie Tausend-
nachtigally und man könnte denken, der Ausdruck habe einen Sinn wie etwa
unser Tausendkünstler, Doch kommt der Name in dem Märchen der Zwei
neidischen Schwestern^ das jedenfalls persischen Ursprungs ist, wohl daher, dass
der Sprosser von den persischen Dichtem im Gegensatz zur hundertblätterigen
Rose, die er liebt, als tausendstimmig (liazär-dastän) bezeichnet wird; die Rose
heisst Gul-i sadberg [sad, d. i. hundert).
— 16 —
dieses Wundertier unter zahllosen Abenteuern und dem
leidenschaftlichen Widerspruch ihrer versteinerten Vorgänger
zum Trotz auf dem Gipfel des Hindukusch gesucht und
geftmden hatte — ich stand vor dem leibhaftigen, unüber-
trefflichen Symbol der Sprache.
Der Sprache — nicht um jener italienischen Verse
willen, wie sie allenfalls auch ein Papagei herausbringt und
die Tasso in den Gärten Ärmidas wirklich einem solchen
eingegeben zu haben scheint; Worte füllen den Begriff der
Sprache nicht aus, der unendlich viel weiter reicht. Die
Nachtigall, welche der persische Dichter zu Anfang seines
Gedichtes gleich einer Muse anruft, die ihm seine eigne
unglückliche Liebe, ja die nach ihrem Gott verlangende
Seele wiederspiegelt, ist selbst ein klassisches Beispiel einer
höheren Mitteilung, als sie Menschenmund Menschen zu
machen pflegt. Das Wort für Sprache wird in vielen Spra-
chen von der Zunge hergenommen, dem Organ des Spre-
chens. Aber es gibt auch eine Sprache, die keiner Zunge
bedarf; eine Sprache ohne Worte, die mit ausdrucks-
vollen Geberden ins Auge springt und in sfnnreichen Bil-
dern auf Königsgräbem schläft. Es gibt auch eine Sprache,
die durch die Himmel wittert und aus den Tiefen der
Mutter Erde aufhallt. Musikinstrumente, Farben sprechen;
und wenn die Diplomaten mit ihrem Latein zu Ende sind,
so fangen die Geschütze mit ihrem ehernen Munde an zu
singen. Auch die Natur, auch die Weltgeschichte hat ihre
Sprache und ihre gewaltige Art zu reden, wir müssen sie
nur lernen. Nein, sprechen heisst wissen lassen, klugmachen
überhaupt.
Ist denn, so fragte ich, nicht die ganze Welt Sprache?
Nicht ein offenes Buch dem Weisen, eine reale Encyklopä-
die? Ein Buch voller Beispiele, die belehren, voller Ana-
logien, die beweisen, voller Thatsachen, die predigen? Er-
zählen nicht die Himmel, .nach dem Ausdrucke des Psal-
misten, die Ehre Gottes, und zeugen nicht tausend Steine,
die aus dem Schooss der Erde gegraben werden, lautredend
— 17 —
von den edlen Völkern, die einst lebten? — Die Sonne ist
bewiesen, denn sie scheint, sagt der Rabbi Santos im üriel
AJcosta. Wir alle lesen in dem grossen Buche, blättern
ahnungsvoll darin, glauben jetzt ein Stückchen zu verstehen,
kommen dann nicht weiter, fangen immer wieder von vom
an und bringen es nie zu Ende; denn es ist seit ewiger
Zeit geschrieben und wird immer noch fortgesetzt; fort-
g-esetzt von uns selbst, denn wir arbeiten mit daran und
bilden in dem dicken Folianten selbst ein Blatt.
Wahrlich eine Weltsprache, älter als das Volapük des
Pfarrers Schleyer aus I^izzelstetten bei Konstanz und als
irgend eine Lingua characteristica universalis! — Sie wird
unbewusst, blind, wie die Fachmänner sagen, implicite
von allem, w£is lebt, gesprochen. Wenn der Arzt über eine
Krankheit, der Naturforscher über ein Tier die Diagnose
stellt, indem er an den eigentümlichen Merkmalen, welche
das Exemplar an sich trägt, die Art zu erkennen sucht, so
spricht die Sache zu ihm — wenn der Philosoph vermöge
der logischen Induktion aus dem Umstände, dass viele In-
dividuen derselben Art eine gewisse Eigenschaft haben,
das Vorkommen dieser Eigenschaft bei allen Individuen
erschliesst, so spricht die Sache zu ihm — wenn der Histo-
riker auf Grund der allgemeinen Kausalität folgert, dass
eine Ursache dagewesen sei, weil er die Wirkung wahr-
nimmt, so spricht die Sache zu ihm, die Wirkung ist wie
eine Manifestation des unbekannten Grundes. Unser ge-
samtes Wissen und Erkennen lässt sich in diesem Sinne
als das Verstehen einer Sprache auffassen, welche die Dinge
sprechen — dies ist nicht etwa bloss unsere persönliche Auf-
fassung, sondern die allgemeine, volkstümliche Auffassung.
Falstaff sagt (König Heinrich der Vierte, zweiter Teil IV, 3), da ihn
Sir John Colevile an seinem Bauch erkannt hat: Ich habe
eine ganze Schule von Zungen in diesem meinem Bauch, und keine
einzige von allen spricht ein ander Wort als meinen Namsn.
Aber wir selbst sind uns doch kaum eines Tropus bewusst,
wenn wir zum Beispiel sagen: dass den Esel die Ohren
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 2
— 18 —
verraten, dass das Benehmen den feinen Mamn anzeige, dass
bei Beurteilung einer Frage ein Umstand mitzusprechen habe,
dass etwas widerspreche — obgleich doch sonst nur Wesen,
die uns gleich sind, verraten, anzeigen, mitsprechen und
widersprechen können. Ich hörte einmal einen Physiologen
sagen, der gar nicht poetisch sein wollte: Durst ist eine
Natursprache, welche, ins Deutsche übersetzt, soviel heisst wie:
unser Blut braucht Wasser! — Namentlich die Wirkungen
gleichsam als Herolde der versteckten Ursachen anzusehn,
den Rauch als Verkündiger des Feuers, die Möven als Bo-
timien des Landes, den Kuckuck als Fruhlingshoten aufzufassen,
ist uns etwas ganz imd gar Gewöhnliches. Wir stehen im
Winter auf und sehen, dass die Fenster gefroren sind: so
beweisen uns die gefrorenen Fenster, dass die Nacht über
starke Kälte gewesen sei. Daraus folgt, dass, wenn es sich
um lebende Wesen handelt, auch wider Willen gesprochen
werden kann — während sie sich gewiss nicht bemerklich
machen wollen, thun es dennoch die erschreckten Schnepfen
beim Aufstehn unwillkürlich durch ihr dumpfes Fuchteln,
an welchem sie der Waidmann jederzeit erkennt, auch wenn
er sie nicht zu sehen bekam; und analog offenbaren die
Menschen, . ohne dass sie daran denken, dem Beobachter
ihre innersten Herzensangelegenheiten. Thümmels schlauer
Jude schloss aus dem häufiger oder seltner werdenden Be-
suche des Grabes der Laura, wie viel es bei den Mädchen
geschlagen habe; es war so gut, als ob sie ihm ihr Ge-
heimnis mit Worten anvertraut hätten. Umgekehrt kommt
es vor, dass wir im Augenblicke nicht sprechen können
oder wollen, aber dafür absichtlich in jenem uneigentlichen
Sinne sprechen, indem wir etwas Augenfälliges thun und
uns darauf verlassen, dass die Andern von der Wirkung
auf die Ursache schliessen werden. Wir stehen auf einem
Alpengipfel und wünschen der Menschheit eine Spur der
stattgehabten Besteigung zu hinterlassen: ein Steinmännchen
wird aufgerichtet. Wir wollen, dass man unsere Gegen-
wart merke, und melden uns, aber nicht mit Worten, son-
— 19 —
dem durch ein unartikuliertes Geräusch, wie Don Quixote
nieste, um Emerentia und Altisidora zu verstehn zu geben,
dass er da sei. Ist das Sprache? Freilich. Heisst das mit
der Zunge gesprochen? In diesem Falle mit der Nase.
Die Dinge transscendental betrachtend, können wir
demnach sagen: dass die Welt selbst, wie sie uns in dieser
Zeitlichkeit erscheint, von einer anderen, höheren Welt
spreche, die hinter oder über der Welterscheinung steht.
Diese Erde, diese Berge, diese ewigen Sterne, diese maje-
stätische Natur, wir sehen sie bekanntlich nicht unmittelbar,
wir sehen sie nur so wie sie sich in unserm Auge ab-
spiegelt; und erfahren ihre Existenz überhaupt nur dadurch,
dass sie einen unabweisbaren Eindruck auf unsere Sinne
macht, sonst könnte die ganze Welt ein Traimi sein. Auch
hier schliessen wir also von der Wirkung auf die Ursache,
und indem der Philosoph die Welt an sich entdeckt, dringt
im höchsten Sinne eine Weltsprache an sein Ohr. Und in-
sofern die Welt an sich wiederum auf einen Gott als Grund
ihrer Existenz zurückgeht oder als die Entfaltung des gött-
lichen Wesens selbst betrachtet werden kann, so liesse sich
zuletzt von einer Sprache Gottes reden, die durch die Him-
melsräume klingt — alle Weisheit hätte, wer sie erlernt,
und menschliches Wissen wäre nur ein richtiges Interpre-
tieren der ewigen Hieroglyphen und der erhabenen Chiffiren,
in denen der Weltgeist seine Gedanken ausdrückt — der
Weltgeist, von dem wir selbst ein Teil sind, zu dessen tief-
sinnigen Abbildern wir gehören, der sich stumm, aber all-
mächtig in uns kundgibt und offenbart, ehe wir den kleinen
geschwätzigen Mund aufthun, um ein Wesen wie wir von
imsem Leiden und Freuden, unsem persönlichen Ansichten
und subjektiven Meinungen zu unterrichten.
2'
— 20 —
II. Die Symbolik.
Abermals in Florenz: siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel
streifen? — wenn wir die Welt mit den Augen des Eingeweihten ansehn —
die Nachtigall und die Rose — jedes Bild als solches sprechend ähnlich —
naturliche Abbilder — die Lotosblume, die Passionsblume, die Signatur der
Pflanzen -~ Beziehungen der Blumen zu den Geschlechtsteilen — das Sinnbild
— das £i, die Kugel, das Sistrum: Weltsymbole — das sehende Dreieck, die
Schlange, die sich in den Schwanz beisst — das Pentagramm, das Ypsilon —
das Stehauf chen, Symbol des Eigensinns — Tiere und Pflanzen, alte Sinnbilder
fär gewisse Eigenschaften — der Granatapfel und das Mohnhaupt, der Hase
und der Karpfen — warum die Rose und die Myrte der Venus heilig sind — die
Weide uud das Keuschlamm — das Sieb, das Einhorn und das Hermelin —
der Elefant — drei Bäume mit dauerhaftem Holze: die Akazie, die Zypresse
und die Zeder — der Lorbeerbaum und die Palme — der unsterbliche Pfau —
die christliche Symbolik — Christus, das Licht der Welt — irdische Symbole
Christi — der Weinstock — das Schifl" — der Fisch, das Lamm und die Taube,
Hauptsymbole des christlichen Altertums — die heidnischen und die christlichen
Symbole sind Worte einer Weltsprache, die vor Jahrtausenden gesprochen
worden ist.
Ich komme auf Florenz und meinen dortigen Aufent-
halt zurück. Nicht lange nachdem mir der Kanarienvogel
zugeflogen und ohne es zu wissen die Veranlassung ernster
Betrachtungen über die stumme Weltsprache geworden
war, begegnete mir abermals ein Tier und verfehlte nicht,
mich abermals auf das heimliche Rauschen und Raunen
des göttlichen Geistes auf Erden aufmerksam zu machen.
Ich hatte damals die Gewohnheit, vormittags einen nahe-
gelegenen Exerzierplatz zu besuchen, längs desselben ein
halbes Stündchen auf- und abzugehen und die herrliche
Luft und die Aussicht auf die anmutigen Hügel Fiesoles
zu gemessen. Hier war es, wo mir jedesmal ein schwarzer
herrenloser Pudel vor die Füsse kam und sich zu mir ge-
sellte, als ob er mich fiir den Doktor Faustus gehalten
hätte. Die Alten betrachteten das plötzliche Begegnen
eines schwarzen Hundes, wie das einer trächtigen Hündin,
als ein böses Omen, und im europäischen Heidentum über-
haupt ist der schwarze Hund die Maske des bösen Prinzips;
— 21 —
ich beachtete ihn kaum, auch blieb er nur so lange ich
spsizieren ging in meiner Nähe. Allmählich indessen fing
er an, mich bei meiner Rückkehr zu begleiten, erst ein
ganz kleines Stückchen, dann ein Stückchen weiter, dann
immer noch ein Stückchen, endlicH kam er einmal mit bis
an mein Haus. Ich machte die Thüre auf, ohne ihn zu mir
einzuladen, weil ich dem Naturtrieb in nichts vorgreifen
wollte: er aber schien seinen Entschluss zu fatssen, schlüpfte
hinein, und ward mir nun ein neuer, geheimnisvoller Haus-
genosse. Ich behielt ihn ebenfalls nur eine Woche, nach
Ablauf derselben war er wiederum verschwunden. Er kam
mir plötzlich bei einem Spaziergange abhanden, und wie ich
mich nicht um ihn bemüht hatte, so thät ich auch nichts
ihn wiederzugewinnen. Aber sein seltsamer Besuch war
natürlich von neuem geeignet, das beschauliche Element in
mir zu wecken, mein Ohr an die mysteriöse Sprache, die
durch den Lärm des Tages durchklingt, zu gewöhnen, mir
eben die Worte des Faust zu Gemüte zu führen, dass die
Geisterwelt nicht verschlossen, dass nur unser Sinn zu und
unser Herz tot sei.
Wunderbar und geheimnisvoll erscheint uns diese Welt,
wenn wir sie mit den Augen des Eingeweihten ansehn.
Ein rätselhafter Tiefsinn ist in ihr verborgen wie ein Schatz:
• die Dinge sind nicht sie selbst, sie sind nur Schatten, die
der Himmel auf die niedere Erde wirft, Symbole eines
Höheren, Unsichtbaren, Überirdischen, das die Wahrheit
vom Scheine darstellt. Der Pöbel hält sich an den Schein,
wie an" die bittere, ungeniessbare Schale einer Nuss; wer
sich aber der Gnade der Gottheit überlässt, wird emporge-
tragen zu einem seligeren Dasein, um des Kernes Süssig-
keit zu schmecken. Eine Nachtigall lässt in dem Garten,
wo die hundertblätterige Rose blüht, ihr schmelzendes Lied
ertönen — Bülbül ist wieder da und klagt Gül seine Sehn-
sucht, während die Blume in selbstgenügsamem Stolz auf
ihrem Blätterthron ihn nicht beachtet — es ist nicht die
Nachtigall, es ist nicht die Zentifolie, die. Nachtigall ist die
— 22 —
Seele, die über ihre Trennung von der Gottheit klagt, der
allumfassenden, allerhaltenden, alldurchdringenden Gottheit,
mit der das Individuum wiedervereinigt werden möchte
und die wie die hundertblätterige Rose in erhabener Ruhe
teilnahmlos verharrt. Die Welt ist ein Gleichnis, durch
welches der Allgeist verschleiert zu uns redet — wie Hegel
sagt, ein uraltes Rätsel, das wir am Morgen gefunden
haben, in einen ewigen Felsen eingehauen. Wir glauben
an das Rätsel, bemühen ims aber vergeblich, es aufzulösen.
Den ganzen Tag tragen wir es mit uns umher, locken wich-
tigen Sinn heraus, prägen ihn aus zu Lehren und Bildern,
welche die Hörer erfreuen, mit edlen Wünschen und Ah-
nungen beleben; aber die Auflösung misslingt, und wir
legen uns am Abend nieder mit der HoflEhung, dass uns
ein göttlicher Traum oder der nächste Tag auf das Wort
bringen möge, das uns beständig vor dem Munde schwebte.
Von einem Porträt sagen wir, es sei sprechend ähnlich
— jedes Bild muss in seiner Weise sprechen, denn es weist
als solches auf ein Original hin, dessen Bild es ist. In unsem
Zeiten ist die vervielfältigende Kunst gemein — wir sind
Tag für Tag von Nachbildungen allerart umgeben, die wir
als etwas Selbstverständliches hinnehmen; nur diejenigen,
die ohne unser Zuthun entstanden sind, erregen noch ein
lebhafteres Interesse. Es gibt viele Bilder, in deren Her- •
vorbringxmg sich die Natur selber gefallen zu haben scheint.
Bei den Indem ruht der Weltenschöpfer auf einem Lotos,
der prächtigen Nelumbo, welche ihrem Bau nach die Erde
abbilden soll, insofern die Stempel als der goldene, von
Göttern bewohnte Berg Meru im Mittelpunkt der Welt,
die Staubfäden als die Gipfel des Himalaja, die vier Haupt-
blätter des Kelches als die vier Hauptgegenden des Hori-
zonts gedeutet werden, und die übrigen Blätter gleichsam
die Erdteile darstellen, welche rings um das heilige Land
der Brahmanen gelagert sind. So sind bekanntlich in der
Passionsblume, wie im Kopfe des Hecht, die Werkzeuge
der Passion enthalten; und alles, was in den alten Kräuter-
— 23 —
büchem von den alten Zauberärzten als Signatur der Pflanzen
bezeichnet wird, läuft auf eine solche äusserliche Ähnlich-
keit hinaus. Man fand, dass ein Kraut, eine Wurzel, eine
Blume oder eine Frucht die Gestalt eines bestimmten Kör-
perteiles habe, und glaubte darin ein wunderbares, von der
Vorsehung den Menschen gegebenes Zeichen [Signum) zu
erkennen, dass das betreffende Kraut für den betreffenden
Körperteil gut sei. Die runden Welschen Nüsse zum Bei-
spiel haben nach jenen kindlichen Naturforschem die Sig-
natur des Hauptes, die braungrünen Schalen speziell die
Signatur der Hirnhaut, daher denn das Salz von der Schale
zu den Wunden des Hirnhäutleins ein sonderbares Mittel ist.
Analog galten die kugeligen, nickenden Blüten des Wer-
mut, die kopfigen Narben des Odermennig, die runden
Kapseln des Gauchheil (wie hier schon der Name andeutet)
als Spezifica bei Kopfleiden jederart, bei Tobsucht und
Melancholie, bei Epilepsie, ja sogar bei der Hundswut und
der Drehkrankheit der Schafe. Feinblätterige Kräuter wie
Spargel oder Fenchel heilten Haarschwund; Blüten, deren
Gestalt an ein Auge erinnerte, wie Maaslieb und Augen-
trost, Augenentzündungen; die gezahnten Blüten des Zahn-
trost Zahnschmerzen. Quendel und Eisenhut hatten das
Zeichen des Ohrs, der Ampfer das Zeichen der Zunge, das
Lungenkraut das Zeichen der Lunge, das Leberkraut das
Zeichen der Leber; das Schöllkraut, welches bekanntlich in
allen seinen Teilen einen scharfen rotgelben Milchsaft enthält,
war augenscheinlich dazu bestimmt, die Gelbsucht und Som-
mersprossen zu vertreiben; sollte doch sogar die Nessel
ihrer Brennhaare wegen Sodbrennen und Seitenstechen
heilen! — Der Schöpfer hat es in der Natur gemacht wie
der Bäcker, der zwar für gewöhnlich Brot und Kuchen
bäckt, gelegentlich aber spielt und für die Kinder kleine
Hirsche und Reiter aus Teig prägt; der zur Fastenzeit
Brezeln macht, die das abgehauene Ohr des Malchus bedeu-
ten sollen, Pfannkuchen, den mit Essig gefüllten Schwamm,
Baumkuchen, die Domenkrone vorstellend u. s. w.
— 24 —
Die zwei rundlidien, nebeneinandersitzenden Knollen
des sogenannten Knabenkrautes haben seit alter Zeit an
zwei Hoden erinnert, nach denen wir noch heute die Or-
chideen nennen (oqxig). Aus diesem Grunde waren jene
Knollen jahrhundertelang als spezifische Mittel bei Hoden-
brüchen und als geschlechtliche Reizmittel, sogenannte
Heiratswurzeln, in Gebrauch; und nur aus diesem Grunde
pflegte man den Salep, der aus ihnen gewonnen wird. Ge-
schwächten zu verschreiben. Das Femininum zimi Knaben-
kraut ist die Myrte. Die schwarze, bisweilen weisse imd
ovale, mit dem Kelchsaum gekrönte Beere dieser wohl-
riechenden, der Venus geweihten Pflsmze besitzt, haben die
alten Griechen herausgefunden, die Gestalt der weiblichen
Klitoris oder des Kitzlers, des Oestrus Veneris (to fivQzovJ.
Infolgedessen brauchte man die Myrtenbeeren als Aphro-
disiaca und zu medizinischen Bädern bei Gebärmuttervorfall
und Frauenkrankheiten überhaupt Wahrscheinlich ist auch
die smgebliche Heilkraft der Rose, die von den Alten als
eine Art Panacee betrachtet wurde, auf die bestimmte Be-
ziehung zurückzuführen, welche diese Blume zur weiblichen
Scham hat und auf die wir weiter unten zurückkommen
werden.
Das alles sind einfache, unmittelbare Bilder; aber die-
selben werden um so erwünschter sein und um so eifriger
gesucht werden, je mehr sich ein Begriff der sinnlichen
Wahrnehmung entzieht, und je schwerer eine angemessene
Vorstellung desselben fällt. Wenn sich zum Beispiel ein
spekulierender Weiser die Welt, richtiger die imentwickelte,
die Keime aller Dftige in sich schliessende Weltmasse unter
dem Bilde eines Eies denkt, indem die Schale den Himmel,
das Eiweiss die Luft, das Dotter die Erde repräsentiert, ein
Vergleich, den noch Berthold, Bischof von Chiemsee, im
XVI. Jahrhundert wiederholt — wenn der römische Kaiser
als Zeichen der Weltherrschaft eine Kugel in der Hand
hält, die Erdkugel im kleinen, die sich nachmals in den
Reichsapfel der römisch - deutschen Kaiser verwandelte.
— 25 —
sintemal die Kugelgestalt der Erde bereits im Altertum
bekannt, ja, wahrscheinlich für den Philosophen Parmenides
Veranlassung war, die Gottheit selbst als eine Kugel auf-
zufassen — wenn Plutarch erzählt, dass bei dem mystischen
Musikinstrument der alten Ägypter, demSistrum, der ovale
Bronzereif den Erdkreis, die vier hindurchgesteckten Stäb-
chen die vier Elemente bedeuten sollen und dass das
Schütteln der letzteren die ewige Bewegung, dzts Hin- imd
Herwogen des Lebensmeers darstelle — oder wenn ein
Kirchenvater die göttliche Dreieinigkeit unter dem Schema
eines sehenden Dreiecks oder einer tönenden Harfe zu
begreifen sucht — wenn . er für die Ewigkeit und die stete
Wiederkehr der menschlichen Dinge keine bessere Erklä-
rung als eine Schlange, die sich in den Schwanz beisst, zu
geben weiss: so sitid es die metaphysischen Begriffe Gott,
Welt, Erdkreis, Ewigkeit, Dreieinigkeit u. s. w., die den
sinnenden G^ist gleichsam zu dieser Fassung drängten, die
ihm nebelhaft vorschwebten, die ihn wie Schemen ängstig-
ten und quälten, bis er sie vermittelst eines klaren Bildes
bewältigte. Das Bedürfnis nach Anschaulichkeit trieb den
Pythagoras, an einem Ypsilon (Y), dem sogenannten Pytha-
goreischen Buchstaben, die heilige Dreiheit und den Schei-
deweg der Tugend und des Lasters zu versinnlichen, sowie
den Drüdenfuss oder das Pentagramm (i;t), den sichtbaren
Ausdruck der vollkommenen Zahl Fünf, wegen seiner regel-
mässigen Rückkehr in sich selbst, als Emblem der Gesund-
heit zu proklamieren. Beide Zeichen haben bekanntlich die
Freimaurer adoptiert. So mystisch nun auch dergleichen
Bilder bei der mystischen Natur der Originale werden,
immerhin ist auch bei ihnen die Absicht, die Originale
nachzuahmen, nicht zu verkennen: es sind Kopien, die
ihrem Gegenstande, wie man sich denselben denken könnte,
gerecht werden wollen, die äussere Ähnlichkeit ist mass-
gebend für den Vergleich gewesen, die Bildlichkeit bleibt
immer noch eine einfache und unmittelbare.
Nun gibt es aber auch Bilder, die keine unmittelbare
— 26 -
Ähnlichkeit mit einem Gegenstand besitzen, die vielleicht
äusserlich ganz und gar anders aussehen, die aber eine
tiefere Beziehung zu dem Originale haben, weil sie in einem
«einzigen, bedeutungsvollen Zuge mit ihm stimmen. La-
bniyere vergleicht {de la cour) einen Hoftnann dem Zeiger
einer Uhr und ich kenne eine Art Gläser, die, gleich den
sogenannten Hanselmännchen, immer wieder aufstehen, man
mag sie umlegen, so oft man will, und die man in meiner
Heimat Stehauf chen benennt/ Sie haben etwas von einem
Kinde, dessen Eigensinn die Eltern vergeblich zu brechen
suchen, das es machen will wie es will und das immer
wieder auf seine dumme Idee zurückkommt. Das wären
zum Beispiel ein paar Bilder, wie wir's meinen, verschieden
und doch ähnlich, und solche Bilder nennen wir Symbole
oder Sinnbilder, weil sie das Übersinnliche sinnlich ma-
chen und nur dem Sinne aufgehn, der das Tertium Com-
parationis erfassen mag. Versteht sie, deutet sie, versenkt
euch liebevoll in ihre dunkle Meinung: dann sprechen sie
abermals eine neue, wunderbare Sprache — reden von
einem Etwas, das durch ihr Wesen wie ein stilles Licht
hindurchscheint und sozusagen ihre höhere Wahrheit ist
Sinnbilder werden, wenigstens als solche, nicht gemacht,
sondern sie sind da; sie werden nicht erfunden, sondern
nur erkannt. Gott selbst hat ihrer über die Erde aus-
gestreut, damit die Menschen klug und aufwärts ge-
zogen werden — er hat den Hindu den heiligen Feigen-
baum gepflanzt, dass sie eine Offenbctrung der göttlichen
Macht und ein Symbol des Höchsten hätten — überall
stehen heilige Feigenbäume, überall wölben sich Tempel
der Andacht, unter deren Schattendache der Pilger ausruht
und vom ewigen Leben erzählen hört — die gesamte Wirk-
lichkeit in ein einziges, erhabenes Symbol der Gottheit zu
verwandeln, dieses höchste Ziel der Religion, heisst aber-
mals eine Weltsprache verstehen.
Seit alter Zeit haben gewisse natürliche Gegenstände,
Tiere wie Pflanzen, für Symbole von Eigenschaften gegolten.
— 27 —
welche sie in ausgezeichneter Weise zu vertreten schienen.
Sie waren typisch für diese Eigenschaften, und jeder Typus
ist ein Sinnbild, sobald die Analogie auf einen einzigen,
charakteristischen Zug beschränkt bleibt. Nehmen wir
zum Beispiel die Eigenschaft der Fruchtbarkeit, die
von den naiven Alten höher geschätzt wurde als in un-
serem überbildeten Zeitalter und die in ihren Anschau-
ungen tief mit den Ideen des Lebens und der Lebens-
kraft im allgemeinen zusammenhing. Für die Fruchtbar-
keit sind einerseits gewisse, besonders samenreiche Früchte
selbst, anderseits einzelne, besonders zeugungskräftige Tiere
t)rpisch — unter jenen namentlich der Granatapfel, den
die Ehegöttin Juno, und der Mohnkopf, den die Liebes-
göttin Venus in der Hand zu halten pflegt*) — unter diesen
der Hase, welcher an mehreren Orten der Venus geopfert
ward und den Rafael in seiner Bibel Adam und Eva als
die lebendige Hieroglyphe der Worte seid fruchtbar und
mehret euch zu Füssen setzte; das Schwein, ebenfalls ein
Lieblingstier der Venus und auch der nordischen Liebes-
göttin Freya, der es bei Hochzeiten geopfert ward; und
der Karpfen, überhaupt der Fisch, dessen Fruchtbarkeit
immer unglaublich gross ist und in den sich die Venus bei
dem Kampfe zwischen Typhon und den Olympischen Göt-
tern selbst verwandelte. Der Engel des Herrn verhiess
dem Abraham Samen wie den Sand am Ufer des Meeres;
er hätte ihm noch treffender Samen wie den der Fische im
Meer verheissen können. Der Karpfen ist vielleicht sogar
nach seiner ausserordentlichen Fruchtbarkeit benannt; schon
in dem Rogen eines drei Pfund schweren Weibchens hat man
337000, in ausgewachsenen Rognern bis 700000 Eier ge-
zählt. Natürlich, dass in dem kräftigen Altertum auch die
Zeugungsglieder selbst, die Organe der Fruchtbarkeit, zu
*) Jedenfalls hat auch der Reis, mit dem man in England die Brautleute
zu bewerfen pflegt, nur den Sinn, dass man dem jungen Paare reichen Kinder-
segen wünscht. Die Juden nehmen Gerste, die Griechen Haselnüsse, die Ita-
liener Confetti u. s. w.
— 28 —
Symbolen der Schöpferkraft erhoben wurden; dass das
weiseste und älteste aller Völker, das Volk der Inder, in
den Tempeln des Siva oder auf offener Strasse dem Lin-
gam, dem unverhüllten Bilde der Begattung-, opferte, dass
Grriechen und Römer den Phallus zum Mittelpunkt eines
ganzen Kultus machten, und dass ein Gott mit aufgerichtetem
Gliede ihre Obstgärten und Viehherden zu beschützen pflegte.
Im alten Rom musste sich die Braut am Hochzeitstage
auf das Glied des Priapus, des in diesem Falle sogenannten
Mutunus setzen, bei uns wird sie mit einem Myrtenkranz
geschmückt: beide Sitten, so verschieden sie auf den ersten
Blick erscheinen mögen, haben ganz denselben Sinn. Die
Blumen sind bekanntlich als die Geschlechtsorgane der Pflan-
zen zu betrachten; zwischen ihnen und den Geschlechtsorga-
nen der Menschen besteht die genaueste Analogie. Man kann
die Blüten gleichsam vegetabilische Geschlechtsteile und die
Geschlechtsteile gleichsam animalische Blüten nennen. Bei
dem weiblichen Geschlecht tritt diese Analogie besonders
klar hervor, am auffälligsten, wenn der Stempel einfach und
der Fruchtknoten unterständig ist. In diesem Falle ent-
sprechen die Blätter des Kelchs und der Blumenkrone den
beiden grossen und kleinen Schamlippen; die Narbe vertritt
die Stelle der äusseren Scham, der Griffel die Stelle der
Scheide; der Fruchtknoten, der sich zur Frucht entwickelt,
ist eine Gebärmutter, deren enge Höhle sich während der
Schwangerschaft beträchtlich ausdehnt — der Unterschied ist
nur der, dass die Organe des menschlichen Individuums nur
einmal fürs ganze Leben, die der Pflanze ununterbrochen
neugebildet und, nachdem ihr Zweck erfüllt ist, abgestossen
werden. Diese Analogie geht so weit, dass die Gärtner bei
Rosenknospen sogar von einem Jungfernhäutchen (Hymen)
sprechen. Warum sie es gerade bei Rosenknospen thun?
— Die Rose gehört zu denjenigen Blumen, die durch Farbe,
Gestalt, Duft und Blütezeit die vorstehende* Auslegung
gleichsam herausgefordert haben, die daher im Griechischen
und in vielen Redensarten anderer Sprachen geradezu die
— 29 —
weibliche Scham bedeuten (qoöov). Nicht umsonst war sie
der Venus geweiht; nicht umsonst reicht das Mädchen dem
geliebten Jüngling eine Rose; und wenn sie zugleich ein
Symbol der Verschwiegenheit abgibt, das zum Zeichen,
dass nichts weitergesagt werden solle, auf die Tafel nieder-
häng^ und an Beichtstühlen abgebildet wird: so ist die
Verschwiegenheit der Liebenden gemeint — die Verschwie-
genheit des Harpokrates, der von Cupido eine Rose ge-
schenkt erhielt unter der Bedingung, dass er die Liebes-
händel seiner Frau Mutter nicht verriete. Zwei andere
Blumen dieserart waren die Lotosblume und die Myrte,
die wir oben schon erwähnten. Wenn ein Myrtenkranz
das Zeichen der Braut an ihrem Hochzeitstage ist, so soll
derselbe nicht etwa die Jungfrauschaft oder die Keuschheit
der Braut anzeigen. Umgekehrt, die Blume der Venus soll
bedeuten, dass das junge Weib bereit ist, auf dem Altar
der Liebesgöttin die Jungfrauschaft zu opfern; darauf mag
es auch abzielen, wenn man wünscht, dass es der Braut in
den Brautkranz regne. Man erinnere sich, dass einst in
Karlen ein Hase, das verliebte Tier, in einen Myrtenbusch
geschlüpft und dass an dieser Stelle die Stadt Aphrodisias
gegründet worden ist; und dass die keusche Britomartis,
als sie Minos verfolgte, mit ihrem Gewände an einem Myr-
tenstock hängen blieb. Unsere jungen Damen fühlen diese
Symbolik, durchdringen sie aber nicht, und so gelingt es
ihnen, durch die Blume Dinge zu sagen, die, gerade heraus-
gesagt, gelindes Entsetzen bereiten würden.
Nehmen wir nun einmal die der Fruchtbarkeit feind-
liche Eigenschaft der Keuschheit. Auch hier fehlt es nicht
an pflanzlichen vSymbolen, unter denen wohl das Keuschlamm
obenansteht; indessen scheint nicht nur der Name dieses
Strauchs ganz und gar das Produkt der sonderbarsten
Irrungen, sondern auch sein Renommee einzig und allein
darauf gegründet zu sein, dass sein Same seit Hippokrates
gleich dem Kampfer, nach dem alle Teile der Pflanze
riechen, für ein Antiaphrodisiacum gegolten und als solches
I
— 30 —
Verwendung gefunden hat. Der fromme Serapion hat ihn
Mönchspfeffer genannt, aber schon im Altertum brauchten
Frauen, die keusch sein wollten, Zweige des Keuschbaums:
die Thesmophoriazusen legten sich darauf, die Vestalinnen
trugen welche in den Händen. Bemerkenswert ist, dass in
England eine verlassene Braut, zum Beispiel Ophelia oder
Bona (Shakespeare, König Heinrich der Sechste. Dritter Teil. 111,3), Wei-
denzweige träg^ {wears the mUow); dass überhaupt die dem
Keuschbaum nicht unähnliche Weide ein Emblem von
Kummer und unglücklicher Liebe darstellt, daher auch
Alfred de Musset eine Trauerweide auf sein Grab gepflanzt
wissen wollte, wie es geschehen ist. Freilich würde die
Weide somit vielmehr auf eine aufgezwungene, als auf
eine freiwillige Keuschheit hinweisen, aber immerhin auch
eine Art von Keuschbaum sein. Und in der That soll
die Weide ganz analoge Eigenschaften haben wie das
Keuschlamm. Nicht etwa die traurige, blasse, sozusagen
verweinte Physiognomie des Baumes hat den Weidenkranz
zur Kehrseite des M)rrtenkranzes gemacht — wir w^erden
öfters bemerken, dass sich die Völker an dergleichen un-
sichere, vage Eindrücke nicht halten, sondern dass sie ihre
Symbolik auf reale Beobachtungen gründen — sondern die
antaphrodisische Wirkung, die man ihm wie dem Keusch-
baum und dem Kampfer zuschrieb. Rinde, Blätter und
Kätzchen der Weide standen in dem Ruf, jede geschlecht-
liche Regung zu unterdrücken. Ob sie diese Tugend wirk-
lich haben oder ob der Glaube daran wieder auf die Beob-
achtung zurückzuführen ist, dass die männlichen und weib-
lichen Kätzchen nicht auf einem Baume zusammenstehen,
sondern auf verschiedene Individuen verteilt sind und dass
die männlichen Kätzchen gleich nach der Blütezeit abfallen?
Ich weiss es nicht; die Platane, welche man jezuweilen als
Symbol der Unfruchtbarkeit betrachtet hat, hält eben-
falls die männlichen und die weiblichen Kätzchen ausein-
ander, lässt sie jedoch zusammenwohnen. Als unfrucht-
bar ist der Baum aber wohl deshalb betrachtet worden.
— 31 —
weil er sich durch Stecken der Nüsschen nur schwer ver-
mehren lässt, kaum der zehnte Teil geht auf und auch
dann sind es Bastardpflanzen. Auch durch Wurzelsteck-
linge lässt sich die Platane nicht vermehren, sondern nur
durch Ableger, und . auf keinen andern Baum pfropfen.
Umgekehrt lassen sich auch Reiser anderer Bäume nicht
auf die Platane pfropfen, nicht einmal Platanenreiser sel-
ber; jdLy wenn man ihr ein Pfropfreis von einem Feigen-
baume aufsetzt, geht sie im Winter ein. Sie hat in der
That etwas Steriles. Sie vermählt sich auch nicht, son-
dern lebt und stirbt im Zustande der Ehelosigkeit, wenig-
stens wenn wir den Anschauungen der römischen Dichter
folgen. Im Süden dienen bekanntlich den Weinreben
Laubbäume zu Stützen, namentlich Ulmen imd Pappeln;
wenn die Ulme fehlt, wo soll der Weinstock ranken? — Es lag
jiahe, dies beiderseitige Zusammenthun als eine Art Ver-
mählung und den Baum als den Mann, die Weinrebe als
die an ihm hängende Gattin aufzufassen, daher der glück-
selige Bauer des Horaz adtUta Vitium propagine altas maritat
populos (Epoden II, lo). An die Platane aber pflegte man
keine Rebe anzubinden, trotzdem der Baum im Altertum
beliebt und häufig war, sogar mit Wein begossen wurde,
und deshalb wurde er unverheiratet oder ehelos genannt
(Platanus caelehs/ Horaz, Oden, II, 15, 4). Dieses Coelibat
der Platane würde eine wirklich schlagende Analogfie zur
menschlichen Keuschheit, bilden, wenn die Auffassung nicht
etwas zu Subjectives, Geistreiches hätte, um mich so aus-
zudrücken.
Die eigentlichen Symbole der Keuschheit sind ausser-
halb des Pflanzenreichs aufgetrieben worden, allerdings nur
mit Hilfe kühner Übertragungen. Die Alten versinnlichten
sie durch ein Sieb, weil die reine Seele sträfliche Gedan-
ken durchlässt, wie ein Sieb das Wasser. Darum mussten
die Vestalinnen, wenn das heilige Feuer im Vestatempel
erlosch, frische Glut in einem Siebe bringen, und ebendes-
halb trug die Vestalin Tuccia, als sie, der Blutschande an-
- 32 —
geklagt, die Keuschheitsprobe ablegte, unter Anrufung der
Gröttin ein mit Wasser gefülltes Sieb vom Tiber bis zum
Tempel; das Wunder ist auf einer antiken Gemme ver-
ewigt, eine Statue der Tucda steht im Vatikan, im Museo
ChiaiamontL Man könnte freilich auch vermuten, dass das
Sieb vielmehr nach Art der Wage nur ein Emblem der
gerichtlichen Untersuchung überhaupt, gleichsam der Sich-
tung gewesen sei, durch welche das Unreine und Schlechte
vom Guten gesondert wird; imd dass das Sieb der Vestalin
Tuccia dem Komsieb entspreche, welches im Mittelalter bei
der sogenannten Coscinomantie in Anwendung kam, um den
Urheber eines Diebstahls zu ermitteln, und durch das
Groethe den Kater in der Hexenküche blicken lässt. Ein
Rest dieses Gebrauches hat sich auf dem Lande und bei
den Guunem in dem sogenannten Erbschlüssd erhalten, diuxh
dessen Ohr man in der Sylvestemacht Blei zu giessen pflegt.
Jedenfalls verlor sich das Sieb allmählich in dem Aberglau-
ben und dem tollen Zauberwesen des Mittelalters, und für
die Tugend der Keuschheit, die mit der Einfuhrung des
Christentums durch das Klosterwesen und den Mariendienst
erst recht zur Greltung kam, tauchten andere, natürlichere
S)rmbole auf, nämlich zwei Tiere, das Einhorn und das
Hermelin.
Das Einhorn hatte für das Mittelalter eine seltsame,
apokalyptische Bedeutung. Es war ein Bild der Kraft, die
an einer Jimg^frau zu schänden wird; man wird kaum fehl-
gehen, weim man in dieser Kraft die Kraft des Geschlechts-
triebs und speziell die göttliche Zeugnngskraft sieht, die
sich bei der unbefleckten Empfängnis Maria bethätigte.
Sie erlischt nicht, aber es wird ihr gleichsam die fleischliche
Spitze abgebrochen. So, indem es die Fleischwerdung des
göttlichen Wortes im Schoosse der Jungfrau Maria versinn-
lichte, koimte das fabelhafte Tier zum Symbol der Jung-
fräulichkeit selber werden. Es gibt ein altes deutsches
Bild, das Ende des XV. Jahrhunderts sehr populär ge-
wesen ist. Es stellt die Verkündigung Maria unter dem
— 33 —
Bilde einer Treibjagd dar. Der Erzengel Gabriel bläst den
Englischen Grruss auf einem Jagdhorn: ein Einhorn flüchtet,
von den Spürhunden gehetzt, zu Maria, der reinen Magd,
und stösst ihr, die andächtig dasitzt und die Hände kreuz-
weise über die Brust legt, sein Hom in den Schooss, wäh-
rend Gottvater droben seinen Segen dazugribt — ein un-
zweideutiges Pild der mystischen Befiiichtung, auf welchem
der heidnische Phallus in ein Hörn verwandelt ist. Man
findet dieses Bild in dem trefflichen Werke des Jesuiten
P. Ch. Cahier: Caraciiristiques des Saints dans Vart populaire
(Paris 1867) auf Seite 45 reproduciert; die Quelle ist eine
deutsche. Unter den gewöhnlichen heiligen Frauen, die
wegen unverletzter Keuschheit das Einhorn als Attribut
fuhren, rag^ Justina von Nikomedia hervor; in ihrem Falle
ist das Einhorn der junge Cyprianus, der sie verführen
wollte, aber nichts ausrichtete und sich bekehrte. Was das
Hermelin betrifft, so ist es durch eine Metapher zu seinem
guten Ruf gekommen. Man fabelte nämlich, das Hermelin
gehe lieber durchs Feuer als durch Kot und sterbe lieber,
als dass es sich beschmutze. Um das Hermelin zu fangen^
heisst es in der Novelle Unziemliche Neugier im Don
Quixote, bedienen sich die Jäger der List. Sie verlegen die Auswege,
die es hat, mit Kot und scheuchen es dann aus seinem Lager auf.
Wenn es an die kotigen Stellen kommt, so steht es still und lässt
sich lieher fangen, als dass es sein weisses Fell mit Unrat hesvdde,
sintemal es die Reinlichkeit mehr liebt als Freiheit und Leben.
Die körperliche Reinlichkeitsliebe wurde dann auf die der
Seele übertragen und das Hermelin auch allegorischen
Figuren der Keuschheit beigegeben und gleichsam ans
Herz gelegt: in dem römischen Palast Rospigliosi, dem-
selben, der die bekannte Aurora von Guido Reni einschliesst,
befindet sich ein Bild des venezianischen Malers Lorenzo
Lotto, den Sieg der Keuschheit darstellend; hier sieht man das
zum Beispiel. Ohne Metapher könnte man den Elefanten
zum Typus der Schamhaftigkeit wählen, wenn es wahr wäre,
dass er sich nur im Verborgenen und ohne Zeugen paarte.
Kleinpaul» Sprache ohne Worte. «^
— 34 -
Auf der Piazza della Minerva in Rom steht ein mar-
morner Elefant und auf dessen Rücken ein kleiner Obelisk;
die Inschriften auf dem Postamente belehren uns, dass hier
die (in den Hieroglyphen enthaltene) Weisheit der Ägypter
von dem stärksten aller Tiere getragen werde, das Monu-
ment mithin die Kraft der Weisheit zum Ausdruck bringe.
Diese Manier, ein Genitivverhältnis dadurch anschaulich zu
machen, dass der Sohn die Mutter auf den Buckel nimmt,
ist neu; und als Prototyp der Stärke möchte sich wohl
eher der Löwe oder der Adler des Evangelisten Johan-
nes empfohlen haben. Aber zum Symbol des Wissens
hat den Elefanten das Vernunftähnliche seiner Handlungen
selbst erhoben: Gane^a, der populärste unter den brahma-
nischen Göttern zweiten Ranges, der Gott der Klugheit,
den der Inder beim Beginn jedes Unternehmens und am
Anfange jedes Gedichtes, wie der Perser den Bülbül, an-
ruft, der Sohn Sivcis, wird dargestellt mit einem Elefanten-
kopfe und auf der (listigen) Ratte reitend.
Und so könnten wir noch lange fortfahren, allerhand
erbauliche Dinge, die uns zu Symbolen dienen, namentlich
Tiere ausfindig zu machen. So ist die Schildkröte, auf
welche die Venus Urania tritt, wenn dieselbe nicht etwa
das Himmelsgewölbe darstellt, das Sinnbild der häuslichen
Tugenden; der Storch das Symbol der Pietät und der
Dankbarkeit; das Chamäleon das der Schmeichler und
Höflinge; das Schaf das der Geduld; der Eber das des
Zornes.
Natürlich, dass man für die mehr moralischen Eigen-
schaften des Menschen die Bilder im Tierreich suchte;
haben doch die Tiere dem Charakter nach unter allen
Wesen die grösste, um nicht zu sagen allein eine gewisse,
Menschenähnlichkeit. Zwar werden auch bei Tugend und
Laster oft genug Pflanzen herbeigezogen: der Vergleich ist
dann meistens noch gewagter und weniger unmittelbar.
Es gibt drei Bäume, deren Holz seit ältester Zeit wegen
seines Geruchs, seiner Härte und Dauerhaftigkeit berühmt
— 35 —
war: die Akazie, die Cypresse und die Ceder. Mit der
ersteren ist die echte Akazie, die das arabische Gummi
liefert, der domige, jedem ägyptischen Reisenden wohl-
bekannte Baum gemeint, in dessen halblichtem Schatten
der Fellah die Spindel dreht, wahrend auf den Zweigen
die Tauben ihr unablässiges Gurren ertönen lassen. Dieser
Baum heisst im Lande gegenwärtig Sont; die Griechen
nannten ihn ii^xanla, womit sie doch wohl nicht bloss die
Ungefährlichkeit seiner Domen, sondern andeuten wollten,
dass es der Baum der Unschuld und der sittlichen Reinheit
sei (das ii/ als Alpha privativum aufgefasst). Allen drei
Bäumen eignete nämlich wegen physischer Eigenschaften,
die man auf moralische übertrug, eine Art von Heiligkeit.
Alle drei Hölzer faulten nicht, sie waren geradezu unver-
weslich und wurden auch von keinerlei Ungeziefer ange-
griflFen: Würmer und Insektenlarven schadeten ihnen nicht,
weder im lebenden Stamm noch nach der Fällung, wie
angeblich auch die Platane davon frei ist. Deshalb
pflegte man diese balsamisch duftenden, unzerstörbaren
Hölzer zu drei Zwecken zu gebrauchen. Erstens zu
Tempelbauten. Aus dem Exodus ist bekannt, dass Aka-
zienholz, von Luther Föhrenholz genannt, hebräisch Sittim,
von den Kindiem Israel in ausgedehntem Maasse beim
Bau der Stiftshütte verwendet wurde; desgleichen be-
standen in Rom die Thüren der alten Basilika von Sankt
Peter aus Cypressenholz : sie hielten von Konstantin
dem Grossen bis zum Papst Eugen IV., das heisst elf
Jahrhunderte, und würden wahrscheinlich noch einmal so
lange gehalten haben, wenn nicht der erwähnte Papst
eherne Pforten an ihre Stelle gesetzt hätte, denn sie waren
noch vollkommen intakt. Zweitens zur Aufbewahrung kost-
barer Dinge überhaupt; zum Beispiel legten die Alten
wertvolle Bücher und Kleider (wenn sie sich nicht begnüg-
ten, sie mit Cedemöl zu bestreichen) in Kästchen von
Cedemholz; ja, weil die Citronen einen ähnlichen Wohl-
geruch hatten und ebenfalls Ungeziefer fernhielten, glaub-
3*
— 36 —
ten die Römer, als sie dieselben kennen lernten, es seien
die Früchte der Ceder, und damit häng^ der Name Citrone
überhaupt zusammen (Cedms = Citrus). Endlich drittens zu
Särgen, die bei Griechen und Römern häufig aus Cypressen-
holz bestanden; auch in die Särge wurden Cypressenzweige
gethan, wie die Freimaurer ihren Brüdern Akazienzweige
aufs Grab zu legen pflegen; desgleichen die Scheiterhaufen
mit Cypressenzweigen umsteckt, damit sie mit angenehmem
Geruch verbrennten. Cedemholzspäne dienten gleich dem
Cedemharz zum Einbalsamieren der Leichname. Daher
mag es wohl kommen, dass die Cj'presse, die, regungslos
und ernst, mit ihrem an Schwarz grenzenden Grün, aUer-
ding« sehr gut zu einem Baume der Toten passt, noch
heute in Italien und überall, wo sie fortkommt, auf Fried-
höfen und an Gräbern angepflanzt wird; denn gleich den
beiden andern Bäumen war sie durch ihr unverwesliches
Holz auch zu einem natürlichen Symbol des Lebens, des
ewigen Lichtes und der Unsterblichkeit geworden. Des-
halb schnitzte man wieder Priapusse, die Götter der Frucht-
barkeit und einer andern Art Unsterblichkeit, nicht bloss
aus Feigenbaum-, sondern auch aus Cypressenholz, wenn
es nicht geschah, weil diese Statuen im Freien standen —
aber warum hätten sie denn überhaupt aus Holz geschnitzt
sein müssen?
Non sum de fragil! dolatus ulmo,
nee quae stat rigida supina vena
de ligno mihi quolibet columna est,
sed Viva generata de cupressu:
quae nee secola centiens peracta
nee longae cariem timet senectae. Martial VI, 49.
Andere wollen die Cypresse gerade entgegengesetzt
als Symbol des unerbittlichen Todes fassen und ihre An-
pflanzung an Gräbern damit erklären, dass sie, einmal ab-
geschnitten, nicht wiederausschlage — qtiae semel caesa re-
nasci nescit. Sie sei nicht xovQod^aXr^g , wie die Griechen
sagen; und gleiche einer abgebrochenen Säule. Diese Er-
klärung scheint mir etwas gesucht und weniger tief als die
— 37 —
eben gegebene, auch lässt sie sich mit den Anschauungen
der Völker, die alle auf das Leben weisen, schwer in Ein-
klang bringen. Am Ftisse des heiligen Bergs auf Ceylon, des
Adamspiks y erzählt Ibn Batüta, steht eine Cypresse, die niemals
ein Blatt verliert. Tausende von Büssern warten, dass eins her^
unterfalle; denn wer es bekäme und ässe, würde das ewige Leben
haben. Aber es ist noch keins heruntergefallen; sie sterben noch alle.
Wie der Cypresse ihr Holz, so mögen dem Lorbeer
seine Blätter zu seiner symbolischen Bedeutung verholfen
haben — zu der Bedeutung des Ruhmes und des Sieges,
vor allem des dichterischen Ruhmes. Von Griechenland ist
diese Symbolik Italien und vom Altertum der Neuzeit über-
liefert worden: seitdem Apollo von der geliebten Daphne
nichts als einen dürren Lorbeerkranz übrig behalten hat,
setzte, trotz des traurigen Auguriums, das darin liegt, noch
jeder Dichter seinen Ehrgeiz darein, mit einem Lorbeerkranze
gekrönt zu werden, womöglich wie Petrarca auf dem römi-
schen Kapitel, oder wenn das nicht, wenigstens im Theater.
Alan hat gemeint, es sei ursprünglich deshalb geschehen,
weil die Alten den Lorbeer für einen Blitzableiter gehalten
hätten. Wir krönen, sagt Don Quixote, die Dichter mit den
Blättern jenes Baumes, welchen der Blitz nicht versehrt — zum
Zeichen, da>ss denjenigen niemand verletzen soll, dessen Schläfe eine
solche Krone ziert. Es ist doch wahrscheinlicher, dass der
aromatische Geruch und Geschmack der Blätter zuerst die
Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Lorbeerblätter, die
man ja noch heutzutage zwischen die getrockneten Feigen
legt, damit sie nicht verderben, galten für antiseptisch,
überhaupt für ausserordentlich heilsam, daher sich nicht
bloss Apollo, sondern auch sein Sohn, der Mediziner, Äsku-
lap, sowie im Mittelalter der Baccalaureus medicinae mit ihnen
schmückte; ja, sie waren narkotische Mittel, welche, gekaut,
einen Zustand der Verzückung hervorbrachten, in welchem
die Menschen weissagten und in die Zukunft sahen, wurden
daher auch an Orakelstätten, wie anderwärts die Samen
des Stechapfels, ausdrücklich gebraucht. Von der Ekstase
des Propheten ist aber offenbar die poetische Begeisterung
nur einen Schritt entfernt, jeder Dichter ein Seher, jeder
Poet ein Prophet und umgekehrt, daher das lateinische
Vates und das hebräische Naht das eine wie das andere
bedeutet; und daher der Lorbeerkranz und die Liebhaberei
Apollos, des Gottes, der beides war, und aller seiner Nach-
folger im Singen und im Sagen.
Ein noch ausgeprägteres Symbol des Sieges und des
Triumphes als der Lorbeer ist die Palme; sie deutet selbst
den Sieg im Kampf des Lebens an. Die symbolische Be-
deutung der Dattelpalme wurde von den Alten wiederum auf
eine Eigenschaft ihres Holzes zurückgeführt — an die hohe
Schönheit, die fürstliche Erscheinung der Pflanze dachten
sie nicht, sie hielten sich fast immer an eine reelle praktische
Qualität, das ästhetisierende Bewundem späteren, schwäch-
licheren Zeiten und Völkern überlassend, welche solche
Bäume nicht immer um sich haben. Was die Alten an
der Palme bewunderten, war die Elastizität ihres Holzes,
die Widerstandskraft, die Unzerbrechlichkeit desselben.
Der Palmbaum erschien ihnen gleichsam wie ein Held,
denn, wenn er niedergedrückt wurde, wuchs er nur desto
schneller: er bildete den Mut vor, der sich durch kein Un-
glück beugen lässt. So kamen sie dazu, auf den Medaillen,
die sie zum Andenken an schwererrungene Siege und
mühevolle Eroberungen prägten, den heroischen Palm-
baum anzubringen, ja, jedem verdienstlichen Athleten,
jedem ruhmreichen Wagenlenker einen Palmenzweig zu
dekretieren — so oft man eine Statue mit einer Palme in
der Hand sieht, kann man sicher sein, dass sie einen glück-
lichen Spieler dargestellt hat, wie auch eine Palme an
einem kostbaren Gegenstande anzeigt, dass derselbe ein
Preis gewesen ist. Dies würde hinreichen, auch die Palmen
auf Särgen und Gräbern, in den Katakomben und auf Bil-
dern in der Hand der heiligen Märtyrer zu erklären: sie
gehören siegreichen Kämpfern an, die den Tod überwunden
haben. Zugleich aber scheint die Palme noch eine höhere.
— 39 —
kosmische Bedeutung gehabt zu haben; nicht umsonst um-
fasste Latona, als sie das Licht gebar, in ihren Wehen
auf Delos eine Palme und lehnte sich an den heiligen
Stamm derselben an. Die Palme war ein Bild des ablaufen-
den Jahrescyklus, weil sie alle Monate neue Zweige ansetzt,
und damit ein Bild der Wiedergeburt und der Auferstehung,
ja, ein vegetabilisches Pendant zu jenem Vogel, der sich
aus der eigenen Asche verjüngt, zum Phönix. Sie heisst
selber Phönix (q)oLvt^) im Griechischen, daher man in den
altchristlichen Mosaiken auf einer Palme regelmässig einen
Phönix sitzen sieht. Ein analoges Pendant zum Phönix ist
die Schlange, die jedes Jahr mehrmals die Epidermis ab-
streift und erneuert und deshalb ein uraltes Symbol der
Verjüngung (damit der Heilkunde und des Gottes der Heil-
kunde, des Äskulap) abgibt; ein drittes der Schmetter-
ling, dieses Sinnbild der unsterblichen Seele, die ihre
Schale sprengt und in herrlicher Gestalt, mit Flügeln be-
kleidet den freien Himmelsraum gewinnt; ein viertes end-
lich der Pfau.
Gar häufig füllen in den Katakomben die kreisrunden
Laibungen der Gewölbe radschlagende Pfauen aus. Sie
passen vorzüglich hinein, aber es scheint, dass sie keinen
bloss omamentalen Zweck haben, wie sie einen solchen
allerdings seit dem ersten Jahrhundert in Pozzuoli, in Pom-
peji und Herkulanum und in den jüdischen Katakomben
gehabt haben — dass sie auch nicht etwa den gestirnten
Himmel versinnbildlichen sollen, in den die Gläubigen nach
dem Tode eingehn — sondern dass hier noch ein anderer,
merkwürdiger Sinn verborgen ist. Wie man heutzutage
bei Bällen und Abendgesellschaften Truthähne und Fasanen
auf der Bratenschüssel aufputzt, indem man sie in einen
Laib Brot bettet und die Flügel mit den Federn und den rad-
förmig ausgebreiteten Schwanz daransteckt, dass sie leben-
dig scheinen: so servierte man im Altertum (und zwar nach
Phnius zum erstenmal im Hause des reichen Redners Quin-
tus Hortensius, bei einem Diner, das er dem Kollegium
— 40 —
der Augum gab) den damals in Europa noch ziemlich
neuen Pfau in seinem prachtvollen Federschmucke. Man
rupfte den Vogel nicht, sondern zog ihm die Haut mitsamt
den Federn ab, füllte ihn mit Zimmt, Gewürznelken und
aromatischen Kräutern und briet ihn am Spiesse; worauf
man ihm sein Federkleid wiederum anzog, die Halsfedem und
den Federbusch zurechtzupfte und den Schwanz ausbreitete,
so dass auch er bei Tische gleichsam seine Auferstehung
feierte. Ein pompejanisches Wandgemälde zeigt vier ge-
bratene Pfauen, die in dieser Weise angerichtet sind, auf
einer Schüssel in der Mitte der Tafel; und wahrscheinlich,
dass bereits der verständige Ofella in den Satiren des Horaz
(II, 2, 23) mit seinem gesunden Sinne tadelnd auf diese
Sitte anspielt: es sei ein eitles Schau gericht, der Braten
werde darum nicht besser, aber man lasse sich durch den
nichtigen Apparat (vanis rerum) bestechen. Das geschah
noch im Mittelalter — wenn zur Zeit der Kreuzzüge Ritter
das heilige Grab zu befreien sich entschlossen, so legten
sie bei Tische das sogenannte Pfauengelübde (le voeu du paon)
ab : ein gebratener, neugefiederter Pfau wurde von der
schönsten Dame auf goldener Schüssel in Ceremonie in den
Speisesaal gebracht und der Reihe nach vor den Rittern
niedergesetzt, die auf den Vogel schworen. Der tapferste
Ritter hatte hierauf die hohe Ehre, den Braten zu zerlegen;
er that es vor den Augen dessen, der seiner Meinung nach
den Vorzug vor ihm verdiente. Doch scheint es, dass jetzt
niemand gross davon wollte, wenn auch jeder Gast etwas
davon bekommen musste. In der gewürzhaften Zubereitung
hielt sich das Fleisch jahrelang: der Zoolog Ulisses Aldro-
vandi erzählt, er habe A. D. 1598 ein Stück Pfau vorge-
gesetzt bekommen, das A. D. 1592 gebraten worden sei;
es habe angenehm nach Fenchel gerochen, wenn es auch
ein wenig madig gewesen sei. Kein Wunder also, wenn
der Pfau neben dem Fenchelgeruche auch in den Geruch
der Unverweslichkeit und der Unsterblichkeit kam — quis
e?iim nisi Deus creator omnium äedit carni pavonis mortui ne pu-
— 41 —
tresceret? — fragt der heilige Augustinus; aber uns scheint
hier der Ort, mit Mephistopheles auszurufen:
Am Ende hängen wir noch ab
Von Kreaturen, die wir machten! —
So mochten schon die alten Ägypter an eine Fortdauer
nach dem Tode glauben, weil sie den Leichnamen durch
Einbalsamieren selber eine unendliche Dauerhaftigkeit ver-
liehen. Wie dem auch sei, deshalb und nicht etwa, weil
er sich jährlich mausert und seine Schleppe erneuert, wie
die Palme ihre Blätter, denn das thuen ja alle Vögel — wird
der eitle Vogel der Juno das stehende Symbol der Aufer-
stehung und der Unsterblichkeit geworden sein, das er
jahrhundertelang abgegeben hat und das ihn zu einem
Repräsentanten aller himmlischen Herrlichkeit erhob: noch
Hans Memling steckte ' seinen Engeln Pfauenfedern in die
Flügel.
Unwillkürlich sind wir tief ins Christentum hineinge-
raten, welches freilich voll von Sinnbildern Ist und das, wie
wir sagten, die ganze Zeitlichkeit als ein Symbol der Ewig-
keit aufzufassen strebt; seine mystischen Anschauungen
haben wir mit der Muttermilch eingesogen. Diese reiche,
durch die Kunst ausgebildete Symbolik ist ein Ausfluss
der orientalischen Phantasie und bald auf die Gleichnisreden
Jesu, auf seine zahlreichen Parabeln und Apologe, her-
kömmliche und auch im Alten Testament mehrmals vor-
kommende Redeformen, bald auf Apergus der ersten
Christen zurückzuführen. Sie hat einen stark persönlichen
Charakter: Christus und seine Gemeinde stehen überall im
Vordergrunde, auf Christus weist alles hin, in Christus hat
die Welt gleichsam einen konkreten Sinn gefunden. Vor
allem tritt in der christlichen Religion ein Zug hervor, ein
allen Religionen gemeinsamer Zug, der aber hier für die
gesamte Liturgie bestimmend gewesen ist: dass Christus
als das Licht der Welt, als die Sonne aufgefasst wird,
die über der Erde aufgegangen ist, nach einiger Zeit unter-
geht, aber bald darauf wieder aufgeht und nun für immer
— 42 —
am Himmel bleibt. Zu Weihnachten geht sie auf: nur der
Umstand, dass um diese Zeit die Wintersonnenwende ein-
tritt und die Sonne gleichsam von neuem geboren wird,
ist die Veranlassung gewesen, das Fest der Geburt Christi,
deren Datum unbekannt ist, auf den 25. Dezember anzu-
setzen. In der Kan^'oche geht sie unter: thatsächlich ist
nach den Evangelisten beim Tode Jesu eine Sonnenfinster-
nis eingetreten; die Feier der Finstermetten oder der Tene-
hrae, bei welchen fünfzehn Kerzen nacheinander ausgelöscht
werden imd die letzte, das Symbol des Erlösers, hinter dem
Altar versteckt wird, bildet diesen Sonnenuntergang im
Innern der Kirche nach. Zu Ostern kehrt sie wieder: indem
das Fest der Auferstehung von Haus aus mit dem Früh-
ling und dem Wiederaufleben der ganzen Natur zusammen-
traf, so ergab sich die Beziehung auf die Sonne, w^elche in
das Zeichen des Widders tritt und den Äquator erreicht,
von selbst; diese Beziehung wurde durch die Vorschrift,
dass das Osterfest immer an dem zunächst auf den Früh-
lingsvollmond folgenden Sonntage gefeiert werden solle,
nur sanktioniert Ein kleines Abbild gewährt die Kirche
abermals mit der Osterkerze, welche, am Ostersonnabend
angezündet und mit fünf Weihrauchkömem besteckt, zu-
gleich den Leib Christi und die milde, w^urme, belebende
Frühlingssonne symbolisiert.
Aber die S^-mbole Christi sind nicht bloss am Himmel
aufzusuchen, die Erde hat Überfluss daran. Wenn man
nach Jerusalem kommt und die alten C)lbaume im Garten
Gethsemane, die Feigenbäume und Weinstöcke auf dem
Ölberg, die Beduinen mit ihren Schafherden erblickt, so
wird man an die Zeit, wo Christus die nächstliegenden
Dinge zu S>Tnbolen wählte, wunderbar erinnert Ich hin
der Weifisiock und ihr seid die Reben — ick bin ein guter Hirfe
— siehe, das ist Gottes Lamm, tcelches der Weit Sünde trägt.
Das sind die Sprüche, die man zur Erklärung der rohen
Gebilde an den altchristlichen Sarkophagen und der Male-
reien in den Katakomben braucht Der Weinstock be-
- 43 —
deutet Christus; der Hirte, der das verlorene Schaf auf
seinen Schultern trägt, ist Christus; das Lamm, das tief-
sinnig, von sieben Leuchtern umgeben, auf dem Stuhle
sitzt, ist Christus. Die Schafe sind die Glieder der christ-
lichen Gemeinde: eine Schafherde, die von Wölfen über-
fallen, aber von wachsamen Hunden verteidigt wird, war
noch im XIV. Jahrhundert ein Sinnbild der von Irrlehrem
bedrohten, von Dominikanern bewachten Ecclesia Müitans.
Ein andermal wird die Gemeinde als ein Flug Tauben
dargestellt, während derselbe Vogel nachmals ein Emblem
des heiligen Geistes abgab. Die Kirche ist auch ein Schiff
— das Leben mit einer Seefahrt zu vergleichen, lag den
Aposteln, die Fischer gewesen waren, nahe; wer jemals nach
Rom gekommen und in die Peterskirche gegangen ist, der
hat sich auch das schöne Mosaik des Giotto, die Navicella
oder das Schiffchen angesehen, das ehemals die Fagade der
alten Basilika schmückte und gegenwärtig die Lünette über
dem mittleren Eingang füllt. In dem Schiffchen stehen die
Apostel und fahren über das unruhige Galiläische Meer:
der Sturm rast und es ist nahe am Kentern. Da erscheint
Christus auf den Fluten und Petrus eilt ihm entgegen und
ergreift seine rettende Hand; während links auf einer
Klippe ein Fischer sitzt und angelt. Die Erinnerungen an
das Fischerleben mochten auch dazu beitragen, den Fisch,
der als fruchtbares Tier der Venus heilig war, der aber
schon in seinem Namen CiXSYE) auf den Erlöser hinwies,
zu einem mystischen Zeichen des Christen und Christi
selbst zu machen: Fisch, Lamm und Taube sind die drei
vornehmsten, vieldeutigen Symbole des christlichen Alter-
tums; es sind Worte einer Weltsprache, die vor zwei Jahr-
tausenden gesprochen worden ist — nicht doch, die von
Anbeginn der Welt an gesprochen, aber erst zu Christi
Zeit verstanden worden ist.
44
III. Die Divination.
Drei Träume — wenn wir unter dem Lebensbaume der Welt sitzen, ist es uns
auch als ob wir träumen — Plaio's Erklärung von der Gabe der Weissagung
— die Leber nicht bloss ein subjektives Organ der Divination — Vorbilder des
Kommenden — Eingeweideschau und Vogelflug — Spinnen und Schafherden,
Raben und Krähen, Hornissen und Hasen — persönliche Erlebnisse sind bild-
lich und vorbedeutend — die Salisation, das Niesen — Omina, die auf die
letzte Mahlzeit Christi und den Karfreitag zurückgehen — das Verschütten des
Salzes, die Zahl Dreizehn, der Freitag — die Menschen bauen den Anzeichen
des Unglücks vor — deuten sie um — Bischof Otto in Pommern — Vorbilder
Christi im Alten Testament — heidnische Vorbilder — die Welt, ein Signum,
quod a Deo hominibus portenditur.
Ich erlebte um dieselbe Zeit noch etwas Drittes: die
apokalyptischen Tiere erschienen mir auch im Schlaf.
Gleich in der ersten Nacht, die ich auf der Via Antonio
Giacomini zubrachte, hatte ich einen sonderbaren Traum ; ich
vermählte mich mit einem Adlerweibchen. Der Sinn dieses
Gesichtes schien mir aufzugehen, als mir kurz darauf eine
ostpreussische Dame schrieb, dass sie zum Winter wieder
nach Italien kommen werde; aber was das sonderbarste
war, die Dame hatte aus Berchtesgaden geschrieben, wo
sie sich eben aufhielt, und in ihren Brief eine Adlerkralle
eingelegt, wie dieselben in Oberbayem imd Tyrol an der
silbernen Uhrkette getragen werden.
Kurz darauf hatte ich einen zweiten merkwürdigen
Traum. Ich träumte, dass ein lastbarer Esel zu mir ge-
laufen kam und seinen Kopf, wie in der Fabel, liebkosend
an meine Seite legte. Den nächsten Morgen w^urde von
einem florentiner Bankhaus ein Bote zu mir geschickt,
der mir unerwartet eine erhebliche Summe Geld auszahlte.
Wieder einige Tage darauf hatte ich einen dritten,
minder harmlosen Traum. Mir träumte, ein guter Be-
kannter reiche mir eine Welsche Nuss und einen Bissen
Brot. Aber ehe ich mich's versah, kroch aus der Nuss
ein hässlicher Wurm hervor, fiel auf die Erde und entwand
sich. Den Bissen Brot behielt ich in der Hand. Die Auf-
— 45 —
lösung- dieses Rätsels war mir wahrhaft überraschend, weil
ich von dem, was ich gleich auseinandersetzen will, bis
dcüiin auch nicht die geringste Ahnung hatte.
Den nächsten Tag besuchte mich nämlich obenerwähnter
Freund, ein Italiener und Inhaber eines Kurzwarengeschäftes,
und brachte mir eine stählerne Schraube mit, um die ich
ihn gebeten hatte, um etwas anzuschrauben. Wie er die
Spindel probierte, ob sie zur Mutter passe, meinte er, der
Wurm sei ein wenig länger als das Brot, das schade aber nichts.
Ich verstand das nicht, und er erklärte mir, dass man im
Italienischen das Schraubengewinde, welches um die Spin-
del ausserhalb herumlaufe, deis Brot der Schraube {Pane
della vüe) und das Schraubengewinde, welches innerhalb der
Mutter angebracht sei, den Wurm der Schraube {Verme della
vite) nenne. Jetzt ging mir ein Licht auf! Und ich hatte
mich schon auf einen Ärger gefsisst gemacht! —
Dergleichen Träume träumte ich in derselben Stube,
nur in längeren Zwischenräumen, auch noch später, gewöhn-
lich bei zunehmendem Monde; und da ich mir bisher diese
Anlage nicht kannte, so kam es mir vor, als ob ich nicht
auf einer gewöhnlichen Matratze bei der Porta San Gallo,
sondern auf dem Widderfelle im Tempel des Amphiaraos
läge: ganz sicher übte diese Wohnung auf mein empfäng-
liches Gehirn eine begeisternde Wirkung.
Aber zum drittenmale ward ich angeregt, auf die ge-
heime Sprache der Welt zu hören und die Bilder zukünf-
tiger Schicksale, die uns nicht etwa bloss im Traume,
sondern auch in der Wirklichkeit, zumal in der Jugend um-
schweben, im Herzen zu bedenken: es sind Vorbilder, die
wir im tiefen Spiegel der Zeit erblicken. Schatten, von
kommenden Ereignissen vorgeworfen, und, wie Cicero sagt,
Signa, quae a Deis hominibus portenduntur.
Wie in der mystischen Sprache der Religion erscheinen
uns die natürlichen Dinge als Sinnbilder, und wie im Traume
sind die Sinnbilder vorbedeutend. Unter deinen Lebensbäumen
toird uns sein, als ob wir träumen, heisst es in jenem geist-
— 46 —
liehen Liede; aber auch wenn wir unter dem grossen Le-
bensbaume der Welt sitzen und das Eichhörnchen am
Stamme der Esche Yggdrasill auf- und abläuft, die Neid-
worte zwischen Adler und Schlange hin- und hertragend,
kann uns jezu weilen sein, als ob wir träumen. Plato gibt
in seinem Timäus eine wundersame Erklärung von der Gabe
der Weissagung, deren Organ nach seiner Auffassung die
lieber ist Er unterscheidet zwei Seelen, eine unsterbliche
und eine sterbliche. Jene liat Gott, der Weltbildner, selbst
gemacht; diese machten die Göttersöhne, indem sie ihr
schreckUche Leidenschaften gaben, zuerst die Lust, den
Köder zum Bösen, dann Schmerzen, die Hindemisse des
Guten, ferner die unverständigen Ratgeber, Mut und
Furcht, Jähzorn und trügerische Hoffnung, wozu sie noch
unvernünftige Empfindung und tolle Liebe mischten. Die
unsterbliche Seele kam in den Kopf, die sterbliche Seele in
den Leib, das Fahrzeug des Kopfes. Aber hier wieder an
zwei Stellen. Das tapfere, mutige, ehrgeizige Teil der
sterblichen Seele wohnt in der Brust oberhalb des Zwerch-
fells; das begehrende und bedürftige Teil der sterblichen
Seele wohnt im Bauche, unterhalb des Zwerchfells, wo die
Krippe des ganzen Tieres, der Magen, aufgehängt ist. Da
nun die Götter wohl wussten, dass die sterbliche Seele
nichts nach der Vernunft fragen, sondern Illusionen und
Phantasmen gehorchen werde, so gaben sie ihr die Leber
zu, in welcher ihr die unsterbliche Seele wie in einem
Spiegel bald trübe, bald heitere Bilder zeigen und sie da-
durch bald schrecken, bald erfreuen könnte. Damit ge-
dachter Spiegel beständig rein und glänzend erhalten bliebe,
setzten sie auf der linken Seite die Milz an die Leber an.
Und weil Gottvater seine Söhne ermahnt hatte, ihre Sache
möglichst gut zu machen und die schlechte sterbliche Seele
doch auch ein wenig von der Wahrheit abbekommen sollte,
so verliehen sie ihr die Gabe der Weissagung, als wozu
eben jene Spiegelbilder dienen. Diese Gabe hat mit der
unsterblichen Seele nichts zu thun, da man niemals bei
- 47 —
vollem Bewusstsein, sondern nur im Schlummer und in
Krankheit weissagt. Der Mensch kann wohl beim Er-
wachen die Traumbilder analysieren und deuten, aber nicht
während des Traumes selbst; daher Propheten gesetzt sind,
die Gesichte der Träumenden auszulegen.
Also die sterbliche Seele weissagt, wenn sie die gött-
lichen Bilder im Spiegel der Leber erblickt — Bilder, die man
natürlich, wenn der Mensch tot ist, nicht mehr bemerken kann.
Aber die höchst empfindliche Leber, die vielmehr ein Spie-
gel der Gesundheit ist, galt den alten Griechen und Römern
nicht bloss für ein subjektives Organ der Divination, son-
dern auch an sich selbst für ein Eingeweide von höchster
Vorbedeutung: beim Haruspicium wurde in dem geschlach-
teten Opfertier zuerst die Leber untersucht, sie hiess, mit
Anspielung auf den delphischen Dreifuss, der Dreifuss der
Wakrsagekunst (tqlTtovg Trjg f^avrixrjg). Wenn die Leber ihre
natürliche Röte hatte, wenn sie gesund und fleckenlos,
richtig ausgewachsen und zweifach, gleichsam doppelt war,
wenn die Lappen gehörig von einander abstanden: so ver-
sprach man sich guten Erfolg bei einer Unternehmung;
hingegen fürchtete man, wenn die Leber trocken, verwach-
sen oder ohne Lappen (aloßogj war oder ganz und gar
fehlte. Als Alexander der Grosse nach Babylon kam,
opferte der Seher Pythagoras, und die Leber fand sich
ohne Lappen.
Überall und zu allen Zeiten hat der Mensch geglaubt,
dass die Vorsehung, die unablässig über ihm wache, ihn
an die Schicksale, die ihm bevorstehen, zu erinnern suche;
überall hat er aus der Erscheinung gewisser Himmelskörper,
namentlich der Kometen, aus den Sonnen- und Mondfinster-
nissen, aus Blutschnee und Schwefelregen, aus dem zufäl-
ligen Vorkommen einzelner lebloser Gegenstände, aus dem
Auftreten gewisser Tiere günstige oder ungünstige Schlüsse
gezogen. In tausend Dingen sahen die Alten Vorbilder
des Kommenden, und sie zeichnen sich dadurch aus, dass
sie diese Vorbilder nicht bloss an sich herankommen Hessen,
— 48 -
wie ein Gott sie schickte, sondern dass sie dieselben g-e-
flissentlich aufsuchten und befragten wie ein OrakeL Als
Alexander der Grosse vor den Mauern Babylons stand,
flogen Raben vor ihm auf, die sich unter einander zer-
hackten, so dass einige tot niederfielen; und als der ge-
ächtete Cicero bei seiner Villa in Formiä landete, erhoben
sich von dem kleinen Apollotempel zahllose Raben, näher-
ten sich schreiend dem Schiffe des Cicero und setzten sich
auf die Rahen, deren Tau werk sie zerrissen. Beidemal
waren sie Todesboten, denn im allgemeinen pflegen Ki^en
und Raben, die krächzenden Vögel der Walstatt, mehr
Böses als Gutes vorherzusagen; auch wir halten den Raben,
den heiligen Vogel Odins, der schon in der Edda den
Dienst eines Propheten versieht, für einen Unglücksvogel.
Grosse Krähensch wärme oder einzelne, auf dem Giebel
eines Hauses anhaltend schreiende Krähen gelten beim
Volk noch heute für ein schlimmes Vorzeichen. Aber beim
Auspicium wurden die Vögel ausdrücklich auf ihren Flug,
ihren Gesang und ihre Zahl hin angesehen, um Anzeichen
zu erhalten. Romulus stellte sich auf den Palatin und
Remus stellte sich auf den Aventin und jeder von beiden
zählte seine Geier; ja, ihre Nachkommen hielten sich eigens
Hühner, um zu beobachten, wie sie frassen, ganz so, wie
sich die brasilianischen Indianer Steisshühner hielten und
vor wichtigen Unternehmungen tagelang auf ihre eigen-
tümlichen Pfiffe horchten. Die Hauptsache blieb der Flug
gewisser, freilebender Vögel, obgleich sich bei der Ver-
wirrung, die in Angaben dieserart herrscht, schwer ent-
scheiden lässt, ob die deodra oder die sinistra avis glücklich
oder unglücklich gewesen sei.
Wir alle sind Auguren, nur weniger systematisch; jede
Spinne ist uns ein Orakel und jede Herde Schafe eine
Weissagung. Das Sprichwort sagt:
Spinne am Morgen, Gram und Sorgen;
Spinne am Mittag, Glück für den andern Tag;
Spinne am Abend, süss und labend —
— 49 —
was der Franzose ausdrückt:
Araign^e du matin, grand chagrin;
Araignöe du midi, grand souci;
Araignee du soir, bon espoir —
und ein anderes, in Ostpreussen wohlbekanntes:
Schäfchen zur Linken,
Wird Freude dir winken;
Schäfchen zur Rechten,
Gibt's was zu fechten.
Ganz allgemein ist im Christentum der Glaube, dass es
Unglück bedeute, wenn einem ein Hase über den Weg
laufe, während das doch vielmehr für den Hasen selber
Unglück bedeuten sollte; aber das fruchtbare Tier, das der
Venus geheiligt war, mochte im Mittelalter zu einem Teu-
felstier gestempelt worden sein, in das sich Hexen verwan-
delten, umsomehr, als der Hase anderseits einen gewissen
trüben, unheimlichen Charakter nicht verleugnet, macht
doch sogar der Genuss seines Fleisches melancholisch. Der
Hase ist ein einsames, nächtliches Tier: den Tag über
schläft und ruht er in seinem Neste, er lebt, sozusagen,
nur bei Nacht: in der Nacht geht er aus, in der Nacht
schreitet er zur Äsung, zur Fortpflanzung. Und als ein
verfluchtes, menschenscheues Nachttier weissagt er nichts
Gutes, zumal dem Reisenden, ja sogar die Soldaten mögen
sich nicht schlagen, wenn der furchtsame Lampe über die
Walstatt läuft. In dem hellenischen Unabhängigkeitskampfe
ist ein solcher Fall wirklich vorgekommen; A. D. 1289 ver-
loren die Grafen von Holstein eine Schlacht, weil ihrem
Kriegsheer, das eben gegen die Dithmarschen zog, ein Hase
entgegenlief Mit einem Worte:
Wann der Has läuft über den Steg,
So ist Unglück schon auf dem Weg.
Der anmutige Steinkauz, dessen Erscheinen die alten
Athener mit den Worten ykav^ YTtrarai begrüssten und
den die modernen Griechen dem König Otto bei seiner
Ankunft als Willkommen überreichten, gilt in vielen Gegen-
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 4
— 50 —
den Deutschlands als unheilweissagender Vogel, nicht viel
besser als das Picken der Totenuhr. Die Phantasie ist er-
finderisch, in unvorhergesehenen Ereignissen, namentlich in
Tieren, die Geister zukünftiger Schicksale und in dem Heute
das Morgen zu erkennen. Herzog Albrecht reitet nach
Rheinfelden, und
unterwegs begegnet ihm ein Schwärm
von Hornissen, die fallen auf sein Ross,
dass es für Marter tot zu Boden sinkt.
Er wird bald ermordet werden. Im Februar 1885 schei-
terte der auf der Fahrt von Cadix nach der Insel Cuba
begriffene spanische Dampfer Alfonso XII.; in Spanien
wurde dieses Ereignis gleich als ein böses Omen für den
König, der am 25. November desselben Jahres starb, be-
trachtet. Als die Franzosen im Jahre 18 12 durch Deutsch-
land nach Russland zogen und die unbestimmte Erwartung
eines furchtbaren Verhängnisses in der Luft schwebte, sagte
man, sonst hätten ihre Rosse gewiehert, so oft sie aus dem
Stall geführt worden wären, damals hätten sie die Köpfe
gehangen; sonst waren die Krähen und Raben dem Heere
des Kaisers entgegengeflogen, jetzt begleiteten sie das Heer
nach Osten über den Niemen, ihren Frass erwartend.
Der alte Dessauer kehrte wieder heim, wenn ihm im
Walde alte Weiber begegneten; in Italien hütet man sich, am
frühen Morgen einem Priester, einem Mönch, einer Jungfrau,
einer Schlange, einer Eidechse, einem Reh und einem Wild-
schwein zu begegnen, während man sich freut, wenn man
unterwegs auf eine Hure, einen Wolf, eine Grille oder eine
Kröte stösst. Der Angang eines Wolfes war schon unseren
Ahnen ein glückliches Vorzeichen, daher sie ihre Kinder
Wolf gang nannten; auch die Schlange bedeutet anderwärts
Glück — die Sioux oder die Nadowessier töten keine Klap-
perschlange, vielmehr steht sie bei ihnen wegen ihrer List
in Ansehen und das Begegnen einer solchen wird von
ihnen als etwas Günstiges gedeutet. Frauen dagegen
haben überall etwas Dämonisches; unter den Amerikanern
— 51 —
herrscht sogar das Vorurteil, alle Jagden müssten einen
unglücklichen Ausgang nehmen, bei denen aus Unachtsam-
keit zuerst ein weibliches Tier erlegt wird. Und bis nach
Indien ist es ein Unglückszeichen, zuerst am Morgen einer
Witwe zu begegnen. Endlich die Mönche werden auch von
dem frommen Spanier gemieden: einer stand eines Morgens
auf, sagt Don Quixote, ging aus seinem Hause und^ begegnete
von ungefähr einem Bruder von dem Orden des seraphischen hei-
ligen Franciscus — stracks kehrt er wieder um, als wenn ihm der
Vogel Greif begegnet wäre, und läuft nach Hausse zurück. Ein
anderer verschüttet ein wenig Salz und wird darüber so melancho-
lisch, als wenn die Natur verpflichtet wäre, künftige Begebeyiheiten
durch dergleichen Lappalien zu verkünden (II, 58).
Denn nicht bloss äusserlich, greifbar, in Tiergestalt
oder in der Mönchskutte tritt das Verhängnis an uns
heran: auch persönliche, ganz persönliche Erlebnisse
erscheinen dem ahnungsvollen Gemüt als bildlich und vor-
bedeutend. Supercilium salit, Oculus dexter mihi salit. Das
rechte Äuge grimmt mir, ich werde was Liebes sehen. Das rechte
Ohr klingt mir, es wird jetzt von mir gesprochen. Das Niesen
wurde schon im höchsten Altertum als ominös betrachtet:
weil jemand nieste, als Xenophon sein Heer zum Angriff
ermahnte, sah man sich genötigt, ein Bussgebet auszu-
schreiben; dagegen ward derselbe Xenophon zum Feldherrn
ernannt, weil jemand nieste, während er seine Rede hielt.
Es kam auf Zeit und Umstände an. Von Mittemacht bis
Mittag wurde das Niesen für schädlich gehalten, ebenso
bei Tafel, wenn abgeräumt ward, das ein- oder dreimalige
Niesen und das Niesen zur Linken. Von Mittag zu Mitter-
nacht dagegen war das Niesen günstig, ebenso das Niesen
zur Rechten und das zwei- und viermalige Niesen. Beson-
ders günstig war es, wenn zwei Personen zugleich niesten,
während sie sich über etwas berieten. Als dem Themi-
stokles bei einem Opfer drei Gefangene in königlicher
Tracht gebracht wurden, nieste jemand auf der rechten
Seite. Der Priester Euphrantides deutete dies dem Themi-
— 52 —
stokles als ein Vorzeichen des Sieges. Nach deutschem
Volksglauben bedeutet dreimal nüchtern niesen Glück, na-
mentlich Geschenke; und ebenso folgern wir: er hat es be-
niest , also muss es wahr sein. Man erklärt das damit, dass
der Niesende gleichsam eine bejahende Bewegnng mit
seinem Kopfe mache; doch ist das Nicken sicherlich das
wenigste beim Niesen. Bereits Telemach beniest die Worte
der Penelope in der Odyssee (XVII, 545).
Nach dem Berichte des Herodot wurde Darius Hystas-
pis König von Persien, weil sein Ross gewiehert hatte.
Als der falsche Smerdis ermordet worden war, beschlossen
die persischen Grossen, denjenigen zum König zu wählen,
dessen Ross zuerst wiehere, wenn sie an einem bestimmten
Tage bei Sonnenaufgang ausritten. Der Hengst des Darius
brachte die Entscheidung, weil er Tags zuvor von dem
listigen Stallmeister Oibares in der Vorstadt zu einer Stute
gelassen worden war. Die Sache ist keine Fabel, sondern
ganz im Geiste der persischen Religion (Herodot itt, 86).
Wenn Grosses bevorsteht, so gewinnt jedes kleine Vor-
kommnis den Schein eines höheren Winkes. Immer wird
sich die Hausfrau beim Backen darüber freuen, sobald der
Teig schön aufgeht; wenn sie aber einen Geburtstagskuchen
bäckt, achtet sie ängstlich darauf, dass er in die Höhe geht
und nicht etwa klitschig und klantschig bleibt, denn da-
nach richtet sich das Ergehen ihres geliebten Sohnes im
neuen Lebensjahre. Noch Anfang des XI. Jahrhunderts
war es Brauch, in der Neujahrsnacht ein Brot mit den
Zeichen eines Namens zu backen und nach Römerart mit
dem Aufgehen des Teiges ein systematisches Augurium
anzustellen. Und schon bei einer gewöhnlichen Mahlzeit
wird darauf gesehen, dass wir dcis Brot nicht auf die un-
rechte Seite legen — dass Messer und Gabel nicht übers
Kreuz zu liegen kommen — dass man kein Salz verschüttet:
wenn nun erst bei einer Hochzeit das Salzfass umgeworfen
und damit ein entsetzliches Omen gegeben wird! — Es ist
ganz in der Ordnung, dass Judas Ischariot auf Leonardo da
— 53 —
Vinci's berühmtem AhendmaM mit dem linken Arme zu-
fällig das Salzfass umstösst, ja, man könnte vermuten, dass
es thatsächlich vorgekommen und der Aberglaube auf diese
Szene zurückzuführen sei, wie ebenfalls seit der letzten
Mahlzeit Christi und der zwölf Apostel die Zahl Dreizehn
als eine gefährliche Zahl, und seit dem Karfreitag der Frei-
tag als ein Unglückstag betrachtet wird. Sitzen Dreizehn
bei einander zu Tisch, so muss wie damals einer binnen
Jahresfrist sterben, das ist ausgemacht*); und schon Prokop
bemerkt, dass Justinian und Theodora ihre Regierung mit
einem bösen Omen antraten, indem sie es an einem Kar-
freitag thaten, an welchem der Friedenskuss beim heiligen
Abendmahl nicht gegeben werden durfte. Der Fliegende
Holländer wurde grausam gestraft, weil er an einem Karfrei-
tag in See gegangen war. Vom Karfreitag ging dann das
Omen auf alle Freitage über: an einem Freitag darf nichts
unternommen, nicht geheiratet und nicht gereist werden.
Nur in Amerika gilt der Freitag für glücklich — Kolumbus
schiffte sich in dem Hafen von Palos, 3. August 1492, an
einem Freitag ein, und viele der grössten politischen Ereig-
nisse haben an diesem Tage stattgefunden. Bereits die
alten Römer hatten ja ihre Dies Nefasti oder Ätri, an wel-
chen dem Staate ein Unfall begegnet war und nichts wich-
tiges unternommen werden durfte. Was das Salz betrifft,
*) Nur der charakteristischen ZusammensetzuDg der Tischgesellschaft des
Herrn hat man es zuzuschreiben, wenn die Zahl Dreizehn in Misskredit gekom-
men ist; denn nicht nur dass sie bei den Hebräern und Griechen nichts An-
stössiges hatte, man findet überhaupt bei allen Vclkem vielmehr eine Furcht
vor den geraden als v<m: den ungeraden Zahlen. Diese Furcht ist der Gnmd,
dass die Rabbinen dem Missethäter nicht (nach 5. Mose XXV, 3) 40, sondern
nur 39, die Hindu umgekehrt nicht 100, sondern loi Hiebe geben lassen ;
dass bei festlichen Gelegenheiten loi Kanonenschüsse abgefeuert werden und
dass die Getreuen in Jever dem Reichskanzler jährlich zum Geburtstag 10 1
Kiebitzeier senden. Niemand im Orient gibt oder nimmt eine Obligation für
eine gerade Summe; wenn einer 10 000 Rupien ausleiht oder borgt, so wird
geschrieben 10 001. Der bekannte Titel: Tausend und eine Nackt hat keine
andere Veranlassung.
— 54 —
so scheint das Omen älter, denn bereits die Römer hielten es
für ein böses Zeichen, wenn das Salz, das man auf das Haupt
der Opfertiere streute, wieder verschüttet wurde.
Eine Pensionärin furchtet eine unglückliche Liebe, wenn
sie einmal aus Versehen die Milch vor dem Zucker in den
Kaffee thut — sie ist untröstlich, wenn der Schuhriemen
oder (in Italien) die Spitzenmanschette reisst — eine Braut
vollends, die beim Gang zum Altar mit dem Fusse an-
stösst oder fällt, hat nichts Gutes zu erwarten. Das sind
naheliegende unglückliche Omina; sie zu vermeiden, wurde
die Braut im alten Rom über die Schwelle hinweggehoben,
was noch jetzt in Griechenland geschieht. Wir betrachten
den Tag als verloren, an dem wir mit dem linken Fuss
aus dem Bette gestiegen sind: im Altertum war es Regel,
die Stufen zu den Tempeln nur in ungleicher Zahl anzu-
legen, so dass man mit dem rechten Fusse in das Ge-
bäude eintrat; man hielt das für einen wesentlichen Punkt
und für ein ebenso günstiges Augurium, als das Gegenteil
ungünstig gewesen wäre. Die Menschen sind der Meinung,
das Unglück abzuwehren, wenn sie den Anzeichen desselben
vorbauen; und doch kommen diese Anzeichen wie ein Dieb
in der Nacht, unvorhergesehen und unabwendbar. Noch
besser, sie mit Geistesgegenwart für sich und andere ge-
schickt umzudeuten, als ihnen den Eintritt von vornherein
abschneiden zu wollen. Als Crassus mit seinem Sohne in
Hierapolis aus dem Astarte-Tempel trat, glitt zuerst an der
Schwelle der junge Crassus aus, dann fiel der Vater über
ihn. Sie nahmen ihr Unglück hin. Aber als Cäsar bei der
Landung an der afi^kanischen Küste (bei Hadrumetum v. C.
47) hinstürzte, rief er: Teneo te, Africa! Ich fasse dich, Afrika!
— das widrige Zeichen in ein günstiges verwandelnd, wie
Friedrich der Grosse, der (am 14. Dezember 1740, vor Be-
ginn des ersten Schlesischen Krieges) beim Herabsturz der
Glocke zu Crossen seiner entmutigten Armee zurief: Bas
Hohe wird erniedrigt , Brandenhurg über Osterreich siegen! — Der
Fall Cäsar's, der auch von Scipio erzählt \^ird, hat sich
— 55 —
angeblich am 28. September 1066 bei Wilhelm dem Eroberer
zu Pevensee bei Hastings wiederholt.
Woher aber der tiefe und allgemeine Glaube an der-
gleichen Omina? Doch, wie gesagt, nur daher, dass die
Gottheit in allen, selbst in den unscheinbarsten, die Zukunft
auf geheimnisvolle Weise ab- und vorzubilden scheint. In
dem scheiternden Schiffe des Königs von Spanien sinkt
gleichsam Alfonso selber unter; in dem schwarzen Raben
scheint das Schicksal des Cicero zu fliegen, in dem Hasen
das bevorstehende Unglück leibhaftig über den Weg zu
laufen, in dem aufgehenden Geburtstagskuchen das Geburts-
tagskind selber aufzugehen. Der heilige Bischof Otto, der
Apostel der Pommern, unterrichtete und taufte die ersten
Heiden an einem See zwischen Tankow und Himmelstädt.
Es waren gerade dreissig, die sich aus Neugierde einge-
funden hatten; und dieser Umstand bestärkte den Heiligen
in der trostreichen Hoffnung, dass die Lehre des Christen-
tums von den Drei göttlichen Personen und den Zehn Ge-
boten in Pommern Eingang finden würde (30 = 3 . 10).
Das war gaiiz im Geiste eines Bischofs, der vom Seminare
her gewohnt ist, Vorbilder in der Vergangenheit und in
der Gegenwart, und im Alten das Neue Testament zu suchen.
Denn auch unsere Heilsgeschichte enthält unzählige tief-
sinnige Vorbilder, stumme Boten, die in grauer Vorzeit auf
Jesum Christum weisen, unbewusste Vorläufer des grossen
Erlösungswerkes, typische Personen, die sich selbst zu leben
glauben und deren Sinn erst nach Jahrtausenden bei an-
dächtiger Betrachtung des erhabenen Weltplans aufgeht.
Wer sich jemals in das göttliche Weltgedicht vertieft hat,
das Michel Angelo in der Sixtinischen Kapelle aufrollt;
wem die steinernen Bilder am Sarkophag des Junius Bassus
in die Seele gefallen sind; oder wer die lebenden Bilder
im Passionsspiel zu Oberammergau wie in einem Retroper-
spektiv erblickte — der kennt die Dinge und die Szenen,
die, von Nebel und Dämmerung umflossen, das heilige My-
sterium vorgebildet haben. Das Widderfell auf der Tenne
- 56 —
Gideons, allein auf Erden mit Tau benetzt, ein Vorbild
für die unbefleckte Empfängnis — Abrahams Opfer ein
Vorbild für Christi Opfertod — Moses, der Wasser aus dem
Felsen schlägt, ein Vorbild für die Taufe — die Speisung
mit Manna, ein Vorbild des Abendmahls — Jonas, vom Wal-
fisch verschlungen und ausgespieen, ein Vorbild der Auf-
erstehung — Daniel in der Löwengrube, ein Vorbild für
Christi Höllenfahrt — Elias, der auf feurigem Wagen gen
Himmel fährt, ein Vorbild für Christi Himmelfahrt: Vor-
bilder überall. Vorbilder sogar im Heidentum, aus dem
bald die Danae, bald die Sirene, bald der widdertragende
Hermes, namentlich aber Orpheus herangezogen wird, wie
er die wilden Tiere mit seinem himmlischen Spiel bezaubert
und die Allgewalt des Evangeliums ahnen lässt — der
Fälle nicht zu gedenken, wo die heidnische Mythologie nur
die Darstellungsform für christliche Ideen ohne typische
Bedeutung hergibt
Auf diese Weise redet Gott mit der Menschheit. Über
den Wert oder Unwert der heiligen Vorbilder haben wir
hier nicht abzuurteilen, weder in der heidnischen Divination,
noch in der christlichen Symbolik: genug, dass die Vor-
bilder im Gedächtnis des Volkes haften und dass die
Menschheit bis auf den heutigen Tag an diese Sprache
glaubt. Denn allerdings ist es eine Sprache, eine geheim-
nisvolle und uralte Weltsprache, die uns in der Divination,
wie in der Symbolik anhallt, und, wie Cicero sagt, eine
SelbstofFenbarung Gottes. Die Welt in ihrer unendlichen
Entfaltung, ihr mächtig flutendes Leben erscheint dem
ahnungsvollen Denker als ein Gleichnis und als ein Signum^
quod a Deo hominihus portenditur. Die Weltsprache ist ewig
wie die Welt. Sie ist gesprochen worden, ehe noch ein
Wesen darauf gehört hat. Wer sie verstünde, wäre der
weiseste Mann, weiser als Sokrates.
Mit recht könnte er sagen: Ämicus Flato, amicus So-
crates, magis amica veritas.
— 57 —
IV. Die Traumsprache.
Auffassung der Träume im Altertum — der Morpheus des Ovid — die Träume
eine Art selbständiger Geister, die von den Göttern auf die Erde gesendet wer-
den — die zwei Pforten, aus denen sie kommen — die Sprache des Traumes,
eine vierte göttliche Offenbarung — die Träume Augurien, die Traumdeutung
Divination — die Bildlichkeit des Traumes — sie erinnert an die Ausdrücke
der Dichter und Propheten — Parallelen, die mau zwischen den Träumen profaner
Personen und den Visionen alttestamentlicher Propheten ziehen kann — zwei
von Fredegar mitgeteilte Träume fränkischer Könige — die Seele und die
Maus — die Bildersprache des Traumes ist oft abhängig von der Zeit, der
Nation und dem Lande des Träumenden, sowie von persönlichen Zuständen — •
Idee einer allgemeinen Traumsprache und eines Wörterbuchs derselben —
Proben: Redensarten des Traums, die durch die ganze Welt gehen — Ver-
irrungen, Zahlensymbolik in Italien und in Wien.
Die drei Träume von vorhin haben uns zunächst auf
das weite Gebiet der Divination und auf die Vorzeichen
gefuhrt, die gleichsam reale Träume sind. Erst jetzt packen
wir das damals angeregte Thema.
Als der alte Ovid seine Metamorphosen schrieb, hat er
sichs gewiss nicht träumen lassen, dass er mit einer seiner
Fabeln die Chemie und die Pharmacopoea Germanica um
einen Begriff bereichern würde, der gegenwärtig im Guten
wie im Bösen die wichtigste Rolle spielt; nämlich um das
Morphium, welches nächst dem Chinin die vorzüglichste
aller Pflanzenbasen ist. Eine der schönsten Stellen in den
Metamorphosen ist bekanntlich die phantasiereiche Beschrei-
bung der Höhle des Schlafs im elften Buche. Bei dieser
Gelegenheit gibt der Dichter dem Schlaf drei Söhne: den
Morpheus, den Icelus oder Phobetor und den Phan-
tasus, alles drei Traumgötter und Büdner oder Former von
Traumgestalten, das bedeuten die drei Namen, die griechisch,
aber von Ovid erfunden worden sind. Exdtat artificem simu-
latoremque figurae Morphea. Morpheus ist der berühmteste
unter den drei Brüdern und nachgerade soviel wie der
Vater selbst: wir betrachten ihn nicht bloss als Traumgott,
sondern überhaupt als Schlaf gott; von einem Schlafenden
sagen wir: er ruhe in Morpheus' Armen. Als daher der
— 58 —
britische Naturforscher Robert Boyle im XVII. Jahrhundert
das Alkaloid des Opiums, wie es auch hiess, das Magisterium
Opii entdeckte, nannte er es, als ein schlafmachendes Mittel,
nach dem Morpheus des lateinischen Dichters Morphium
oder wie die Engländer, Franzosen und Italiener sagen.
Morphin: die Endung — ium haben wir jedenfalls nur dem
Opium zuliebe gewählt, welches eigentlich ein Diminutivum
und soviel wie Säftchen ist (orctov).
Was aber die drei Traumgötter anbetrifft, so erscheinen
sie mir als eine frostige Erfindung des Ovid, in der Sprache,
aber durchaus nicht im Geiste der alten Griechen, als
welche, gleich den meisten Naturvölkern, glaubten, dass
die Träume eine Art selbständiger Geister seien und von
den Himmlischen wie Boten oder Engel auf die Erde ent-
sendet würden. Beim Homer wohnt das Volk der Träume
da/ wo die Schatten der Verstorbenen wohnen, nämlich an
den westlichen Ufern des die Erde umfliessenden Welt-
stroms, des Okeanos; hier harren sie der Befehle der Götter,
welche sie bald zu diesem, bald zu jenem Schläfer schicken.
So schickt Zeus am Anfang des zweiten Buches der Iliade
dem Agamemnon einen Traum, der ihn zur Lieferung einer
Schlacht auffordert und sich ausdrücklich als einen gött-
lichen Boten zu erkennen gibt: ^dibg de toi ayyekog eifii.
Das schliesst freilich nicht aus, dass die Träume nicht auch
gelegentlich von selber, ohne göttliches Geheiss erscheinen,
wo sie dann nichts zu bedeuten haben; dass sogar die gott-
gesendeten gelegentlich trügen, wie denn eben der Traum,
den Zeus dem Agamemnon schickt, trügerische Hoffnungen
in ihm erweckt Penelope, die den schönen, bedeutungs-
vollen Traum gehabt hat, dass ein Adler ihre zwanzig
Gänse würgte, und den Odysseus darum befragt, sagt,
es sei eine schwierige Sache um Träume, nicht alle gehen
in Erfüllung: sie kommen aus zwei Pforten, aus einer elfen-
beinernen und aus einer hörnernen, jene seien nichtig, diese
prophetisch — womit die geistreiche Frau nur ein Wortspiel
zu machen scheint. Im allgemeinen jedoch werden die
— 59 —
wahrhaftigen Träume auch für solche gehalten, die von den
Göttern ausgehen, und dieselben als göttliche Träume unter-
schieden: ßeiog f.ioi evvttvlov rjkS'ev oveigog. Ein göttlicher
Traum war es, den Pallas Athene dem Perikles sandte, als
der Architekt Mnesikles beim Bau der Propyläen vom
Gerüst gefallen und zu Schaden gekommen war, und in
dem sie das Kraut anzeigte, das dem Kranken aufgelegt
werden sollte. Ein göttlicher Traum war es, von dem der
ältere Plinius erzählt und durch den ein Soldat der Kaiser-
garde in Rom gerettet wurde, als derselbe von einem
tollen Hunde gebissen worden war. Ohne davon unter-
richtet worden zu sein, hatte angeblich seine Mutter in
Spanien von einem Mittel gegen die Hundswut geträumt
und den Traum ihrem Sohn geschrieben. Der Brief kam
gerade noch zur rechten Zeit an, ohne ihn wäre der Kranke
verloren gewesen. Das Mittel wurde seitdem oft angewen-
det und es bewährte sich stets (H. N. XXV, 17). Solche
Träume wurden von den alten Griechen in gewissen Tem-
peln oft geradezu gesucht, namentlicli von Kranken, die in
mm
Askulaptempeln schliefen, um von dem Gotte ein Specifi-
cum angegeben zu bekommen. Dieselbe Auffassung zieht
sich auch durch die Bibel, wo es göttliche und natürliche
Träume gibt.
Die Unterweisung durch göttliche Träume erschien
demnach den alten Völkern als eine der vielen Sprachen,
in denen Gott zu den Menschen redet. Im ersten Buch
der Iliade meint Achill, man solle einen Seher oder einen
Priester oder einen Traumdeuter fragen, weshalb Apollo
zürne; xal yaQ t^ ovag ex Jiog eoriv. Ein Seher hätte die
Natur, ein Priester die Eingeweide befragt; aber auch ein
Traum konnte Auskunft geben, denn auch er kommt von
Zeus. In dreifacher Weise können wir nach dem Vorigen
sagen, dass Gott zu den Menschen redet. Erstens durch
die Welt, in der er sich selber offenbart. Zweitens durch
Symbole, die uns auf eine höhere Welt hinweisen. Drittens
durch Vorbilder, in denen sich kommende Schicksale auf
— 60 -
geheimnisvolle Weise abbilden, die Augurien und die
Auspizien. Zu diesen drei Offenbarungen kommt hier also
eine vierte: die Sprache des Traums.
Offenbar hat diese neue Sprache mit der vorhergehen-
den die grösste Ähnlichkeit: wenn die Deutung des Vogel-
flugs und der Eingeweide von Cicero als Divinatio artis, so
wird die Traumdeutung als Divinatio naturae bezeichnet.
Träume sind Vorbilder, symbolische und prophetische Vor-
bilder, wie die realen Augurien. Die Götter senden sie
uns, um uns dadurch im Bilde das Zukünftige zu zeigen,
und der Unterschied ist nur der, dass die Vorzeichen ausser
uns in Wirklichkeit geschehen, während uns die Traum-
bilder im Schlafe unfassbar und ungreifbar, wie die Seelen
der Verstorbenen, umschweben. Solange es Tag ist, fan-
gen wir begierig, mit aufgeschlossenen Sinnen alle Ein-
drücke der Umgebung auf und verarbeiten sie mit der
Schärfe des Verstandes; aber des Nachts, wenn unsere
Sinne ruhen und der ermüdete Verstand seine Funktionen
einstellt, besucht uns ein Höheres und lässt uns im tiefen
Spiegel der Zeit, in Nebelbildem das nahende Schicksal
sehen. Vor uns senkt sich das Gewebe von grauem Flor
herab, auf welchem Morpheus seine bunten Bilder zu zeigen
pflegt. Ein Gott spricht zu uns und belehrt uns auf seine
stille, wunderbare Weise — wie hier eine höhere Intelligenz
obwalte, scheint dem Plato schon daraus hervorzugehen,
dass wir unsere Traumbilder nicht während des Traumes
deuten und analysieren können, sondern erst wenn wir er-
wacht sind, ja, dass wir sie uns das zehnte Mal erst deuten
lassen müssen. Dies die naive, aber treffende Auffassung
der Traumsprache im Altertum, die man nur ihres poeti-
schen Gewandes zu entkleiden braucht, um sie noch heute
teilen zu können.
Konstatieren wir zunächst, dass es prophetische Träume
gibt. Noch jüngst zuckten die Zeitungsschreiber über die
Exkaiserin Eugenie die Achseln, weil sie auf einen merk-
würdigen Traum, wonach sie sich mit Louis Napoleon zum
— 61 —
zweitenmal verlobte, etwas gegeben habe. Ihr Mitleid ist
ebenso wohlfeil, wie übelangebracht. Träume sind Schäume,
sagt der Deutsche, und der Franzose: Songes Mensonges; die
elfenbeinerne Pforte wollen wir nicht leugnen. Der Traum
ist ein grosser Dichter, er macht seine Gedichte auch aus
der Vergangenheit und aus der Gegenwart. Aber es gibt
so viele wahrhaft bedeutungsvolle Träume, die von glaub-
würdigen Männern mitgeteilt worden sind oder die wir ge-
legentlich selbst haben, dass wir eben mit Frau Penelope
bekennen müssen:
Ol 6h dict ^satüiv xeQawv ^kS-wai ^v^ja^e,
o" ^ ixvfjux XQalvovaif ßQOzdiv oze xh xlq ^örjrau
Nun ist es für das Wesen der Traumsprache wahrlich
ganz gleichgültig, ob wir uns die vorbedeutenden Traum-
bilder von Gott wie Geister senden lassen, oder ob wir sie
einer eignen Seelenkraft verdanken und ob wir selber Mor-
pheus und Jupiter sind. Die Bildlichkeit bleibt dieselbe,
nur dass das eine Mal Gott das Bild braucht und gleich
einem Stern vom Himmel fallen lässt, das andere Mal ein
Gott, der m unserer Brust wohnt, zu unserer eignen Über-
raschung laut wird. Die gute Absicht, die den Traum er-
findet, dünkt mich das Wesentliche. Die prophetische
Kraft, das scheinbar Zufällige, ganz Unberechenbare wie
in einem Spiegel anzuschaun, gehört gar nicht der Sprache
an, dcis ist Ahnung, Weissagung, Divination; es ist ein
Stück Allwissenheit, das uns der Schöpfer gelassen zu
haben scheint. Aber die symbolische Ader, mit welcher
wir die trockene Wahrheit poetisch umgestalten, mit der
wir die Dinge, zukünftige wie vergangene, nicht unmittel-
bar, sondern in tiefsinnigen Bildern anschaun und uns dann
selbst vorhalten: das ist Sprache, das ist Ausdruck des
Gedankens, das ist eine Redeweise nach Art der grossen
Mutter, die unbewusst und unwillkürlich in uns träumt
und dichtet und psychologische Metaphern ohne Zahl er-
sinnt, ja, der wir selber im stillen einen seltnen Tiefsinn
und die Phantasie eines Propheten anzudichten lieben, in-
— 62 —
dem wir von den Göttern religiöse Symbole und Vorzei-
chen verlangen. Bei Bautzen liegt der sogenannte Traum-
berg, vulgo Dromberg, Hier hatte dem Erbauer der ersten
Bautzener Wasserkunst, als bei ihrer Eröffnung kein Wasser
gekommen war, geträumt, dass eine grosse Ratte im Haupt-
rohr sitze, was sich bestätigte. A la bonne heure; aber das
konnte unserem Ingenieur allenfalls auch in der Stadt ein-
fallen. Und Dio Chrysostomus erzählt von einem ägypti-
schen Lautenschläger, der träumte, er werde vor einem
Esel spielen: der Esel war Antiochus, König der Syrer, der
zu seinem Neffen Ptolemäus nach Memphis gekommen war
und nichts von Musik verstand. Abermals ä la bonne heure;
aber wenn die Bilder des Traumes alle so vulgär wären,
so verlohnte es sich kaum davon zu reden. Nein, die
Sprache, deren sich der Träumende bedient, ist eine ganz
andere, von überraschender Originalität, sie erinnert an die
Sprache der Inspirierten, an die Ausdrücke der Dichter imd
Propheten. Wenn dem Pompejus vor der Schlacht bei
Pharsalus träumte, er trete ins Theater und das Volk
klatsche ihm zu, weil er die Venus (die Stammmutter des
Julischen Geschlechtes) mit Trophäen schmückte — wenn
Alexander Severus träumte, er werde auf eine hohe Warte
gefuhrt, wo er Land und Meer überschaute: er griff hinein,
wie in die Saiten einer Leier und Harmonien fluteten ihm
entgegen — oder wenn zur Zeit des Tiberius ein gewisser
Philippus von einem Adler träumte, der ihn mit seinen
Flügeln decke — das hiess sprechen, wie der Traum spricht,
Tiberius hatte Grund, den Kronprätendenten zu verbannen.
Nach Fredegar hatte der fränkische König Childerich,
der Vater des Chlodwig, als er sich mit Basina vermählte,
in der Hochzeitsnacht (A. D. 465) einen Traum, welcher die
Grösse seines Sohnes und die Leiden seiner Nachkommen
vorausverkündigte. Er träumte, er gehe hinaus in den Hof,
und der sei voll von Löwen, Leoparden und Einhörnern.
Er ging abermals hinaus, und siehe, da liefen Bären und
Wölfe durch den Hof Er ging zum drittenmal hinaus, da
— 63 —
balgten und bissen sich Tausende von Hunden und Katzen
untereinander herum. Die Deutung gab ihm Basina, die
thüringische Fürstin, die ihm zuliebe ihren Gemahl verlassen
hatte und Childerich zu den Franken nachgefolgt war. Sie
sagte ihm, er habe die Zukunft der Merowinger, des ersten
fränkischen Königshauses erschaut Zuerst, sagte sie, wer-
den die Könige allein mit einigen Grossen sein. Dann
wird der Mittelstand regieren; endlich das kleine Volk die
Macht an sich reissen. Der Traum passt auf alle Staaten,
die sich gemeiniglich von der Monarchie zur Aristokratie,
und von dieser zur Demokratie entwickeln. Aber wer
möchte sich bei dem Traume Childerichs nicht an den des
Propheten Daniel erinnern, der vier grosse Tiere, einen
Löwen, einen Bären, einen Parden und ein viertes Tier
nacheinander aus dem Meere heraufsteigen sah, welche vier
Tiere die vier Reiche bedeuteten, so auf Erden kommen
werden? —
Agariste, die Mutter des Perikles, träumte wenige Tage
vor der Geburt desselben, sie gebäre einen Löwen; vor der
Geburt des Königs Ottokar (1230) hatte seine Mutter einen
Traum, dass sie einen Wolf statt eines Kiiaben empfangen
habe. Dieser Wolf unterwarf sich das Böhmerland und
verschlang die benachbarten Länder mit Gewalt, aber über
diesen Wolf kam ein Löwe, zerriss ihn mit seinen Klauen
und nahm sein Gut. Und als Juana de Guzman mit dem
heiligen Dominicus gesegneten Leibes ging, träumte ihr,
sie bringe ein Hündchen zur Welt, das eine brennende
Fackel im Maule trage und damit die Welt erleuchte. Den
ähnlichsten Traum hatte Aletha, die Mutter des heiligen
Bernhard: bevor sie ihm das Leben gab, träumte ihr, sie
trage ein Hündlein unter ihrem Herzen, welches bis auf
den schwarzen Rücken ganz weiss sei und mit allem Eifer
belle. In ihrer Angst erholte sie sich Auskunft bei einem
frommen Manne, der sie getrost sein hiess: sie werde einen
Sohn gebären, der ein treuer Wächter der Kirche sein imd
seine Stimme mit Macht gegen ihre Feinde erheben würde.
— 64 —
Diese Schwangeren, die im Traum statt der Kinder Löwen,
Wölfe \md bellende Hunde im Mutterschoosse tragen, haben
sie nicht den Geist des Propheten Ezechiel, der den Thron-
wagen Jehovahs von einem Menschen, einem Löwen, einem
Stier und einem Adler tragen lässt, was sehr frühzeitig
Veranlcussung zu den vier symbolischen Bildern der Evan-
gelisten gegeben hat? —
Lassen wir uns von Fredegar noch einen anderen
Traum erzählen. Der Frankenkönig Guntram, ein Mero-
winger, war A. D. 567 auf der Jagd. Am Rande eines
Baches ward gerastet: Guntram legte sein Haupt auf
das Knie eines Begleiters und schlief ein. Da kam aus
dem Munde des Königs eine Maus und wollte über das
Wasser. Der Begleiter hielt sein Schwert über den Bach,
das Tierchen lief darüber und schlüpfte in den nahen Berg
zu einem Loch hinein. Nach einiger Zeit kam es wieder
heraus, lief wieder über das Schwert und in den Mund des
Königs zurück. Die Maus war die Seele Guntrams ge-
wesen. Der König hatte geträumt, er gehe auf eiserner
Brücke über einen Fluss und in einen Berg, in dem ein
Schatz verborgen sei. Er Hess nachgraben, und es ward
in der That ein grosser Hort gefunden, von dem Guntram
ein Ciborium in die Kirche des heiligen Marcellus zu
Chälons sur Saone, seiner Residenz, stiftete. Dieses Cibo-
rium war noch zur Zeit Karls des Grossen zu sehen. So
lautet die merkwürdige Erzählung. Denn in der Mytho-
logie aller Völker wurde die vom Körper gelöste Seele
gelegentlich als eine Maus angesehen, wie man die Seele
andere Male als einen Schmetterling, als einen Vogel, als
eine Biene ansah; die unterirdischen Gänge der Mäuse
mochten sie zunächst als kleine Erdgeister erscheinen lassen,
inspiriert von der Witterung der Erde und begabt mit pro-
phetischen Kräften wie die Pythia. In dem Apollotempel
zu Chryse war eine Statue des Gottes mit einer Maus unter
seinem Fusse, und auf Münzen trägt Apollo eine Maus in
seiner Hand. Unsere eigene Sprache vergleicht nicht nur
— 65 —
die Muskeln mit Mäusen, sondern auch die im Kopfe gleich
Mäusen hin- und herschiessenden Gedanken, daher wir
sagen: Mäme im Kopf e haben. In der „Walpurgisnacht" lässt
Goethe der Schönen, mit welcher Faust tanzt, mitten im
Gesänge ein rotes Mäuschen aus dem Munde springen. So nahe
berührt sich der Traum des fränkischen Königs Guntram
mit der Symbolik der alten Griechen und mit allgemein
gebrauchten Bildern! —
Wie in der Religionspoesie aller Völker für gewisse
Gegenstände gewisse Symbole stehend geworden sind; wie
z. B. im Alten Testamente das Thor die Gerichtsstätte, der
Stuhl die könijgliche Gewalt, das Rau^ den Leib, der Adler s-
flügel den göttlichen Schutz bedeutet: so kann man sagen,
dass im Traume eine Art natürlicher, nicht erst zu erler-
nender Symbolik zum Vorschein komme und mit Notwen-
digkeit wiederkehre, sobald es sich um allgemein bekannte
und jedermann gegenwärtige Dinge handelt. Die Etrusker
sagten, einen Feigenbaum im Traume sehen, bedeute Glück.
Nun, unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum zu
sitzen^ war schon bei den Hebräern der Inbegriff von Frie-
den und Glückseligkeit. In einer der ältesten Erzählungen
und Deutungen eines Traumes, die wir kennen, bedeuteten
sieben Kühe und sieben Ähren sieben Jahre, und drei Weinreben
und drei Körbe je drei Tage; das Gebäck aber, welches die
Vögel aus dem obersten Korbe frassen, war der eigene
Leib des Bäckers. Nun, Tage, Monate und Jahre unter dem
Bilde einer Herde weidender Rinder oder unter dem eines
Büschels Kornähren vorzustellen, ist ganz im Geiste einer
Mythologie, die dem Helios auf der Insel Thrinacia eine
Herde von 350 Rindern zuerteilt; die den Hercules, wahr-
scheinlich ebenfalls einen Repräsentanten der Sonne, die
roten Ochsen des Geryon rauben lässt; die gewohnt ist,
die Tage des Jahres als Brüder und als rote, jeden Morgen
auf die Himmelsweide getriebene, nachts in den dunkeln
Augiasstall eingesperrte Rinder zu betrachten. Analog er-
scheint die Zahl der Lebensjahre eines Menschen bald unter
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. ö
— 66 —
dem Bilde einer Perlenschnui, bald unter dem einer Flotte.
Den zwei Gefangenen werden die Tag^ durch Gegenstände
bezeichnet, welche sich auf ihr gewöhnliches Tagewerk be-
zogen. Aber als Gegenstände des täglichen Lebens über-
haupt sind auch sie allgemein gebräuchliche Symbole. Man
erinnere sich, dciss dereinst das Orakel dem nach seiner
Heimkehr fragenden Feldherm den nahen Tod durch eine
zenHssene Weinrehe verkündete, und dass alle Sonntage im
Abendmahl Brot und Leib identificiert wird! —
Natürlich laufen neben diesen allgemein menschlichen
Symbolen persönliche, auf die individuellen Erfahrungen
und Anschauungen gegründete Bilder nebenher. Sextus
Quintilius Condianus und Sextus Quintilius Maximus waren
zwei zärtliche Brüder und in jeder Hinsicht ausgezeichnete
Männer, die unter den Antoninen lebten. Sie blieben im
Leben unzertrennlich, sie wurden auch im Tode nicht ge-
trennt: sie fielen beide zu gleicher Zeit cds Opfer der Grau-
samkeit des Commodus (A. D. 183). Vor ihrem Tode waren
sie zu Mallos in Cilicien. Hier verkündete das Traumorakel
des Amphilochus dem Condianus seine und seines Bruders
Ermordung durch einen Traum. Er sah dcis Herculeskind
(Commodus liebte es bekanntlich, den Hercules zu spielen)
die beiden Schlangen würgen. Condianus Hess sich den
Traum malen, das Gemälde sah Dio Cassius in Mallos. Der
Traum ist schön und treffend, aber es leuchtet ein, dass er
sich keines neuen, sondern eines alten mythologischen Bil-
des bediente, die Wahrheit kundzuthun ; und dass dieses Bild
nur einem Zeitgenossen des Commodus kommen konnte, der
in den Anschauungen der griechischen Mythologie lebte und
webte: zu einer zindem Zeit und unter einem andern Volke
würde Condianus sein Gesicht auch anders eingekleidet und
etwa stilisiert haben wie jenes Bild, das ich neulich an den
Mauern in London sah, und das für eine neue National-
zeitung Reklame machen sollte: ein Löwe zerriss eine
Schlange mit drei Köpfen, den Köpfen des Republikanis-
mus, des Aufruhrs und des Atheismus. Dasselbe lässt sich
— 67 —
I
von vielen Träumen sagen; nur wenige sind allgemein
menschlich, allgemein verständlich, vom Geiste der Zeit
völlig unabhängig. Wohlbekannt und öfters gedruckt ist
der Traum, welchen Friedrich Myconius, der deutsche Kir-
chenreformator, im Jahre 15 lo, sieben Jahre bevor Luther
die Reformation begann, in der ersten Nacht nach seinem
Eintritt in das Kloster zu Annaberg hatte. Der Apostel
Pavdus, welcher darin als sein Führer auftrat, hatte, wie
Myconius nach Jahren zu erkennen glaubte, Person, Gesicht
und Stimme Luthers. Ebenso bekannt ist der schöne, von
Vincenzo Viviani mitgeteilte Traum, den Galilei im Kerker
träumte; und der minder angenehme Traum, den der heilige
Hieronymus zu Antiochia hatte und der seiner Vorliebe
für heidnische Schriftsteller einen Zaum anlegte. Hierony-
mus sah sich im Geiste vor dem Richterstuhle Gottes. Auf
die Frage, wer er sei, antwortete er: ein Christ. Aber da
hiess es: Du lügst j ein Ciceronianer bist du, denn wo dein Schatz
ist, da ist auch dein Herz; und er bekam Prügel mit so un-
barmherziger Deutlichkeit, dass beim Erwachen der ganze
Leib mit Schwielen bedeckt war. Von da an las er nie mehr
einen Klsissiker zum Vergnügen. Um solche Träume zu
haben, muss man eben ein Myconius, ein Galilei und ein
Hieronymus sein, ihre eigentümliche Bildung und Geistes-
disposition besitzen. Anderseits bringen Krankheiten eine
abnorme individuelle Disposition hervor, die Kranken
schauen oft ihre eigenen Zustände unter seltsamen Bildern
an. Schubert erzählt von einer kranken Jungfrau, die vor
jedem neuen Anfall ihrer furchtbaren Krämpfe von einem
tiefen Wasser träumte, ja, die aus der Beschaffenheit des
letzteren die Stärke und die Dauer des Anfalls mit Sicher-
heit vorausbestimmen konnte: je schwerer das Leiden sein
sollte, um so dunkler und tiefer war das Wasser. Fieber-
kranken kommt es nicht darauf an, einen Kamm in ein
Reitpferd, den Arzt in ein Einmaleins, die Ewigkeit in
einen Bücherschrank zu verwandeln; Störungen des Herz-
schlags und des Blutumlaufs spiegeln sich in einer unter-
5*
— 68 —
brochenen, kreuz- und quergehenden Wagenfahrt, ein Bild
des hohlen Herzmuskels und seiner unruhigen Bewegung;
dazu treten oft Bilder von Flammen, die auf das Blut hin-
weisen. Die Lunge wird, wenn die Respiration gestört ist,
unter dem Bilde eines Ofens angeschaut, der raucht und
knisternde Funken sprüht; bei Verdauungsstörungen sehen
bisweilen die Menschen ihre Eingeweide als Labyrinthe von
Gängen und Gässchen, die Därme als einen Schlangen-
knäuel und die Harnblase als gefüllte Kanne. Bereits Arte-
midor erwähnt, dass ein Elranker im Traume nach heissenden
Mohren und nach Sternenblut verlangte und dass er schw^arze
Pfefferkörner und Tau damit meinte. Das sind dann keine
nationalen Eigentümlichkeiten mehr, sondern persönlich
kapriziöse Wendungen und Idiosynkrasien; man kann sie
mit den Lieblingsphrasen und den Idiotismen vergleichen,
die jedem von uns Charakter und Lebensstellung anwirft
und die wie ein unverständliches Argot auf den gemein-
samen Hintergrund der Sprache aufgetragen werden.
Es verlohnte sich nun wohl der Mühe, zunächst jene
allgemeinen Symbole des Traumes zu untersuchen, die den
Visionen des Ezechiel und den Orakelsprüchen Apollos
analog sind; und es wäre nicht absurd, ein Lexikon der
Traumsprache aufzustellen, wie man ein Lexikon der
Kawisprache hat. Wie bei einem Wörterbuche könnte
man die Symbole, respektive die Worte, welche sie be-
zeichnen, alphabetisch ordnen, erklären und ins Deutsche
übersetzen. Dieses Wörterbuch würde von allen- Menschen
zu brauchen sein, denn da wir alles Nationale und Persön-
liche ausschliessen und nur solche Traumbilder aufnehmen,
die sich durch die Jahrhunderte und durch die Landes-
grenzen nicht verändern; die der Europäer von heute so
gut empfangen kann, wie der alte Grieche und der Zeit-
genosse Artemidors, weil diese Symbole an der Natur
hangen wie Lachen und Weinen: so gliche es in Wahrheit
einem Weltsprachwörterbuch. Und damit man sehe, "v^e
ich mir ein solches Wörterbuch denke, will ich gleich ein-
— 69 —
mal ein paar Artikel zur Probe ausarbeiten; auf das Alpha-
bet kann es uns dabei nicht ankommen.
Von den Redensarten des Traumes, die durch die
ganze Welt gehen, wollen mir eben folgende einfallen.
Perlen. Ich könnte ihn gram sein^ diesem Geschmeide, sagt Emilia Galotti,
wenn es nicht van Ihnen wäre. Denn dreimal hat mir von ihn ge-
träumt, als ob ich es trüge, und als ob sich plötzlich jeder Stein desselb'en
in eine Perle verwandelte, Perlen aber, meine Mutter, Perlen bedeuten
7hränen, Ich weiss nicht, ob das Emilia von der Gemahlin des Königs
Heinrich IV., der am 13. Mai 16 10 von RavaiUac ermordet ward, ge-
lernt hat. Den König verfolgte das Gespenst des Messers^ wie Wallen-
stein sagt, unmittelbar; Maria von Medici sah ihre Thränen (deren sie
in Wahrheit wenig vergossen haben soll) symbolisch voraus. Die Königin
sollte bekanntlich während des Jülichschen Krieges die Regentschaft
führen und deshalb am 12. Mai 1610 gekrönt werden. Am 10. Mai
hatte sie dem Juwelier noch zwei grosse Diamanten in die Krone zu
setzen gegeben. In der Nacht vom 10. zum 11. Mai träumte sie nun,
diese beiden Diamanten verwandelten sich in Perlen. Charakteristisch ist
die Verwandlung, denn an sich bedeuten Perlen und Edelsteine eher
Kinder, die wie Schmuck am Halse der Mutter hängen, man denke an
Cornelia, die Mutter der Gracchen.
Blutstropfen im Schnee. Wie Parzival (sechstes Buch) zu Artus' Hofe
reitet, haben die Falkner des letzteren eben einen Falken verloren, der
eine Gans verwundet, dass ihr Blut auf den Schnee tropft. Beim Anblick
der drei Blutstropfen im Schnee versinkt Parzival in träumerisches Sinnen
und süsses Andenken an seine Gattin Condwiramurs. Er gedenkt der drei
Thränentropfen auf ihren Wangen und ihrem Kinn; in weiter, wilder
Welt überfällt ihn mit einem Male unendliches Heimwdi wie ein schwerer
Traum. An derselben Stelle aber, wo er die Blutstropfen gesehen, ist
später das Zelt aufgeschlagen, wo er die Gattin wiedersieht und wo er
sie mit den Zwillingen, die er noch nie gesehen, in einem Bette schlafend
antrifft. So erkennen wir, sagt Jakob Grimm, Träume und Gedanken
der Kindheit wieder, wenn sie uns lange hernach im Leben eintreffen, oder
wie ein alter Mann, als er die au/gehende Sonne anschaut, sich heimlich
besinnt, dass er sie schon einmal ebenso als ein Kind, sitzend auf einem
Hügelchen, und seitdem nicht wieder so betrachtet hat: er weiss, dass sie
vor ihm geschienen, ehe er zur Welt geboren wurde, und denkt daran,
dasi sie bald auf sein Grab scheinen wird. Das Bild von den Blutstropfen
im Schnee ist ein uralt mythischer Zug (Schneewittchen, Machandelbaum).
Zähne. Schon Artemidor hat aufgestellt, was noch jetzt vom Volke allgemein
g^laubt wird: dass das Ausfallen eines Zahnet im Traume den Tod
eines nahen Verwandten anzeige. Der Mund ist das Haus, die Zähne
sind die Hausbewohner, die auf der rechten Seite die männlichen, die
— 70 —
auf der linken Seite die weiblichen. Man kann damit vergleichen , dass
Leute, die Zahnschmerzen haben, im Traume häufig halbkreisförmige
gewölbte Säle als Bilder der Mundhöhle und hellblonde Knaben und
Mädchen als Bilder der Zähne sehen. Der Verlust eines Zahnes bedeutet
also den Verlust eines Gliedes der Familie, daher auch das Ausfallen
des Zahnes im Traume oft von lebhaftem Schmerz begleitet ist. Viel-
leicht dass sich darauf das italienische Sprichwort bezieht: Doglia Ji
dente doglia dt parente. Nach Anderen: beide Schmerzen vergehen schnell.
Dornen bedeuten Hindemisse, Kummer und Sorgen, wie Ketten eine unange-
nehme Verwickelung. Den bevorstehenden Verlust einer geliebten Person
stellt der Traum wohl auch in der Weise dar, dass man ihr ängstlich
und doch vergeblich durch lange Korridore nachläuft. Der Traum der
Gräfin Terzky im Wallenstein ist von Schiller aus einem sehr richtigen
Gefühl dieser Symbolik heraus erfunden worden.
Eier, Nach Artemidor bedeuten sie in geringer Zahl Gewinn. Cicero erzählt,
einer habe geträumt, dass er ein rohes Ei ausschlürfe. Er befragte den
Traumdeuter, der sagte: das Ei weiss bedeute Silber, das Eidotter Gold.
In der That machte er kurz darauf eine Erbschaft, die ihm das eine und
das andere einbrachte. Er bedankte sich beim Traumdeuter und gab ihm
ein Silberstück. Der Wahrsager meinte: Und für das Dotter gibt's
nichts ? Nihilne de vitello? — Dieselbe Geschichte wird noch von Johannes
Pauli erzählt {Schimpf und Ernst, 394).
Kinder: Kleine Kinder bedeuten etwas Unangenehmes, Arger, Kummer und
Sorgen. Vielleicht weil wirkliche Kinder dergleichen bedeuten. ^H öioq
ij kvni] TtaXq Ttaz^l ndvxa XQovov,
Leichen. In ihnen vericörpert sich ein Vorgefühl des Eintritts von Regen.
Unerklärt.
Pferd. Ein Bild der Geliebten; je gehorsamer das Pferd ist, um so mehr
darf der Mann hoffen. Kriemhild sieht ihren künftigen Bräutigam im
Traum als einen Falken, den sie aufzieht (Nibelungenlied I).
Feuer. Reines, glänzendes Herdfeuer ist von guter Vorbedeutung. Manche
Menschen träumen von Feuer, wenn in der Familie eine Verlobung vor
sich geht. Vielleicht eine Reminiscenz der antiken Hochzeitsfackeln?
Das Fliegen im Traum wird aus Lungenreizen erklärt, das Auf- und Nieder-
schweben in der Luft soll ein Symbol des Ein- imd Ausatmens sein.
Die höchst angenehme Vorstellung ist aber vielmehr, wie ich selbst er-
fahren habe, eine Vorbotin von Erfolg.
Kot bedeutet Gold. Gold und Kot sind Gegensätze, daher sich auch Teufels-
geld der Sage nach in Dreck verwandeln muss. Eine Eigentümlichkeit des
Traumes ist es aber gerade, Gegenteil für Gegenteil zu setzen. So be-
deutet es Krankheit, wenn man jemand geputzt sieht, Zank, wenn man
sich lieb hat, und so ist lebhafte sinnliche Freude im Traume nicht selten
eine Vorbotin von Schmerzen: Vae tibi ridenti, quia mox post gaudia ßebis.
— 71 —
Das wird ja ein Traumbuch! — höre ich ausrufen. Ein
Traumbuch, wie man es auf Jahrmärkten und in den öster-
reichischen Tabaktrafiken bekommt oder in Leipzig unter
den Bühnen liegen sieht! — Ja, warum denn nicht? Weil
es schlechte Ware gibt, darum braucht man an der guten
nicht zu zweifeln, und wie das Sprichwort sagt: Äbiistis non
tollit tisum. Artemidor hat auf den Antrieb des Cassius
Maximus, eines Mannes von senatorischem Stande, und auf
das Geheiss Apollos, der ihm sichtbarlich erschienen war,
geschrieben. Ich bleibe dabei: der Traum verdient wie der
grösste Dichter interpretiert zu werden, es kommt nur dar-
auf an, die Handschrift festzustellen. Die Ausschreitungen
und die Betrügereien der Traumdeuter sollen natürlich
nicht geleugnet werden, eine der sonderbarsten ist wohl
die, in den Traumbildern Lottonummem, natürlich glück-
liche, zu sehen, was noch heutzutage die Italiener thun,
daher ein Libro de' Sogni hier zugleich ein Eco della Fortuna
oder ein Älhergo della Fortuna, aperto ai giocatori del Lotto ist.
Eben als der tiefsinnige Artemidor von Aldus Manutius
(151 8) in Venedig herausgegeben und (1548) von Gabriel
Jolitus ebendaselbst ins Italienische übersetzt worden war,
kam in dieser Stadt die Lotterie auf, imd nun wurde die
Traumdeutung in eine ganz falsche Bahn geleitet. Die
Venetianer fingen an, ihre Träume in Lottonummem zu
übersetzen, und bald fand sich auch ein Pseudo-Artemidor,
der die Traumerscheinungen hübsch alphabetisch aufzählte
und zu jeder einzelnen die richtige Nummer schrieb. Wetin
einer im Traume die Nummern 45 und 87 sieht, eiferte ein
Prediger des vorigen Jahrhunderts, gleich läuft er hin, die
beiden Nummern zu setzen und seine paar Pfennige zu verthun.
Er war kaum von der Kanzel herunter, so trat ein altes
Mütterchen zu dem Geistlichen und fragte: Ew. Hochehr -
würden, toie waren die beiden Nummern? —
Signora Adalgisa sieht im Traume einen Bekannten,
der sich vor einem Jahre in Monaco erschossen hat. Sie
sieht ihn bleich, im Hemde, als ob er zu ihr sprechen
— 72 —
wollte. Dies ergibt zwei Nummern: erstens die Nummer
74, welche dem BegriflFe eines Selbstmörders entspricht; zwei-
tens die Nummer 2, welche dem Begriffe eines Hemden-
matzes entspricht. Und hab ich was gesagt? Am nächsten
Sonnabend kam eine Ambe von 74 und 2.
Signora Adalgisa war jedoch selbst in Zweifel, sinte-
mal auch ein Geist ^ der spricht, und ein trauriges Gesicht
angezeigt sein konnte, was 47 und 39 ergeben hätte.
Die Symbolik der Zahlen steckt den Italienern über-
haupt tief im Blute. Auf die Träume bemächtigte sie sich
auch des Lebens und dessen, was die alten Römer nach
dem obigen als Augurium angesehen haben würden. Jedes
Tagesereignis, jedes durchgehende Pferd, jeder herabfallende
Blumentopf, jede entsetzliche Blutlache, kurz alles, alles
\vird in Ziffern übersetzt und die Ziffer beim Botteghino ge-
setzt. Eine Römerin kommt dazu, wie einer überfahren
wird und ihm Blut aus dem Munde strömt. Mund ist 80,
Blut 18, sie setzt also die Ambe 80 und 18. Als Pius IX.
gestorben war, spielte das ganze kleine Volk in Rom die
sogenannten Papstnummern: 7, 32, 58 und 86, nämlich den
Todestag, die Regierungsjahre, die allgemeine Papstnummer
und die Lebensjahre.. Die Regierung machte eine unge-
heure Einnahme, denn keine einzige dieser vier Nummern
kam heraus.
Vor zwei Jahren wütete in Neapel die Cholera. Die
Cholerakommission besuchte die Kinderasyle und ordnete
Desinfektionen an. Wie rasend stürzten die unwissenden
Mütter herzu, denn sie glaubten, es ginge ihren Eandem
ans Leben. Daraus ergaben sich nun folgende Gleichungen:
Kinder = 8.
Mutter =52.
Furcht = 90.
Man setzte also in Neapel die drei Nummern, sie kamen
wirklich heraus, und es wurden an einem Tage (19. Sep-
tember 1884) hierselbst vier Millionen gewonnen, welcher
Gewinnst, nebenbei gesagt, unmässiges Essen und Trinken
— 73 —
und in den nächsten vierundzwanzig Stunden ein aber-
malig"es Steigen der KrankenzifFer zur Folge hatte.
In Wien ist es nicht viel besser. Im Mai vorigen
Jahres war hier, in dem Hause Nr. 72 der Burggasse eine
dreiundachtzigjährige Witwe ermordet und ihre Dienerin
und Nichte der That bezichtigt worden. In der Tasche
dieser Person wurde ein Lottozettel mit den Nummern 83,
72 und 47 gefunden. Die Zahlen 83 und 72 bezogen sich
offenbar auf die ermordete Frau und ihre Wohnung, die
Zahl 47 aber bedeutet im Argot des Volks Tod und Lehen,
Es stellte sich femer heraus, dass die Einlage auf die drei
Nummern im Lottogeschäft am Tage des Mordes, den 1 1. Mai,
zwischen 7 und 9 Uhr geschehen, dass die Mörderin dem-
nach sogleich nach der That in die Kollekte gegangen war,
um die Mordnummern zu setzen. Dieselben Nummern
sollen später hoch von zahlreichen andern Personen gesetzt
worden sein. In demselben Wien schreiben sich die Ha-
bitues der Gefängnisse regelmässig die Nummern ihrer
Zellen auf, um dann in der Lotterie darauf zu setzen*
Das sind nun allerdings krankhafte Auswüchse nicht
bloss der Symbolik des Traumes, sondern der Symbolik
überhaupt und der antiken Divination. Die Zahl ist freilich
nach Pythagoras das Wesen der Dinge, über den geheim-
nisvollen Zusammenhang der Zahlen und Begriffe haben
die Pythagoreer und die jüdischen Kabbalisten viel geklü-
gelt, es ist bekannt, dass die Zahl Drei die Signatur des
göttlichen Wesens ist, dass die Zahl Fünf beim Pythagoras
die Yollkommenheit y die Gesundheit und den Bund der Ehe
darstellt und dass in der Offenbarung Johannis durch die
mysteriöse Zahl 666 der Kaiser Nero angedeutet wird.
Etwas von der Weisheit des jüdischen Mittelalters mag in
der That in die italienischen Traumbücher übergegangen
sein. Die ganze Methode liesse sich auch allenfalls recht-
fertigen, wenn überhaupt bloss den Zahlen nachgespürt
würde, welche den Traumbildern entsprechen. Dass aber
die Zahlen Glücksnummem sein und in der nächsten
- 74 —
Ziehung gewinnen sollen, das ist das Lächerliche und der
Glaube daran ein Beweis für die grenzenlose Dummheit
des Menschengeschlechts.
Wie der sterbende Laplace sagte, als die Umstehenden
seiner grossen Entdeckungen gedachten: Ce que nous con-
naissons, est peu de ehose; mais ce que' nous ignorons, est immense.
V. Schottisch.
Die Sprache der Hochschotten — das Zweite Gesicht — dasselbe eine allge-
mein menschliche Offenbarung und eine Sprache Gottes wie der Traum — Hans
von Einsiedel und Apollonius von Tyana — Unterschied zwischen Träumen und
Visionen — letztere erinnern an mythologische Schöpfungen — dämonische
Kräfte, die hinter der Natur geahnt werden — die Schuld des Baron von Neu-
hof — die wahre Schuld — das weibliche Geschlecht das Leibgeschlecht omi-
nöser Erscheinungen — Dion und Brutus — dämonische Weiber — nichts ist
so dämonisch als das Weib — Flüche, Sünden, Krankheiten als Frauen ange-
sehen — der Tod uud die Weisse Frau — die vier Apokalyptischen Reiter —
der Apostel Petrus als Todesbote — der Dämon in eigener Gestalt — Schutz-
engel und Genien — göttliche Stimmen im Leben religiöser Personen — der
Dämon kann unsere eigene Gestalt annehmen und zum Doppelgänger werden
— es sind entscheidende Momente, die den inneren Gott veranlassen zu sprechen
— slete soddisfatto?
Die Sprache der Hochschotten, das sogenannte JSrse, ist
bekanntlich im Untergang begriffen. Das Irische weicht zu-
sehends vor dem Englischen zurück, die jungen Hochländer
vollenden ihre Erziehung jenseits des Tweed und verstehen
die Gesänge Ossians, die Hirtenspiele Allan Ramsays und
die romantischen Lieder, welche Robert Bums hinter seinem
Pfluge in der Mundart des Volkes gedichtet hat, ohne
Wörterbuch nicht mehr. Nur auf den Hebriden, den west-
lichen Inseln, bedienen sich die Bewohner noch jetzt des
alten irischen Idioms; und hier ist es auch, wo der englische
Schriftsteller Samuel Johnson bei .seiner schottischen Reise
im Jahre 1773 die Spuren einer andern, noch nicht erlosche-
nen Nationalsprache aufgefunden hat. Derjenigen, die nach
seinem Vorgange in ganz Europa das Zweite Gesicht,
^ J
— 75 —
the Scottish gift of second sight
genannt wird. Man nennt es wohl auch Schattengesicht
und (in Norddeutschland) Schichtgesicht; und versteht dar-
unter im allgemeinen Visionen im wachenden Zustande, wie
sie die Hochschötten häufig haben. Klima, Lage, Vergan-
genheit mögen sie dazu vorzüglich befähigen — in der
Fingalshöhle von StafFa oder auf den Ruinen der heiligen
Insel Jona glaubt der Reisende selbst Geistergesänge und
Totenglockengeläute zu vernehmen. Macbeths Enkel weiss
es, wenn jemand sterben muss. Mitten in der Nacht steht
er auf und tritt vor das Haus, da geht ein Leichenzug vor-
über. Er kommt bei der Kirche vorbei und thut einen
Blick hinein, da ist in derselben Mackenzie aufgebahrt. Er
macht einen Spaziergang und will einen Felsen hinan, da
sieht er sich selber mit verkehrtem Plaid oben stehen und
bereitet sich zum Tode vor. Unser Macbeth sieht in die
Nähe und in die Feme und nicht bloss vorwärts, sondern
auch rückwärts, was Schopenhauer a retrospective second sight
genannt hat. Er sitzt am Ufer des Loch Lomond und hört
den Kelpy wiehernd das Wasser stampfen: an der Stelle,
wo das geisterhafte Ross erscheint, wird nächstens ein
Mensch ertrinken. Er fährt über den Atlantischen Ozean
nach Saint John in Kanada; während der Fahrt trifft er
auf einmal in der Kajüte einen völlig fremden Mann, der
die Worte auf den Tisch schreibt: Steuert nach Nordwesten!
— Gleich St. Patrick, dem von einem Schiff geträumt hat,
das ihn erwartet, ändert er den Kurs und siehe, wie sie
nach Nordwesten steuern, stossen sie auf ein verunglücktes,
nach Quebec bestimmtes Schiff, das mitten im Eise steckt
— unter den Verunglückten ist der Mann, der heute Mit-
tag zu Besuch auf Macbeth's Schiffe war, der die obigen
Worte auf den Tisch schrieb und der um diese Zeit schla-
fend in seiner Koje lag — es ist auch ein Schotte — —
Johnson, der gerne der Schotten spottet und sich dar-
über lustig macht, dass den Hafer in England die Pferde,
in Schottland die Menschen essen, meinte einst auf die
— 76 —
Frage, ob der Mensch seine Existenz frei wählen könne,
oder ob ihn Gott dazu zwingen müsse: solVs ein Engländer
tveräen, so wird er sich die Existenz wählen j solVs aber ein Schotte
oder ein Irländer werden, so wird ihn Gott zwingen müssen f —
Aber Gott zwingt die Schotten nicht allein zu existieren, er
zwingt sie auch wie Kassandra zu sehen und zu hören,
ihr Urteil in rollenden Wolken zu vernehmen, ihr unab-
wendbares Schicksal in feurigen Lettern an der Felsenwand
zu lesen. Schweres hast du ihnen beschieden, Pythischer,
du arger Gott, der du leise in ihnen sprichst! — Es ist in
der That für unsere Auffassung der Sache völlig gleich-
gültig, ob wir diese wundersame Sprache einem äusseren
oder einem inneren Gott zuschreiben, der dem Seher gleich-
sam seine Allwissenheit zeitweilig leiht und den wir viel-
leicht nur der Bequemlichkeit halber statuieren, wenn wir
nur überhaupt darüber einig sind, die Verleihung der pro-
phetischen Vision abermals als eine Sprache zu betrachten,
durch welche etwas offenbart und mitgeteilt werden soll.
Um diesen Gesichtspunkt nicht aus dem Auge zu verlieren,
müssen wir uns immer wieder das über die Augurien und
die Träume Gesagte vergegenwärtigen. Gott sendet dem
Menschen einen wirklichen Vogel und zeigt ihm in dem-
selben bildlich sein zukünftiges Schicksal an. Hier spricht
Gott im Sinne der Alten durch ein Augurium. Dann sendet
er ihm zu demselben Zwecke ein Traumbild; hier spricht
er die Sprache des Traumes, die wir eben erörtert haben.
Jetzt endlich sendet er ihm ein Gesicht, und das ist die
letzte göttliche Sprache, auf die wir in Schottland aufmerk-
sam geworden sind — ich wiederhole, wer sie eigentlich
spricht, ob Gott, ob ein prophetischer Geist in unserer Brust,
ist gleichgültig; es genügt, dass die Sprache besteht, ge-
redet, gehört, gefürchtet wird.
Und nicht in den schottischen Hochlanden allein; diese
neue geheimnisvolle Sprache, die aus einer anderen Welt
zu uns herübertönt, gehört nicht zum Keltischen. Sie ge-
hört vielmehr zu einer Offenbarung, die Menschen aller
— 77 —
Zeiten und aller Rassen empfangen haben. Ein rätselhaftes
Ereignis wird aus dem Jahre 1670 von dem Besitzer von
Lobstädt xmd Grosszössen, Hans von Einsiedel, erzählt,
der wegen Geistesstörung unter Kuratel gestellt und zur
genaueren Beaufsichtignng und besseren Pflege von seiner
Familie auf dem Schlosse Hohenstein untergebracht worden
war. Am 20. April genannten Jahres liess er den dasigen
Amtmann Hanitzsch zu sich rufen, mit dem Bedeuten, dass
er ihm etwas mitzuteilen habe. Als der alte Hanitzsch ein-
trat, fragte ihn Hans von Einsiedel, ob nichts Neues passiert
sei. Auf die Antwort des Amtmanns, dass er nichts wisse,
wies der Patient auf seinen Tisch, worauf mit Kreide ge-
schrieben folgende Verse standen:
Curt Löser dauert mich, was aber kann ich machen?
Gott habe seine Seel — doch miiss ich drüber lachen,
Er sass auf meinem Dache
Und girrte wie ein Drache.
Er hat mich so bethöret,
Curt hat nun ausgezehret.
«
Curt Löser war damsils kursächsischer Erbmarschall
und ein sehr mächtiger Mann. Merkwürdiger Weise war
er an demselben Tage und in derselben Stunde, wo dies
auf Schloss Hohenstein geschah, gestorben. Noch merk-
würdiger aber war es, dass es sich von dieser Zeit an mit
Hans von Einsiedel dergestalt besserte, dass er die Ver-
waltung seiner Güter Lobstädt und Grosszössen wieder selbst
übernehmen konnte. Er starb zu Lobstädt im Jahre 1695.
Nun, waren jene Verse etwa weniger merkwürdig, als
die obigen Worte : Steuert nach Nordwesten! auf dem Tisch
in der Kajüte? — Oder um ein anderes berühmtes Gesicht
aus dem klassischen Altertum anzuführen; am 18. Septem-
ber des Jahres 96 wurde der Kaiser Domitian von dem
Freigelassenen Stephanus ermordet. In der Stunde, wo er
fiel, soll Apollonius von Tyana, der bekannte Zeitgenosse
von Christus, der damals in Ephesus war, über den Markt-
platz gelaufen sein und ausgerufen haben: So ist^s rechte
— 78 —
Stephanm, erscJdage den Mörder! — Nun, das war abermals
eine echt schottische Vision. Ja, die Sprache des Zwdten
Gesichts entwickelt anderwärts eine noch höhere Poesie —
die tiefsinnige Poesie des Traumes mid die überraschende
Symbolik, die Joseph in Ägypten gedeutet hat; gleich dem
Traume versteckt sie die Thatsachen in wunderbare Bilder.
Aber die Sinnbilder, die der Weissagegott im Zweiten Ge-
sichte wählt, sind andere als im Traume: seine Ausdrucks-
weise ist eine ganz eigene, ausserordentliche.
Ein bemerkenswerter Unterschied besteht zwischen
Träumen und Visionen, wie wir sie bereits im Altertume
finden. Nicht sowohl der, dass jene im Schlaf, diese im
Wachen zu erfolgen pflegen: dieser Unterschied trifft durch-
aus nicht das Wesentliche, ja, man könnte versucht sein,
einzelne Traumbilder geradezu für Visionen des Zweiten
Gesichtes zu erklären und umgekehrt. Es kommt auf die
Art und den Wert der Bilder an. Der Traum ist ein Poet,
der in Märchen und Gedichten erkennt die ew'gen Welt-
geschichten. Er ist gleichsam ein guter Übersetzer: er
übersetzt die Dinge in Symbole, indem er aus Thränen
Perlen, aus den Hausbewohnern Zähne, aus Verlobungen
Hochzeitsfackeln macht. Die Gebilde des Zweiten Gesichtes
erinnern dagegen an mythologische Schöpfungen oder an
die Ariel und die Calihan in Shakespeares Sturm: es sind
neue persönliche Wesen und übernatürliche Gestalten. Hin-
ter der Natur wird eine dämonische Kraft geahnt, sozu-
sagen aus ihr herausgebildet und leibhaftig angeschaut
Die Halligen werden von Sturmfluten überwogt — der
Blanke Hans klopft ans Fenster, sagt man. In dem Wasser
wohnt der Nix, im Feuer der Salamander, in der Luft
der Elf, im Erdinnem der Zwerg, auf dem Czemebog
der Schwarzgott, auf dem Triglav der Zlatorog — genau
so, wie in dem schottischen See der Kelpy oder nach dem
Glauben der Irländer auf Felsvorsprüngen in Adlergestalt
der Fhooka wohnt. Diese elementaren Wesen sind es, die
den Menschen zu holen scheinen, wenn einer in ihrem Be-
— 79 —
reich verunglückt; sie sind es, die dem Auge des Visionärs
erscheinen, wenn ein Mensch verunglücken soll — sie re-
sümieren gewissermassen das bevorstehende Ungeheure und
rufen das Opfer ab, das ihnen verfallen ist. Ja, dergleichen
Mächte werden vom Volksgeist nicht bloss in den Ele-
menten, sondern in der Natur und im Leben überhaupt
empfunden. Hinter allem, was ihn umgabt und zu seinem
Schickal in Beziehung steht, ja, in seinem eigenen Hause
und Schiffe erblickt der Heide eine Art von Gottheit, ein
Phantom, das ihm ähnlich ist; je nach Umständen und je
nach der besonderen Richtung der Phantasie entstehen
Geister, Alben, Walküren, Riesen, Kobolde, Klabauter-
männer, Wichtelmännchen und russische Domowoj§, die
bald vor Gefahren warnen, bald Unglück bringen, bald
wichtige Geheimnisse erschliessen; sie werden im Zweiten
Gesichte unbewusst und unwillkürlich eingeschoben, gleich-
sam mit Vollmacht ausgerüstet und zu Herolden bestellt,
daher erscheinen sie unerwartet, unvorhergesehen, wie
Himmelsboten oder wie Ungeheuer, die von der Hölle aus-
gespieen sind. In diesem Falle, Engel und Boten Gottes,
steht uns bei! — Furchtbar ist das Zweite Gesicht des
Schuldbeladenen: und ich meine hier nicht etwa bloss eine
Schuld, wie sie jeden Ehrenmann einmal belästigt, obwohl
auch eine solche fürchterlich werden kann. Dem Baron
von Neuhof, der als Theodor I. König von Korsika bekannt
ist, erschien 1743 zu Venedig ein dürres, blasses Gespenst,
Ketten und Stricke umgaben seine Glieder, und seine
Kleider waren zusammengesetzt aus Rechnungen, Schtdd-
scheinen, Vorladimgen und Mahnbriefen mit Latis Deo; es
zerbrach ihm Scepter und Krone und verschwand mit den
schrecklichen Worten: Ich hin die Schuld! Je suis la Dette! —
König Theodor war bekanntlich tief verschuldet Nun,
diese Art Schuld dürfte wohl eher wie ein Alp drücken,
als wie eine Furie verfolgen, aber wohl eine andere Schuld.
Das böse Gewissen spricht eine Sprache, wie sie der höchste
Richter am Tage des Weltgerichtes spricht — es trifft wie
— 80 —
ein Donnerschlag aus heitrem Himmel und stösst in eine
schreckliche Posaune — seine Gestalten haben die nieder-
schmetternde Gewalt des finstem Verhängnisses — während
der gerechte Mann sein Ende gelassen kommen sieht und
auch wenn er durch eine prophetische Stimme plötzlich daran
gemahnt wird, nicht erzittert, sondern den Tod betrachtet
wie der Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg: er
träumte, auf seiner Gruft in der Kirche zu Heilbronn sei
ein Engel umgefallen. Zwei typische Gegensätze sind in
dieser Beziehung Dion und Brutus. Aber ihre beiderseiti-
gen Gesichte haben auch an sich etwas Charakteristisches,
zunächst dcis Geschlecht.
Der Kaiser Severus begegnete einem Negersklaven,
der einen Cypressenkranz trug; er erschrak als über ein
böses Vorzeichen und liess den Menschen entfernen. Er
wäre vielleicht noch mehr über eine Negerin erschrocken,
denn das weibliche Geschlecht ist gleichsam das Leibge-
schlecht ominöser Erscheinungen, auf dem Gefühl für diesen
ominösen Charakter des Geschlechts mag es beruhen, wenn
man sich nicht nur im allgemeinen vor alten Weibern fürch-
tet, sondern in Italien auch einer Jungfrau beim ersten Aus-
gang nicht gern begegnen mag, nur ein lüderliches Frauen-
zimmer bringt Gewinn; ja, wenn, wie wir gesehen haben,
in Amerika zu Anfang einer Jagd nicht einmal ein weib-
liches Tier geschossen werden darf. Die Frauen mit ihrer
Nervosität, mit ihrer leidenschaftlichen Energie, mit ihrer
blinden Abhängigkeit von einem höheren Willen, man kann
dcLzu setzen, mit ihren langen Haaren und mit ihrer Schön-
heit selbst — haben für den schlichteren Mann etwas Be-
rückendes, Zauberhaftes, Hexenartiges; und nicht selten
etwas von einem bösen Geiste. Sie sind unzähligemal in
Wirklichkeit die bösen Genien des Mannes gewesen, ich
will nur zum Beispiel an Antonius und Kleopatra erinnern:
so nehmen die bösen Genien der Menschheit umgekehrt
unzähligemal die Gestalt von Frauen an; denn nichts ist
so dämonisch wie das Weib. Von jeher hat das Volk den
— 81 —
unheimlichen Wesen, die es^als Ursachen von Verderben
und Krankheit betrachtete, gleichsam als ihren spezifischen
Charakter, den Charakter der Weiblichkeit verliehen. Die
hässlichen Harpyien, Personifikationen der Sturmwinde, die
gespenstischen Lamien, die in den Ammenmärchen der
Griechen, bis zur Gegenwart fortleben, die blutsaugenden
Strigae, gleich der hebräischen Lilith, vermenschlichte Eulen:
werden alle in Frauengestalt gedacht, so allgemein, dass
sich aus dem letzteren Wort in Italien und Griechenland
geradezu der Begriff Hexe' entwickelt hat Und wiederholt
müssen wir hervorheben, dass es nicht bloss alte Frauen,
sondern überhaupt Frauen, oft sogar Jungfrauen sind,
welche als Unholdinnen Menschen und Götter schrecken.
Die Gorgonen, die Eumeniden sind Jungfrauen, was sage ich,
schöne Jungfirauen, aber von grauenhafter Schönheit. Wer
kennt nicht aus seinem Homer die Ate, die personifizierte
Verblendung, die bethörend über den Häuptern der Götter
und Menschen wandelt, die sie unbesonnen zu Schuld und
Sünde fortreisst und hinter der dann langsam die lÄtaSj die
reuigen Bitten kommen, um wieder gut zu machen, was die
Ate geschadet hat? Bei den tragischen Dichtem, zumal bei
Äschylus, erscheint sie in einem anderen Lichte: sie rächt
wie eine Nemesis oder eine Erinys das Verbrechen und ver-
hängt die gerechte Strafe. Erinyen, furchtbares Wort! Die
Erinyefi sind die Flüche, die Flüche von Vater und Mutter,
die dem Herzen die Ruhe nehmen, das Familienglück zer-
stören, der Nachkommenschaft berauben; die Flüche, die,
mit Shakespeare zu reden, himmelan steigen und Gottes sanft
entschlafnen Frieden wecken. Auch sie werden also von den
Griechen als Jungfrauen vorgestellt. Hesiod nennt sie die
Töchter der Erde, aus den herabfallenden Blutstropfen des
Uranos empfangen. Keine Bitte, kein Opfer, keine Thräne
vermag sie zu erweichen oder den Verfluchten vor ihrer
Verfolgung zu schützen: sie jagen ihn wie. Hunde, und
wenn sie fürchten, er könne ihnen entschlüpfen, so rufen
sie die Dike oder die Gerechtigkeit zu Hilfe. In ihrem
Klein paul, Sprache ohne Worte. ^
— 82 —
Äussern gleichen sie den Gorgonen — schwarze Kleidung,
das Haar mit Schlangen durchflochten, bluttriefende Augen;
spätere Dichter beschreiben sie als geflügelt. Auf der
Bühne erschienen sie in milderem Charakter, als ernste,
feierliche Jungfrauen in reichem Jagdkostüm, mit einem
Schlangenband um den Kopf und Schlangen oder Fackeln
in der Hand.
Wir dürfen uns nun nicht wundem, wenn das Zweite
Gesicht bei den Alten gelegentlich die Gestalt der Erinyen
entlehnte. Dion, der berühmte Syrakusaner und Freund des
Plato, hatte kurz vor seinem Ende und noch bevor er es
erleben musste, dass sich sein junger Sohn aus einer ge-
ringfügigen und kindischen Veranlassung vom oberen Stock
hinunterstürzte und tot blieb, eine wunderbare Erscheinung
(353 V. Chr.). Der Mann, dessen Charakter über Gebühr
gepriesen worden ist, sass gegen Abend in der Galerie
seines Palastes allein und in ein stilles, wehmütiges Nach-
denken versunken, als es plötzlich am Ende der Galerie
rumorte und er in der Dämmerung ein grosses Weib
erblickte, nach Art der Erinyen gebildet und gekleidet.
Die Frau kehrte mit einem Besen das Haus aus. Zu Tode
erschrocken und an allen Gliedern zitternd, Hess Dion seine
Freunde rufen, erzählte ihnen das Gesicht und bat sie, bei
ihm zu bleiben und die Nacht bei ihm zu verbringen. Er
war ganz ausser sich vor Angst, dass ihm, wenn er allein
wäre, das schreckliche Phantom noch einmal vor Augen
kommen könnte. Dieses Erlebnis ist um so merkwürdiger,
als es mit einer noch heute in Griechenland kursierenden
Vorstellung zusammentrifft. Nach dieser besteht die .Fest
aus drei Frauen, die gemeinsam durch die Städte rennen,
diese zu veröden. Die eine trägt eine Rolle, die andere
führt eine Schere, die dritte aber einen Besen, wie Dions
Erinys. So treten sie in die Häuser ein, aus denen sie ihre
Opfer holen wollen, die erste schreibt den Namen des
Verfallenen in die Rolle ein, die zweite schneidet ihm mit
der Schere eine Haarlocke ab, die dritte fegt ihn aus —
— 83 —
eine Umbildung des Mythus nicht sowohl von den Erinyen,
sondern von den Parzen,
Denn auch die Krankheiten werden vom Volke häufig
unter dem Bilde schrecklicher Frauen angeschaut, die den
Menschen abfordern und wegnehmen — liegt doch in unsem
eignen Ausdrücken eine gewisse Personifikation, wenn wir
sagen, dass das Fieber jemand ergreife, jemand wegraffe,
oder dass es von ihm überwunden werde; eine Personifikation,
wie w^enn ein Bildhauer den Amor nach Menschenherzen
schiessen oder ihn die Fackel Hymens ausblasen lässt.
Nach dem russischen Volksglauben befällt das Kalte Fieber,
die Schüttlerin oder die Trjassowitza , den Menschen in Ge-
stalt von neun leiblichen Schwestern, die wie Teufelinnen
nacheinander ausgetrieben werden müssen; die Italiener
vergleichen das Fieber mit einer Hydra, der man mit dem
Chinin einen Kopf nach dem andern abhauen und aus-
brennen solle; die alten Römer bauten der Febris Tempel.
Aber es sind namentlich die verheerenden epidemischen
Krankheiten, die Cholera und die Pest, welche die Phan-
tasie des Volkes aufi"egen und zu schauerlichen Visionen
reizen. Durch die Lüfte fliegen sie, auf den Dächern sitzen
sie, durch die Gassen der Städte schreiten sie, unter denf
^lasken einer Redoute tauchen sie plötzlich auf Kennst du
die Pest? Ich hins! Nimm mich auf deine Schultern und trage
mich auf der Erde herum; übergehe keinen Ort, denn ich muss
alle besuchen. Du erzittere vor nichts, denn gesund wirst du
bleiben unter den Sterbenden — mit diesen Worten erschien
die Pestjungfi"au, eingehüllt in weisses Linnen, im Jahre 590
bei- verzehrender Sonnenglut einem alten Manne, der zu
Konstantinopel unter einem Lärchenbaume säss. Vor
Schrecken wollte er entfliehen, aber sie ergriff den Ge-
ängstigten mit ihrer langen Hand und klammerte sich an
ihn; so musste er sie durch ganz Europa tragen, bis er in
Verzweiflung mit ihr ins Wasser sprang. Bekannt ist die
hübsche Sage, derzufolge auf dem Wege nach Smyma
einem Giiechen die Cholera erscheint, ihm verspricht, nur
6*
— 84 — .
zehntausend Opfer zu fordern, und ihm, da sie ihm nacH
einiger Zeit wiederbegegnet und er ihr vorwirft, sie habe
nicht Wort gehalten und nicht zehntausend, sondern doppelt
so viel getötet, zur Antwort gibt: Ich habe nur zehntausend
getötet, aber andere zehntausend hat die Furcht vor mir getötet
Wer kennt nicht die vier Apokalyptischen Reiter, die schon
so oft der Vorwurf fiir schauerlich grossartige Kompositio-
nen gewesen sind? — Aus der Hand dessen, der auf dem
Stuhle sitzt, nimmt das Lamm in der Offenbarung Johannis
das Buch mit sieben Siegeln und bricht die Siegel. Da
gehen aus den ersten vier Siegeln vier Reiter auf einem
weissen, einem roten, einem schwarzen und einem fahlen
Ross hervor. Die vier Reiter sind die Pest, der Krieg, die
Hungersnot und der Tod. Mit wildflattemdem, rotem Haupt-
haar, die Brandfackel in der linken, in der rechten Hand
das gezückte Schwert, sprengt .der Krieg auf einem gpross-
köpfigen Fuchs durch die stiebenden Wolken — ihn gleich-
sam überholen wollend biegt von links herum, einen dürren
Kranz in dem zerzausten Haare, die Pest auf dem gespenstig
weissen Rosse und schiesst einen Pfeil von dem gespannten
Bogen — hinter ihr jagt auf einem abgezehrten Rappen
die Hungersnot, eine Wage in der Hand, darauf gewogen
wird ein Mass Weizen um einen Ghroschen und drei Mass Gerste
um einen Groschen — den Schluss macht der Tod, der sich
mit seinem fahlen Rosse aus düstrem Gewölke vordrängt
und seine Knochenarme gierig nach der Erde ausstreckt.
Das ist der böse Thanatos, er kommt auf einem fahlen Boss, wie
Heinrich Heine sagt; denn bei den Griechen ist der Tod
wie bei uns Deutschen männlich, und noch heute führt in
den Liedern der Neugriechen der dunkle Reiter als Charos
die Scharen der Verstorbenen durch die Lüfte zum Toten-
reich. Bei den alten Römern und bei allen romanischen
Nationen ist der Tod ein Femininum. Pallida Mors aequo
pulsat pede pauperum tdbernas regumque turres. Das macht nun
allerdings solange nicht viel aus, als der Tod ein blosses
Gerippe ist, das eine Sense führt, obgleich auch dieses Ge-
— 85 —
rippe, wo es bei den romanischen Völkern vorkommt, sicht-
lich einem Weibe angehört. Aber dass die romanischen Na-
tionen, wenn sie den Tod vor Augen sehen, überhaupt keinen
Sensenmann, sondern eine Sensenfrau vor sich zu haben glau-
ben, geht aus der Darstellung des. Todes in der italienischen
Renaissance hervor, welche die Sense von einer schreck-
haften, aus Himmelshöhen herabfliegenden Megäre jäh
geschwungen werden lässt: die dämonisch ergreifende Aus-
gestaltung dieser Idee ist das berühmte Bild des Trianfo
della Horte im Camposanto zu Pisa, das in die Mitte des
vierzehnten Jahrhunderts fällt und früher Orgagna zuge-
schrieben wurde. Und ursprünglich haben auch wir in
Deutschland statt des Sensenmanns eine Todesgöttin gehabt,
die bleiche, gierige, unbarmherzige' Hei oder, was dasselbe
ist, die Hölle, die zwar gegenwärtig wie der griechische
Hades die Unterwelt, das Haus und Reich der Hei be-
zeichnet, aber deren persönliches Andenken im Volke noch
nicht erloschen ist; im Schleswigschen reitet zu Pestzeiten
die Hei auf dreibeinigem Pferde; wenn dann nachts die
Hunde heulen, so heisst es: die Hei ist bei den Hunden, Die
Hei mag das furchtbare Weib in alter Tracht mit einem
Menschenherzen in den Händen gewesen sein, welches der
Seherin von Prevorst in ihrem Todesjahre (1829) wiederholt
erschien. Auch die Weisse Frau, eigentlich Berchta, und die
slawische Smert , beides Feminina, lassen sich vergleichen.
Man hat gesagt, im Mittelalter sei die Trauerfarbe einer
Fürstin die weisse Farbe gewesen und so habe der Aus-
druck: die Weisse Frau ist erschienen, weiter nichts heissen
sollen als: unser Fürst wird hold fortmüssen. Aber abge-
sehen davon, dass meines Wissens nicht in Deutschland,
sondern in China weiss getrauert wird, so ist die weisse
Farbe nicht einmal obligatorisch, sintemal zum Beispiel im
neuen Residenzschlosse zu Baireuth die Weisse Frau viel-
rnehr eine Schwarze Frau sein und sich wie eine Dame
tragen soll, deren Porträt im Schlosse hängt: dunkles, mit
Pelz verbrämtes Kleid und Kapuze mit weissem Schleier.
— 86 —
So ist sie angeblich Napoleon I. in der Nacht vom 14. zum
15. Mai 181 2 und dem General d'Espagne erschienen, der
sie für die Botschaft seines baldigen Todes nahm (1809).
Und das ist offenbar die richtige Anschauung: die Weisse
Frau nur eine Form, welche die Todesahnung im Zweiten
Gesichte annimmt. So oft im ehemaligen Poitou den Grafen
von Lusignan Unglück bevorstand, wurde ihre Stamm-
mutter Melusine drei Tage vorher auf dem Turme des
Schlosses von Lusignan in Trauer gesehen. Wehe schreiend.
Nun, ähnlich die Weisse Frau, deren Vorstellung wahr-
scheinlich mit der altheidnischen, leuchtenden, glänzenden,
weissen Göttin Berchta, der sagenhaften Ahnfrau so
vieler berühmter Geschlechter, zusammenhängt. Sie ist die
Gestalt des Todes, einer Pestjungfrau oder einer Erinys zu
vergleichen; nur, ihrem Charakter gemäss, nicht sowohl des
Todes im allgemeinen als vielmehr des Todes in einem
. Fürstenhause.
Dem Cid erscheint vor seinem Tode der Apostel Petrus
(in dessen Kloster San Pedro de Cardena er begraben sein
wollte) und verkündigt ihm, dass ihn Gott in dreissig Tagen
rufen werde; bei gewöhnlichen Sterblichen übernimmt der
Dämon die Rolle des Todesboten. Es ist eine ziemlich
verbürgte Sage, dass dem Brutus vor der Schlacht bei
Philippi sein böser Dämon erschienen sei. Als er im Herbst
des Jahres 42 V. Chr. im Begriffe stand, nach Europa zurück-
zugehen, um den Triumvim die Spitze zu bieten, sass er
nachdenkend und in tiefes Sinnen verloren in seinem Zelte.
Es war Nacht, das ganze Lager still, der Raum schwach
beleuchtet. Da war es Brutus, als ob jemand einträte. Er
sah nach der Thür und erblickte ein ungeheures und furcht-
bares Wesen, das schweigend vor ihm stand. Er fasste
sich ein Herz und fragte: Wer bist Du und was willst Du?
— Die Erscheinung antwortete: Dein böser Dämon, Brutus;
Du wirst mich bei Philippi wiedersehen. Worauf Brutus uner-
schrocken sagte : Ich werde Dich wiedersehen. Und in der
That sah er zwanzig Tage später, in der Nacht vor der
— 87 —
zweiten Schlacht, den bösen Dämon wieder, aber diesmal,
ohne mit ihm zu sprechen. Shakespeare, dessen Julius Cäsar
auf den Plutarch in der Übersetzung von North gegründet
ist, hat aus dem bösen Dämon den Geist Cäsars gemacht.
• Was heisst Dämon? — Es gibt leibhaftige Dämonen,
gute und böse, Genien des Lichts und der Finsternis.
Nicht bloss Frauen, auch gewisse Männer mögen uns in
einzelnen ^Augenblicken wie unser Schicksal in Person er-
scheinen; den mysteriösen grauen Mann, der bei Mozart
kurz vor des Komponisten Tode das Requiem bestellte,
kann man nicht umhin, mit einem gewissen Schauder zu
betrachten, wenn man auch zehnmal weiss, dass es Leutgeb,
der Verwalter des Grafen Walsegg ist. Und anderemale
lässt sich der Segen nicht verkennen, den höherbegabte
Persönlichkeiten durch ihre Gegenwart ausgiessen; schon
Xeniades verglich die Ankunft des Diogenes mit dem Ein-
tritt eines guten Genius. Was aber die subjektiven Dämo-
nen anbelangt, so sind sie offenbar gleichfalls Geschöpfe
einer schwärmenden Phantasie, die das Zweite Gesicht in
die Wirklichkeit projiziert, nur von einem rein persönlichen
Charakter. Der böse Dämon erscheint wie eine Personifi-
kation des bevorstehenden Unglücks, fürchterlich, unerbitt-
lich; der gute Dämon ist dasselbe, aber indem er die drohende
Gefahr anzeigt, warnt er vor der Gefahr. Bekanntlich
schrieb sich Sokrates im Gegensatze zu äusseren Orakeln,
zu Augurien und Auspicien eine Art göttlicher Wamungs-
stimme zu, die ihn, wenn sie ertöne, davon abhalte, was er
zu thun gedenke, niemsils antreibe, und die ihn demgemäss
auch vom Staatsdienst zurückschrecke; er nannte sie Dämon,
während wir sie Schutzengel nennen würden {Apologie 3 1 d.).
Analog behauptete Cardanus, einer der seltsamsten Men-
schen, die je gelebt haben, er habe keinen Freund auf
Erden, dafür aber einen familiären Luftgeist auf dem
Saturn, der im Traum mit ihm verkehre, ihn fortwährend
leite und an seine Pflichten erinnere. Auch Torquato Tasso
hatte seinen Genio, den er, wie Leopardi sagt, auf dem
■ — 88 —
Boden eines Glases zu erbKcken pflegte; und am Ende ist
uns, wie schon die alten Römer glaubten, allen ein Genius
zugeteilt, der uns wie ein zweites Ich begleitet und imser
Schicksal zum Guten zu lenken sucht, wir überhören ihn
nur leicht: im stillen Wink des Herzens redet er uns zu,
ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brast,
ganz leise, ganz vernehmlich, -zeigt uns an,
was zu ergreifen ist und was zu fliehn.
Aus dem Leben religiöser Personen ist mehreres be-
kannt, was man für die Stimme eines guten Geistes halten
möchte. .Es heisst von der Äbtissin von Maubuisson, der
sogenannten Princesse PcUatine, sie habe sich im Hühner-
stalle bekehrt: das gründet sich darauf, dass die Fürstin
einst eine Henne im Hofe sprechen zu hören glaubte.
Bossuet, der ihr die Leichenrede gehalten hat, erwähnt
darin die Anekdote. So hörte schon Augustinus im August
des Jahres 386 in Mailand, in seinem zweiunddreissigsten
Lebensjahre, als er weinend und tiefbekümmert im Garten
unter einem Feigenbaum lag, eine Stimme, wie die eines
singenden Knaben oder Mädchens, die zu wiederholten
Malen rief: Nimm und lies, nimm und lies (tolle, lege, toUe,
lege). Da er sich nicht erinnern konnte, dass Kinder etwa
in irgend einem Spiel etwas dergleichen sängen, so er-
kannte er in diesen Worten eine Mahnung des Himmels.
Er griff zu den Briefen des Paulus und las die Stelle
Bömer XIII, 13: Lassi uns ehrharlich wandeln, cds am Ta^e;
nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht,
nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den Herrn Jesum
Christum — und das war der Grund seiner Bekehrung.
Man darf freilich zweifeln , ob es nicht war wie bei dem
Jütländer Steno, dem Bekannten von Leibniz und Bischof
zu Hannover, der plötzlich zum katholischen Fanatiker
wurde, weil eben, alis er an einem Hause vorüberging, eine
Dame einige gleichgültige Worte zum Fenster hinunterrief,
die er für einen Befehl des Himmels hielt — oder wie bei
Thümmel, der in sich ging, als bei einem lebhaften Selbst-
_ 89 —
gespräch neben ihm die Worte erschallten: das sind faule
Fische! — Genug, der Traum ging in Erfüllung, durch den
einst die fromme Mütter des Augustinus, die heilige Monica,
in Karthago getröstet ward: sie stand im Traum auf einem
Richtscheit, womit das Richtscheit des Glaubens, die Be-
gula Fidei, gemeint war. Da kam, während sie sich über
ihren Sohn härmte, ein glänzender und heiter lächelnder
Jüngling zu ihr. Er fragte, warum sie tagtäglich weinte
und trauerte. Sie antwortete, sie weine über das Verderben
ihres Sohnes. Da sagte der Jüngling, sie solle sich be-
ruhigen und nur hinsehen: wo sie sei, sei auch ihr Sohn.
Und Monica sah den Augustinus neben sich auf demselben
Richtscheit stehen {Gonfessiones III, ig).
Es kann uns nun nicht wundern, wenn die Sprache
des Zweiten Gesichts noch kühner, aber im Grunde nur
noch konsequenter und nüchterner wird, indem sie gele-
gentlich den Genius unsere eigene Gestalt annehmen lässt,
das Ich in die Aussenwelt projizierend. Jeder Mensch zer-
fällt, sobald er zweifelt und zwischen zwei Wegen schwankt,
gleichsam in zwei Personen; wovon die eine zu-, die andere
abredet; und -spricht, wie Odysseus zu seinem eignen Herzen.
Jener fromme Geistliche geht aus, um den nahen Milleschauer
zu besteigen. Unterwegs fragt er sich: Was thust Du hier?
Hat Dich höherer Beruf oder eitle Neugier hinausgeführt, ist
es auch recht, dass Du hier gehst? —Er bleibt stehen, tritt unter,
um besser zu überlegen, und während er überlegt, rutscht
das Gestein, ein Felsblock löst sich ab und stürzt auf den
schmalen Fusssteig, den der gute Mann zu seinem Glücke
verlassen hatte. Wie ihm gerade sein Bedenken gekommen
war, bleibe dahingestellt, man halte sich daran, dass er sich-
eben dadurch gewissermassen selber, wie eine leibhaftige
Warnung, in den Weg trat — man verweile einen Augen-
blick bei dieser Phrase — und man ahnt, wie so ein* De
Wette in Basel seinen Doppelgänger sieht.
Der bekannte Theolog ist eines Abends in einem be-
freundeten Haus zu Gast gewesen. Aufbrechend tritt er
— 90 —
ans Fenster und sieht in seine Wohnung hinüber, die ge-
rade gegenüber hegt. Er sieht sich selbst, wie er mit dem
Lichte in der Hand in das anstossende Schlafgemach geht.
Mittlerweile stürzt in dem Schlafzimmer die Decke ein und
sein Bett wird durch einen schweren Stein zertrümmert.
Aber indem der Professor ans Fenster tritt, thut er eben
gar nichts anderes als der fro^nme Geistliche auf dem Berge,
gleich ihm fragt er sich wohl: ist es auch recht, dass du
das thust? Sollst du auch hinübergehen? Wäre es nicht
besser, noch zu warten? — nur dass er sich mit einem ihm
selber gar nicht zum Bewusstsein kommenden Akte der
Phantasie leibhaftig vor sich hinstellt und nach dem obigen
Ausdruck projiziert. Warum das in einem bestimmten und
richtig berechneten Augenblick geschieht? — Weil der
Gott, der diese Phantome in Lebenstiefen schafft, scharf-
sinniger ist, als der mit der Studierlampe arbeitende Ver-
stand, und wie Allah die allerschwärzeste Ameise in der
allerschwärzesten Nacht auf dem allerschwärzesten Marmor
laufen sieht.
Denn es sind entscheidende Momente, die den inneren
Gott veranlassen zu sprechen oder, in die Ausdrucksweise
des gewöhnlichen Lebens übersetzt, die das Phantom ver-
anlassen zu erscheinen: beim Zweiten Gesichte handelt es
sich gewöhnlich um Leben oder Tod. So lange das Schiff
stolz und sicher über die Nordsee fährt, haust der Klabau-
termann, der klopfende Kobold desselben, ruhig unter der
Ankerwinde; droht aber dem Schiff ein Unglück, so kla-
bautert er oder klopft er, und steht dem Schiff sein Unter-
gang bevor, so setzt er sich auf das Steuer und zerbricht
es. So pflegt das Schicksal, solange das Schiff unseres
Lebens mit vollen Segeln geht, zu ruhen und zu schlum-
mern; zieht sich ein Ungewitter über ihm zusammen, so
klopft es, und sind die Würfel gefallen, so erscheint es.
Wie Brunhilde zu Siegmund sagt:
Nur Todgeweihten
taugt mein Anblick:
- 91 -
wer mich erschaut,
der scheidet vom Lebenslicht.
Nun, es ist eine alte Sache, dass der Blick von Ster-
benden geschärft ist: was werden sie besser erkennen, als
eben dass sie sterben? — Sothane Erkenntnis wird einge-
kleidet in eine Selbsterscheinung, und darum heisst es: iver
sich im Traume im Wasser spiegelt, stirbt bald.
Der englische Dichter Shelley ertrank bekanntlich auf
der Fahrt von Livomo nach dem Golf von Spezia im Mit-
telmeer. Vor Antritt derselben hatte er, wird versichert,
ein nacktes Kind aus der See auftauchen, vor Freude in
die Hände klatschen und ihm lächelnd zuwinken gesehen,
vielleicht sein Töchterchen Allegra; und zugleich hatte er
sich selbst gesehen. Eine schwarze Maske erschien ihm
um Mittemacht, gab sich ihm als sein Doppelgänger zu
erkennen und fragte: Sind Sie zufrieden? Siete soddisfatto? —
Ist es nicht, als ob ein Theaterdirektor gefragt hätte: Sind
Sie mit dem gegebenen Stück zufrieden? Es ist aus: Moriturus te
salutas! — Aber wir selber wenden uns hier an unser
Publikum und fragen: Sind Sie zufrieden? Haben wir eine letzte
Offenbarung des Weltgeistes ausfindig gemacht? Sind Sie mit diesen
fünf ewigen Dialekten einer Weltsprache zufrieden? —
Zw^eites Kapitel.
Die Sprache des Angesichts.
Nac angnria ;iovi neo mathema*
ticorum caelum curare aoleo, ex
valtlbas tarnen hominnm mores col-
ligo, et onm spatiantem vidi, qaid
cogitet soio.
Petronü SaHrae 126, is.
I. Allgemeines. Geschichte der Physiognomik.
Die Quidproquos der Physiognomiker — Fronti nulla fides — der Schädel
Rafaels — das ehrliche Gesicht des Evangelisten Marcus — der kleme Talbot
— Uhland ein Papiermachergesell oder ein Uhrmacher — die Phrenologie —
Lavater und Gall, verspottet und widerlegt — die Physiognomik immerhin
eine sehr nützliche Kunst — und eine alte Kunst — Scriptores Physiognomoniae
veieres — Hippokrafes und Aristoteles — wie Sokrates von einem Physiogno-
miker für einen alten Wollüstling erklärt wird und er dieses Urteil bestätigt —
der Ehysiognom kann nur die natürlichen Anlagen bestimmen — Tierähnlich-
keiten — Vogelgesichter, Hundeköpfe, Wildprettypen und Haustiertypen — die
Volksphysiognomie hat Beziehungen zur Fauna des Landen — Giambattista della
Porta, sein geheimes Wissen und seine Analogien — er begründet nach der
Meinung der Italiener die Wissenschaft der Physiognomik — sie ist eine Sprach-
wissenschaft — Animi itnago vultus est — die Symbolik der menschlichen Ge-
stalt — innere und äussere Bedingungen der Physiognomie — die Physiognomik
nicht mit der Mimik zu vermengen — der menschliche Körper ist wie eine
Porträtstatue des Geistes, der Modell gestanden hat.
In der alten Düsseldorfer Gemäldegalerie hängt ein
Porträt, das eine auffallende Ähnlichkeit mit einem Christus-
kopfe hat. Es ist das Bild des unverschämten Pietro Are-
— 93 —
tino. Und in der Galerie Pitti hängt ein berühmter Catü
lina von Salvator Rosa. Eine Dame will wissen, ' wer es
sei, und versteht statt CatiUna: Göllatinus. Der Gemahl der
Imcretia! ruft die Fremde begeistert aus. Ja, ich erkenne
dich, edler Römer! Der Schmerz über den Verlust des geliebten
Weibes ist so wahr! So ergreifend wiedergegeben! — Quidproquos,
die bei der Physiognomik unterlaufen.
Was wurde nicht alles . aus dem Schädel Rafaels in
der römischen Lukas-Akademie herausgelesen, bis man im
August des Jahres 1833 entdeckte, dass er es gar nicht sei!
— Und wie oft haben schon bedeutende Köpfe die physio-
gnomische Prognose Lügen gestraft! — Fronti ntdla fides,
möchte man zehnmal für einmal sagen. Die Grräfin von
Auvergne in Shakespeares König Heinrich VI., erster Teil,
hält es für unmöglich, dass der Knirps, der vor ihr steht,
der schreckliche Talbot sei, wie Ludwig XIV. aus gleichem
Grunde gering vom Prinzen Eugen denkt. Karl V. sieht
das Mönchlein, das sich Luther nennt und sagt: der sollte
mich gewiss nicht zum Ketzer machen! — Hogarth will einen
Dummkopf zeichnen und zeichnet, ohne es zu wissen, den
berühmten Samuel Johnson — Musäus hält einen Nacht-
wächter, durch die Art und Weise, wie derselbe seine
Pfeife raucht, verfahrt, für Klopstock — und Lavater, dem
eine Reichsstadt die Bildnisse des Bürgermeisters und des
hohen Rats zusendet, erklärt sie alle für Erzmalefikanten.
Um noch einen modernen Dichter und Forscher anzuführen,
dessen Physiognomie der Physiognomik mehrmals ein
Schnippchen geschlagen hat: U bland hatte nichts weniger
als das Aussehen eines gelehrten Mannes, der er war, söti-
dem etwa das eines Handwerkers oder eines Subaltem-
beamten. Uhland, schreibt Chamisso in einem Briefe von
Paris aus dem Jahre 18 10, war unscheinbar, dickrindig und
schier klötzig, und man möchte nicht diese goldene Ader hintei^
ihm suchen. Als er einmal, der Universitätsprofessor und
Abgeordnete, unweit Tübingen vor einer Papiermühle stand,
sagte ein Vorübergehender zu ihm: Sie sind gewiss auch so ein
— 94 —
PapiermachergeselV^ — als worauf Uhland antwortete, Papier
verderbt habe er schon viel, aber gemacht noch keins; und
ein andermal hielt ihn auf einem Dampfschiff ein Phrenolog
für einen Uhrmacher: nicht jeder, fugte er tröstend hinzu,
nicht jeder könne ein Dichter werden! — Und umgekehrt sagt
das spanische Sprichwort: So vaina de oro, cuchülo de plomo,
in einer goldnen Scheide steckt wohl ein bleiern Messer.
Daher denn die Satire, welche die ganze Kunst bitter
verspottet, nicht ausgeblieben ist. Vor hundert Jahren, wo
Lavaters Weizen blühte und ein Chodowiecki die Physiogno-
mischen Fragmente illustrierte, wurde die Geissei derselben
von Musäus und Lichtenberg geschwungen, welcher letztere,
um seinerseits die Menschenliebe und die Menschenkenntnis zu
hef ordern: über die Physiognomik wider die Physiognomen schrieb
und das humoristische Fragment von den Sauschwänzen her-
ausgab. Heutzutage ist die Animosität, ich will nicht sagen
der Satire, aber der ernsten Wissenschaft vielmehr gegen
die Phrenologie gerichtet, die offenbar einen kleinen Zweig
der Physiognomik darstellt und die ihrerseits die allge-
meine Physiognomik in der Unterhaltung der Gesellschaft
abgelöst hat; denn auf Lavater folgte Gall, der zu seinen
Entdeckungen durch ein echt physiognomisches Apercu
geleitet wurde. Er hatte wahrgenommen, dass Menschen
mit vorquellenden Augen, sogenannten Kalbsaugen, gewöhn-
lich ein vortreffliches Gedächtnis besitzen; daraus schloss
er, dass auffallende Talente mit einer eigentümlichen Schä-
delbildung zusammentreffen möchten. Femer entdeckte er,
dass grosse Denker auch eine Denkerstime haben; dass
die Schläfe bei phantasiereichen Menschen, zum Beispiel
bei einem Dichter wie Schiller, stark gewölbt, bei realisti-
schen Naturen, zum Beispiel bei grossen Feldherm, hohl
zu sein pflegen; dass Leute von starkem Selbstgefiihl, wie
die Engländer, hohe und fast spitze Schädel besitzen —
und so hatte er allmählich an seinen Köpfen alle Grund-
kräfte des Geistes, das Diebsorgan und das Organ der
Gutmütigkeit, die Religiosität und die Kampfbegier, die
- 95 —
Kindesliebe und die musikalischen Stimbuckel herausge-
funden. Die Physiologie leugnet einen Zusammenhang
zwischen Schädelkonturen und Himkonturen; und wenn sie
auch die Lokalisation der einzelnen Himfähigkeiten nicht
verwirft, so bekennt sie doch, dass ihr erst eine einzige
wirklich gelungen ist, nämlich die des Sprach Vermögens,
welches seinen Sitz in der unteren Augenwindung des
Stimlappens auf der linken Seite, also in der linken Schlä-
fengegend hat. Infolgedessen steht das grosse Publikum
auch der Phrenologie jetzt ziemlich skeptisch gegenüber;
auch für diesen Zweig der edlen Wissenschaft vom Äussern
und für die musikalischen Stirnbuckel gilt es: fronti nulla
fides.
Mag*s sein; die Physiognomik bleibt doch eine Kunst,
die vieles kennen lehrt, und wer sich ihrer befleissigt, der
findet zum mindesten für die Beurteilung der Menschen
kostbare Anhaltspunkte. Wir pflegen uns doch alle unsere
Leute erst anzusehen, ob ihnen zu trauen ist, selbst die
Herren Evangelisten; und wohl uns, wenn wir immer so
gute Erfahrungen machen, wie Michelangelo mit dem
Evangelisten Marcus: er meinte, auf sein ehrliches Gesicht hin
dürfe man ihm alles glauben, was er in seinem Evangelium be-
richtet habe. Das ehrliche Gesicht hatte ihm freilich Dona-
tello in einer Statue gegeben, die in Florenz an- einem
Pfeiler der Halle von Orsanmichele steht. Im XVII. Jahr-
hundert lebte am Hofe Ludwigs XIV. ein Arzt, der sich
etwas auf seine Menschenkenntnis zu gute that, LaChambre;
er verdankte dieselbe seinen physiognomischen Beobach-
tungen. Aus dem Gesichte wollte er erkennen nicht nur,
was die Menschen für einen Charakter hätten, sondern
auch, für welche Stellen und Ämter sie geeignet wären.
Wirklich entschied sich Ludwig XIV. bei einer Wahl nie-
mals wieder zu Gunsten noch zu Ungunsten eines Kandi-
daten, ohne zuvor das Orakel des Doktor Physiognomon
befragt zu haben. Wenn ich vor Eurer Majestät sterbe, sagte
La Chambre, so läuft Dieselbe grosse Gefahr, in Zukunft manche
— 96 —
schlechte Wahl zu treffen! — La Chambre starb in der That
vor dem Monarchen (1700), und seine Prophezeiung schien
sich mehr als einmal zu erfüllen.
Und es ist eine alte Kunst — das beweisen die Scrip-
tores Physiognomoniae Veteres^ welche J. G. F. Franz (Altenbnrij
1780) herausgegeben hat. Einer derselben wird von dem
bekannten syrischen Schriftsteller Abul-Faradsch oder Bar-
hebräus in seiner Historia Dynastiamm: Philemon genannt
und von demselben erzählt, er habe einst von den Schülern
des Hippokrates das Porträt des grossen Arztes vorgelegt
bekommen — Philemon sagte aus, es sei das Gesicht eines
alten Wollüstlings, worüber sich die Verehrer des Hippo-
krates bass verwunderten; aber Hippokrates kam hinzu und
gab dem Physiognomiker vollkommen recht, seine Natur,
sei so, doch er habe gelernt, seine sinnlichen Triebe zu
bekämpfen. Eine ganz ähnliche Anekdote erzählt Cicero
in den Ttisculanae Disputationes von Sokrates: hier legt der
Physiognomiker Zopyrus dem Sokrates in Gegenwart
seiner Schüler eine Menge Laster bei, weshalb er samt
seiner Wissenschaft verlacht wird; aber auch Sokrates be-
kennt sich zu den namhaft gemachten Fehlem, deren er nur
durch Philosophie Herr geworden sei. Es unterliegt wohl
keinem Zweifel, dass der arabische Geschichtschreiber den
Hippokrates (Bokrat) mit dem Sokrates (Sokrat) und
Philemon mit Polemon verwechselt hat, welches wirklich
der Autor eines kurzen griechischen erhaltenen Werkes
über Physiognomik gewesen ist. Dass Sokrates zum
Verwechseln einem Silen ähnlich sah, weiss man und
wird von Alcibiades in Plato's Symposion bezeugt; Büsten
des Sokrates sind ja keine Seltenheit. Jedenfalls ist die
Anekdote geeignet, unsere eigenen Ansichten über die
physiognomische Wissenschaft zu klären und den Grrund
zu beleuchten, warum die Zensuren des Physiognomikers
so häufig scheinbar unzutreffend sind. Der Physiognom
kann wohl die natürlichen Anlagen eines Menschen be-
stimmen , aber nicht , was wirklich aus . dem Menschen
— 97 —
werden mag; denn derselbe kann bald seine Natur überwin-
den wie Sokrates, bald gewissermassen gegen seine Natur
schlecht werden wie Tiberius und Domitian, die beide in
ihrer Jugend schön gewesen sind. In London war neulich
in allen Schaufenstern in etwa vierzig Blättern die Eni-
toickelung eines Trunkenboldes, von den Temperanzgesellschaften
ausgestellt, zu sehen — wie gut, wie hold, wie lieblich
waren die Anfänge des Säufers, der nun durch den Oin
und durch den old Tom unwiderruflich zu Grunde ging! —
Das Eine hatten die Temperanzler nur vergessen, die Leber
des Mannes, the gin-drinkers liver, zu malen, denn von dem
kleinen Schäker Falstaff wissen wir, dass die Säuferleber
schön rot, die Leber des Nichttrinkers dagegen bleich und
damit zum gewissen Kennzeichen der Kleinmütigkeit und
Feigheit wird. Und nach seiner Theorie müsste der Trun-
kenbold zum mindesten ein Oliver und Roland geworden sein,
was ihm vielleicht wiederum nicht an der Wiege gesungen
ward, sodass man wiederum sieht, wie der Physiögnomiker
ein Tropf ist und nichts von der Zukunft weiss. Indessen
w^äre es erstens schon viel, die natürlichen Anlagen zu er-
kennen; zweitens würde die Willenskraft und die moralische
Energie selbst zu diesen Anlagen gehören, und einerseits
in den Kalkül des Physiognomikers aufzunehmen, ander-
seits an ihren physiognomischen Wirkungen zu erkennen
sein — wenn der Charakter ausgebildet ist, müssten sich
dem Gesichte die sittlichen Triumphe oder Niederlagen
ebenso gut absehen lassen, wie man einem Stand und
Schicksal absieht. Alles in allem kommt man zu dem
Schlüsse, dass die Herren Polemon oder Zopyrus in der
Kunst noch keine Meisterschaft besassen, so sehr auch die
Kunst gerade in ihnen offenbar geworden war.
Hippokrates, der vier Jahrhunderte vor unserer Zeit-
rechnung lebte, war selbst ein ausgezeichneter Physiogno-
miker, der namentüch bewunderungswürdige Klrankheits-
bilder zeichnete: bekanntlich nennt man nach ihm bis auf
den heutigen Tag das Gesicht eines Sterbenden; wie denn die
Kleinpaul, Sprache ohne Worte i
— 98 —
Ärzte durch ihren Beruf vorzugsweise auf die Beobachtung
der physiognomischen Merkmale angewiesen sind. Ja sogar
der summtis Aristoteles, wie Lavater der Sohn eines Arztes
und sein Leben lang ein Liebhaber der Medizin, hat ein
halbes Jahrhundert nach Hippokrates eine lose Abhandlung
des Titels fpvaioyvioi^uiid geschrieben; sie ist in der Franz-
schen Sammlung mitabgedruckt. Von Aristoteles geht
die Manier aus, Menschen mit Tieren zu vergleichen und
aus der grösseren oder geringeren Ähnlichkeit eines Indi-
viduums mit der einen oder der anderen Tierklasse auf
seine guten oder bösen Neigungen zu schliessen. Wenn
zum Beispiel einer eine Adlernase, einen Stiemacken, eine
Aifenhand besitzt, so ist in seinem Charakter auf eine ge-
wisse Verwandtschaft mit einem Adler, einem Stier, einem
Affen zu prognostizieren. Der Hirsch hat einen langen Hals,
sagt Aristoteles, folglich ist ein Mensch mit einem langen Halse
furchtsam wie ein Hirsch. Der Gedanke ist fruchtbar, die
Analogie zwischen Menschen und Tieren fällt jedem auf;
ausserordentlich häufig sind Vogelgesichter, Hundeköpfe,
Wildprettypen und Haustiertypen. Den Leibesbau der Wind-
hunde findet man nicht bloss bei den LangarmafFen und
bei den Geparden, sondern auch bei vielen Menschen
wieder, und zwar immer als untrügliches Zeichen der Be-
fähigung zu schneller und anhaltender Bewegung. Der
Kopf des Herkules Famese erinnert, was das geringe Vo-
lumen, den dicken Hals und die kurzen krausen Stimlocken
anbelangt, ganz auffällig an einen Stierkopf — der sieht
wie ein kleiner fauchender Hamster, der wie ein weisser
ältlicher Affe aus, der den Weltlauf verachtet und seinen
Wärter in die Beine beisst. Bekannt, dass einst die West-
falen Voltaire, der, in eine Wildschur gehüllt, neben Fried-
rich dem Grossen im Wagen sass, für den Leibaffen des
Königs hielten und neckten. Ja, Leibniz hat die interes-
sante Beobachtung gemacht, dass die Physiognomie eines
ganzen Volkes nicht ohne eine gewisse Beziehung zur länd-
lichen Fauna ist, dass die Lappen Renntieren, die Neger
— 99 —
Affen, die Malaien Tigern, die Araber Kamelen, die Hindu
Elefanten, die peruanischen Indianer Lamas ähneln u. s. w.
Wie gesagt, derlei Vergleiche drängen sich jedem auf:
es gibt Menschen, die eine wahre Sucht haben, ihre Be-
kannten bald auf den Hund, bald auf den Fuchs, bald auf
Karpfenmäuler anzureden oder wie Tischbein in Neapel zu
einem Fremden zu sagen: Verzeihen Sie, ich habe Sie anfangs
für einen Esel gehalten, eigentlich aber sind Sie ein Ochse — wie
ausgezeichnet sich die höheren Tiere dazu eignen, mensch-
liche Eigenschaften und Zustände darzustellen, sieht man
an den vier Löwen, die den Eingang des Krystallpalastes
in Sydenham bewachen und die: Determination, Vigilance,
Peace und War genannt sind. Wer aber den Gedanken des
Aristoteles mit besonderer Liebe aufgenommen hat, war
Giambattista della Porta, ein naturkundiger Neapoli-
taner des XVI. Jahrhunderts, ein Mann von vielem geheimen
Wissen, Erfinder der Camera obscura und der Vorläufer
Lavaters und Galls mit seinem Buch: De Humana Physiogno-
mia (Neapel 1595). Schon zwischen Pflanzen und Tieren
hatte Porta mehrfache Analogien und vieles herausgefun-
den, was zu der frühererwähnten Signatur der Pflanzen zu
rechnen wäre: die versteckte Meinung der Zwiebeln und
der Knollen, die Ähnlichkeit der Birnen und der Feigen
mit einer Gebärmutter, die Schamlosigkeit der Nackten Hure
oder der Herbstzeitlose und der Venusmuscheln waren ihm
geläufig; dass das Basilikum Skorpione trage und der
Stechginster oder die Skorpionpfrieme Skorpionsstacheln habe,
dass in Asien das scythische Lamm aus einer Melone krieche,
wusste er genau. Diese Analogien bahnten ihm nun den
Weg zu den physiognomischen Analogien zwischen Tier
und Mensch. Er verfolgte sie bis ins Einzelne. Sokrates
hatte für ihn die Züge eines Hirsches, Plato eines Hühner-
hundes, Sulla eines Tigers, Vitellius eines Uhu — wie nach
ihm Tischbein in dem Correggio ein Schaf und in dem
Michelangelo einen Löwen erkannt hat. Es war die Zeit,
wo Tycho de Brahe den geheimnisvollen Zusammenhang
7*
— 100 —
zwischen den sieben Planeten, den sieben Metallen und den
Hauptgliedem des Menschen entdeckte und die dessen un-
kunden Aristoteliker verlachte. Giambettista della Porta selbst
war kahlköpfig wie ein Fuchs, er hatte eine Adlernase,
Augen wie ein Reh, Läufe wie ein Hirsch, nicht mehr Bart
als eine Auster und eine heisere, rauhe Stimme wie ein
Rabe. So war der Mann beschafifen, der nach der Meinung
der Italiener die Wissenschaft der Physiognomik begründet
hat; denn als Wissenschaft wurde sie seitdem betrachtet
und von Baco dem Organon scientiarum ausdrücklich ein-
verleibt.
Aber noch hat sie Baco nicht den Sprachwissenschaften
eingereiht, was wir hiermit thun. Denn die Züge des
menschlichen Angesichts, die allerding« bald mehr, bald
weniger sprechend sind, aus denen bald ein Herz spricht y
bald, Maria Stuart bezeugt mirs, keins*): sind neue und
bereits recht hübsch menschliche Proben der Sprache ohne
Worte, wie dies schon Karl Gustav Carus ausgesprochen
hat, einer persönlichen Symbolik zu vergleichen. Animi
imago vulttis est, indices oculi, sagt Cicero; diese Worte ver-
dienen erwogen zu werden, denn sie enthalten einen gol-
denen Fingerzeig. Das Gesicht ist ein- Bild der Seele —
ein Sinnbild für etwas, das nicht in die Sinne fällt. Der
menschliche Körper erscheint wie die Statue eines . unbe-
kannten Wesens — wessen ist sie? Welcher Geist ist hier
abgeformt? Was hat der erhabene Künstler ausdrücken
wollen, da er dies Menschenbild erschuf? — Gleichgültig,
ob der Geist selbst dieser Künstler ist, der sich sozusagen
von innen heraus im Fleische wie in weichem Wachse
ausdrückt, oder ob ein übermenschlicher Bildhauer, nennen
wir ihn Naturtrieb oder Gott, den Menschenleib nach dem
Modell des darin steckenden Geistes wie eine Art von
Futteral gestaltet; wenn nur eine Ähnlichkeit, eine Ana-
*) Gotty aus diesen Zügen spricht kein Herz! — ruft sie aus, wie sie
die Königin Elisabeth sieht. Ciceros Worte gehen auf Aristoteles zurück.
• • • •
•V: ••• : : :
• " • • • • •
— 101 -
logie, ein Verhältnis existiert, wenn es nur wahr ist, was
der Dichter sagt, dass die Gesichter aU wie ihre Seelen werden
und dass dies Eine Oerechtigkeü schon hier auf Erden sei. In
diesem Falle geht der Physiognom in der volkreichen Stadt
umher wie der Archäolog im Pio-Clementinischen Museum.
Er kennt die Figuren alle — alle reden sie zu ihm und
geben sich ihm zu erkennen: ich hin ein Joviskopf . . . ich
Jieisse Dionysos , . . ich hohe das feuchte Haar Neptuns . . . ich
ziehe wie die Venus das untere Augenlid wollüstig herauf , . » ich
hin ein Satyr , , , ich hin ein Gott — alle, alle nennen ihre
Namen und sprechen eine Sprache ohne es zu wollen, ja
oft gegen ihren Willen, aber ohne es hindern zu können,
sie müssten sich denn maskieren.
Änimi imago vultu^ est. Es gibt viele Dinge, die ihre
Spur im menschlichen Angesichte hinterlassen und die auf
den Körper und auf den Geist zugleich einwirken, sodass
man sie als äussere Bedingungen der Physiognomie den inner-
lichen gegenüberstellen muss. Vaterland und Nationalität,
Geschlecht und Rasse, Stand und Profession, Schicksal und
Lebensstellung, alle unsere äusseren Verhältnisse haben
ebenfalls ihr Recht auf die Gestaltung und damit auf die
Ausdrucksfähigkeit und Sprache unseres Wesens; es steht
uns frei, auch hier die Wirkungen gleichsam als Bilder der
Ursachen aufzufassen und uns vorzustellen, dass diese Ur-
sachen an der Statue unseres Körpers beständig mitarbeiten.
Nur müssen wir dergleichen ständige Mitarbeiter und die
Gehilfen, die der Tag bringt, streng auseinanderhalten.
Statuen bewegen sich nicht, sie ruhen; noch geht uns das
pulsierende Leben und das Mienenspiel des Menschenleibes
nichts an, diese Sprache kommt erst, wenn die des Bildes
selber gehört worden ist; höchstens insofern einzelne Reflex-
bewegungen öfters wiederholt, dadurch stabil gemacht und
in das feste Gepräge des Organismus aufgenommen werden,
fallen sie in den Rahmen einer strikten Physiognomik, Li
der Heiterkeit gehen die Mundwinkel in die Höhe, in der
Traurigkeit abwärts; der Zufriedene lächelt, der Unzufriedene
1
— 102 —
mault oder hängt das Maul, das heisst, er lässt die Unter-
lippe herabhängen, wie der Karpfen sein Karpfenmaul:
jenachdem also einer vorherrschend heiter oder melancho-
lisch ist, werden sich die Mundwinkel in der betreflFenden
Stellung fixieren. Der jähzornige Mann ist leicht an seiner
Röte, an seiner Kollerader zu erkennen; der weibliche
Zomnickel pflegt eine Leibfarbe und eine Mundfalte zu
haben, die selten täuscht. Das wären ein paar stabil ge-
wordene Mienen; aber es beweist eine bedauerliche Un-
reife des Gedankens, wenn Leute, die ä la Aristoteles
Fhysiognomica auskramen, aus der Physiognomik fortwährend
in die Mimik kommen, ja nicht übel Lust haben, die ganze
Physiognomik in die Mimik aufzulösen. Das heisst ewige
und vorübergehende Zustände , stehende Ausdrücke und
gelegentliche Lebensäusserungen und das eherne Gebilde
der Natur von der Wirkung eines flüchtigen Reizes nicht
unterscheiden können. Feme sei das von uns: was sich von
Charakter und Geist und von unwiderruflichen Lebensbe-
dingungen im menschlichen Körper dauernd spiegelt, wollen
wir rein auffangen und einige von den tiefsinnigen Bildern
zu erhaschen suchen, die dieser zerbrechliche Leib während
seines kurzen Lebens wie ein ambulanter Guckkasten dem
hineinschauenden Kenner zeigt.
— 103
II. Die leiblichen Analogien.
Verhältnisse der einzelnen Körperteile zu einander — die ärztliche Semiotik —
populäre Kennzeichen: der Harn, die Zunge, die Fingernägel — Bleichsucht,
Gelbsucht, Blausucht — die Korpulenz, bedingt durch das Daruiederliegen der
Geschlechtsthätigkeit — einzelne Naturfehler und ihre psychologischen Effekte
— die Buckligen, die Schwerhörigen — Zeichen der Gesundheit: das Auge —
die Temperamente, Formen der Gesundheit — stehende Korrelationen — die
Symmetrie des Skelettes — Nase, Mund und Fuss haben am Körper ihre Korre-
spondenzen — männliche und weibliche Geschlechtseigentümlichkeiten — Vorder-
backen und Hinterbacken — sogar die Muttermale und Leberflecken sollen sich
wiederholen — Gibbon und die Marquise Du Deffand, die sein Gesicht befühlt.
Bevor wir die Statue fragen, welchem Geiste sie an-
gehört, prüfen wir erst das Verhältnis, in welchem ihre
einzelnen Teile untereinander stehen. Sie scheinen eine ge-
wisse Analogie zu haben, sie scheinen Schlüsse vom einen
auf den andern zu gestatten, sie scheinen von einander zu
sprechen.
Die Mediziner haben eine Wissenschaft, die sie Semiotik
nennen, die Lehre von den Kennzeichen der Krankheiten
oder, wie wir gewöhnlich sagen, den Symptomen: sie sind
wie die Glieder einer Kette, die der Arzt in die Hand
bekommt, sie sind wie Grubenlichter, die ihn durch die
finstem Stollen und Gänge der Leibeshöhle leiten. Eins der
populärsten und ältesten Kennzeichen ist der Harn, der
im Fieber eine rotgelbe, selbst braunrote, bei der Gelb-
sucht eine schwarzbraune oder schwarzgrüne, bei Gelenk-
rheiunatismus eine hochrote Färbung annimmt und ziegel-
mehlartige Niederschläge bildet, überhaupt in Bezug auf
Qualität wie Quantität die gfössten Verschiedenheiten dar-
bietet und schon bei den vier Temperamenten wechselt.
Daher haben sich seit Hippokrates, der Vater und Meister
aller Semiotik ist und bleibt, Ärzte und Laien gewöhnt,
bei jeder Krankheit den Harn des Patienten zu betrachten,
und das zu dieser Betrachtung dienende Uringlas bildete
im Mittelalter geradezu ein stehendes Attribut der Arzte,
das die Nürnberger Chronik sogar den heiligen Ärzten Co§mas
— 104 —
und DamianuS in die Hand gibt (Cahier, Caracüristiqms des Saints
dam Vart populaire, Paris 1867. Seite 1 37). Ein anderes, ebenfalls
sehr populäres Kennzeichen liefert die Zunge: eine gesunde
Zunge besitzt einen reinen, blassroten Rücken, bei Ver-
dauungsstörungen erscheint ihre Oberfläche weisslich, sie
ist, wie man sich auszudrücken pflegt, belegt; daher sich
auch wieder Arzte wie Laien gleich, wenn einer klagt, die
Zunge zeigen lassen. Ein drittes bekanntes Kennzeichen
endlich bieten die Fingernägel dar, in denen sich der
Ernährungszustand des gauizen Körpers wiederspiegelt: bei
fieberhaften Krankheiten bleiben sie im Wachstum zurück,
eine querverlaufende, flache Rinne pflegt nach der Gene-
sung diese Wachstumshemmung zu bezeichnen; und bei
Schwindsüchtigen sind sie stark gewölbt, was daher kommt,
dass das letzte Fingerglied mit dem Schwunde des Fettes
dünner und schmäler wird. Was ist es anderes als eine
Anwendung der ärztlichen Zeichenlehre, wenn wir, wie das
täglich vorkommt, aus dem gelblichen, blassgrünlichen Ko-
lorit der Haut auf Bleichsucht, aus der gelben Färbung auf
Krankheiten der Leber, aus blassen Lippen auf Blutarmut
und aus bläulichen Lippen auf einen Herzfehler schliessen?
Wenn wir an der eigentümlichen Unsicherheit des Ganges,
namentlich dem charakteristischen Schleudern der Beine
den Rückenmarksschwindsüchtigen, an dem Liegen auf dem
Bauch den Unterleibskranken, an den angezogenen Schen-
keln die Bauchfellentzündung erkennen? — Andere Symp-
tome entziehen sich der Beobachtung des Laien und
wollen vom Arzte aufgesucht sein, der dem Patienten den
Puls fühlt, der die Milz des Wechselfieberkranken unter-
sucht, der eine bösartige Zerstörung der Herzklappen im
Augenhintergrunde wahrnimmt, der misst und wägt, be-
horcht und beklopft und auf diese Weise seine tiefen Blicke
thut. Er sieht die fettleibige Frau — ihre Geschlechts-
thätigkeit liegt darnieder; er weiss, dass nicht bloss bei
älteren Frauen mit dem Aufhören der Geschlechtsfunktio-
nen leine grössere Fettentwickelung eintritt, sondern auch
— 105 —
bei jüngeren, wenn sie des Beischlafs entbehren; er weiss,
dciss auch beim Manne die Kastration eine Fettanhäuftmg
begünstigt. Er sieht den Kastraten — er hört die Kastra-
tenstimme; er hört eine Gurgelstimme — er sieht den fetten
quabbeligen jüdischen Bankier.
Auch bei Zuständen, die man nicht gerade als Krank-
heiten, zum wenigsten nicht als akute Krankheiten bezeich-
nen kann, pflegen sich solche Analogien, die dann zu
Zeichen werden, nicht selten einzustellen. Buckelige sind
gewöhnlich kurzatmig und haben meist lange Finger,
gleichwie Spinnen; sie spielen daher häufig gut Klavier.
Ich kann mich nicht enthalten, gleich hier noch eine
weitere Eigentümlichkeit des verdriesslichen Vereines zu er-
wähnen und damit an dieser Stelle eine Thatsache vorweg-
zunehmen, die eigentlich erst zum Folgenden gehört. Ver-
wachsene Menschen sind gewöhnlich witzig, wenigstens
nicht auf den Kopf gefallen. Nichts ist seltener als ein
kleiner Verdrms und dabei grosse Dummheit; ich möchte
den Fall wissen. Der Geist macht nicht buckelig, das
fehlte gerade noch; aber der Buckel macht geistreich, es ist
ein allgemeiner Erfahrungssatz. Asop, Moses Mendelssohn,
Schleiermacher, Lichtenberg, Richard III., unzählige bedeu-
tende Männer waren buckelig; auch der berühmte Diplomat
Talleyrand soll es gewesen sein, jedenfalls war er lahm.
Man kann beobachten, dass die Hohe Schulter der Ge-
schlechtsthätigkeit keinen Eintrag thut, so wenig, wie es
die Schwäche, ja Lähmung der untern Gliedmassen thut;
eine Frau, welche hinkt, Mujer coja, entwickelt nach dem
spanischen Sprichwort sogar eine besondere sexuelle Vir-
tuosität. Analog scheint die Schiefheit dem geistigen Leben
förderlich zu sein. Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine
solche Ausnahme war D'Alengon, Sohn eines Pedells im
pariser Parlament und sein Nachfolger in diesem Amt; er
wollte für geistreich gelten, es glückte ihm aber nicht,
daher der gleichfalls buckelige Abbe de Pons verächtiich
von ihm sagte : Cet animal-lä dSshonore le corps des hossus. Es
— 106 —
war derselbe Pons, der jeden Buckeligen, falls derselbe
nicht leugnete, mon eher confrh-e anredete.
Gewisse Naturfehler bewirken oft bestimmte psycho-
logische Effekte. Schwerhörige sperren nicht bloss unwill-
kürlich den Mund auf, sondern werden auch leicht miss-
trauisch; Le Sage, der Autor des Oü Blas, machte in dieser
Beziehung eine rühmliche Ausnahme. Le Sage war halb
taub, aber doch heiteren Gemüts, er lachte über seinen
Fehler, lustig bis zum Kaustischen. Er konnte nur mit
Hülfe eines Hörrohrs hören: das ist mein Wohlthäter, meinte
er. Ich gehe in ein Haus; ich finde neue Gesichter; ich hoffe, es
werden geistreiche Leute darunter sein; ich nehme mein liebes Hör-
rohr, Ich sehe, es sind Dummköpfe; augenblicklich stecke ichs
wieder ein und sage: jetzt kommt und langweilt mich! —
Doch wir kommen zurück auf die leiblichen Ana-
logien. Das Wort Symptom bedeutet eigentlich eine Er-
scheinung, die mit einer Krankheit zusammentrifft oder zu-
sammenfällt (avfjLnLiCTBi) und die eben dadurch zur Verräterin
der Krankheit wird. Es wäre nun wohl schön, wenn es
solche Zusammenfalle auch im normalen Zustande gäbe und
auch die Gesundheit ihre Semiotik hätte. Unzweifelhaft hat
sie die; wie würden wir sonst von roten Wangen und über-
haupt von gesundem Aussehen reden? — Nur dass fast jeder
Mensch seine eigene Gesundheit hat und daher auch die
Zeichen der Gesundheit von Individuum zu Individuum
merklich wechseln. In einem sehr weiten Sinne könnte
man ja sogar die sogenannten vier Temperamente, sofern
das Vorherrschen eines bestimmten Saftes in der Mischung
doch immer etwas Abnormes hat, als eine Art konstitutio-
neller Krankheiten betrachten, die den ganzen Habitus be-
stimmen und in der Farbe des Haares und des Gesichtes,
in der Kälte und Wärme des Blutes, in der grösseren oder
geringeren Korpulenz, im Gang und in der Stimme zu
Tage treten.*) Man wird sich nach näherer Prüfiing gleich-
*) Berühmt ist der Kupferstich Chudowieckis : Die vür Temperamente vor
— 107 —
wohl sagen, dass die vier Temperamente am Ende nur vier
verschiedene Formen der Gesundheit sind, die letztere
demnach ihre ganz verschiedenen, unvereinbaren Zeichen
hat, demnach an denselben nur ausnahmsweise und schwier
zu erkennen ist. Überhaupt aber schliesst der Begriff der
Gesundheit, da dieselbe ein Zustand des ganzen Organis-
mus ist, streng genommen ein bloss lokales Auftreten der-
selben aus, wenngleich nicht geleugnet werden soll, dass
sich das Allgemeinbefinden an einzelnen Stellen, zum Beispiel
im Gesicht und in den Augen (beim Hund in der feuchten
Nase) vorzugsweise spiegelt, sintemal schon Hippokrates ge-
sagt hat, dass sich der ganze Körper so verhalte wie das Äuge,
Dafür lassen sich unter der Voraussetzung der Ge-
sundheit Vergleiche zwischen den einzelnen Körperteilen
ziehen und Verhältnisse aufstellen, die noch mehr als blosse
Hinweise enthalten. Bekanntlich zeigt das Skelett des
Menschen eine vollkommene Symmetrie, indem alle Kno-
chen, die nicht in der Mittellinie des Körpers liegen, paarig
und auf beiden Seiten gleich gebildet sind; und die Gestalt
der einzelnen Knochen hängt mit dem Bau des ganzen
Körpers so innig zusammen, dass ein Bein dem Anatomen
die wichtigsten Aufschlüsse über seinen einstigen Träger zu
geben und von vorweltlichen Faunen zu erzählen vermag,
denn aus der Form des KJriochens erkennt er, welcher
Klasse das Tier angehört und wie es im übrigen beschaffen
ist. Und wenn es wahr ist, dass die besten Schützen blaue
Augen haben — dass das linke Auge schärfer als das rechte
sieht und die Natur den linken Hoden grösser als den rechten
bildete, wenigstens bilden ihn die alten Bildhauer regel-
mässig so — dass das Herz (dessen krankhafte Erweiterung
man als Ochsenherz bezeichnet) an Grösse der geballten Faust
gleichkommt, indem das Volumen desselben weniger nach
einem Gemälde, welches den Abschied des Calas darstellt. Der Choloriker ballt
die Faust und stampft mit demFusse; der Sanguiniker weint; der Melancholiker
starrt traurig vor sich hin; der Phl^^atiker sitzt gelassen auf einem Stuhl,
Calas, das bekannte Opfer des religiösen Fanatismus.
— 108 -
dem Mute als nach dem Blutgehalte wechselt — dass die
Nase, wie die Rabbinen behaupten, die Länge des kleinen
Fingers hat — dass der menschliche Körper nach dem
Goldenen Schnitte eingeteilt ist, indem der Schnitt in die
Taille fällt, und dass derselbe mit dem Kanon des Polyklet
identisch ist: so Hesse sich auch an gewisse andere Pro-
portionen glauben, die Neugierde und Lüsternheit in Kloster-
mauern ausgeheckt haben mögen. Es heisst, dass für das
männliche Glied die Nase und für die weibliche Scham
einerseits der Mund, anderseits der Fuss charakteristisch sei:
Ad formam nasi dinoscitur basta baiardi*)
und mit Wiederholung dieser Analogfie:
Noscitur ex labiis, quantum sit virginis antrum;
Noscitur ex naso. quanta sit hasta viri.
Die nahe Beziehung der Lippen zu dem Geschlechts-
leben wird durch den Kuss und das Schnäbeln der Vögel
bewiesen; und mit der Semiotik des weiblichen Fusses
könnte es zusammenhängen, dass die Männer bei den
Frauen überall soviel auf hübsche und kleine Füsse geben.
Wohlbekannt ist die Erzählung des Altertums, dass die
schöne Rhodopis einst in Naukratis badete und ein Adler
eine ihrer Sandalen aufhob, damit wegflog und den Schuh
dem König von Ägypten in den Schooss fallen liess, als
derselbe eben in Memphis Recht sprach. Überrascht von
der Seltsamkeit des Vorfalls und von der besonderen Nied-
*) Baiardus eigentlich ein (rotbraunes) Pferd, so {Bayard) hiess das
Ross Rainalds von Montalban, eines der vier Haimonskinder ; hasta^ der Spiess,
ein bekanntes phänisches Symbol, mit dessen Spitze der römische Bräutigam
das Haar der Braut am Tage der Hochzeit scheitelte {hasta caelibaris^ vergleiche
Seite 28). Zur Sache vergleiche das Epigramm von Martial: VI, 36. Charak-
teristisch für die Stärke des Geschlechtstriebes ist nach Lavater die Habichts-
oder die Adlernase, wie sie zum Beispiel der Apostel Paidus (nebenbd auch
Dante und Schiller, beides äusserst sinnliche Naturen) hatte, daher derselbe denn
auch (2. Korinther XII, 7) über den Pfahl im Fleische klagt {cxoko'ip ty accQxC),
Dass der Apostel mit diesem bildlichen Ausdruck seinen starken Geschlechtstrieb
bekenne, ist wenigstens die Meinung der römisch-katholischen Exegeten. Sie
scheint die natürlichste.
— 109 —
lichkeit der Sandale, ruhte der König nicht, bis er die
Eig-entümerin derselben ausfindig gemacht hatte, und sobald
dies geglückt war, machte er Rhodopis zu seiner Königin
(Strabo und Alian).
An die geheimen Analogien, welche unser ehrwürdiger
Pater oben in lateinische Verse gebracht hat, lässt sich um
so eher glauben, als das Geschlecht selbst in einem offen-
baren Zusammenhange mit der ganzen Körperbildung steht.
Der Physiolog spricht von GeschlechtscharMeren, und sie sind
bei Menschen und Tieren massenhaft vorhanden. Ein auf-
fälliger Geschlechtscharakter ist der Bart, den auch der
Affe und der Ziegenbock besitzt; bei manchen Tieren sind
die Männchen ausserdem durch Homer, lebhaftere Farben
und eine stärker entwickelte Stimme ausgezeichnet. Die
Frauen haben statt des Bartes längere Kopfhaare. Der
Mann ist in der Regel grösser als das Weib; seine Formen
sind eckiger, während die des Weibes, bei dem das Unter-
hautfettgewebe reichlicher vorkommt , grössere Rundung
haben. Das Weib hat verhältnismässig einen längeren
Rumpf, breitere Hüften und ein weiteres Becken als der
Mann; der Mann hat verhältnismässig längere Extremi-
täten, einen stärkeren Unterkiefer, einen umfangreicheren
Kehlkopf und einen breiteren und tieferen Brustkasten als
das Weib. Nicht bloss, dass der kleine Fuss der Frau die eben-
erwähnte sexuelle Semiotik besitzt, das weibliche Geschlecht
bringt überhaupt kleinere Füsse hervor als das männliche.
Aus dem grösseren Umfange des Beckens ergibt sich eine
grössere Entfernung der Hüftpfannen und die eigentümliche
Stellung der Oberschenkel nach innen, der Unterschenkel
nach aussen hin, eine leichte Art von Bäckerhein; im An-
schluss daran ist der Gang des Weibes schwankender, sein
Stand unsicherer als der des Mannes. Die Geschlechter
haben ihre eigentümlichen Zustände, ihre eigentümlichen
Krankheiten — es liesse sich noch viel anführen, das Vor-
stehende mag genügen, die aufgestellte Behauptung zu er-
härten und zu zeigen, dass der ganze Organismus mehr
— 110 —
oder minder deutlich von den Geschlechtswerkzeugen und
deren Hilfsapparaten, die alle diese Unterschiede nach sich
gezogen haben, spricht.
Ja, es heisst, dass die gesamte hintere, die Scham-
glieder enthaltende Körperpartie der edlen vorderen, die
Posteriora den Anteriortbus und das Gesäss dem Gesicht
auf das genaueste entsprechen, eine Auffassung, die das
Volk offenbar selber teilt, indem es den Backen die Hinter-
hacken, der Brust eine Hinterhrust und dem Mund ein Hinter-
maul entgegensetzt; der letztere Ausdruck ist von Luther.
Diese Korrespondenz erstreckt sich bis auf die anhaftenden
jMale und Leberflecken. Dulcinea hat ein Muttermal auf
der rechten Seite der Oberlippe, wie ein Schnurrbärtchen.
Vermöge der Übereinstimmung, welche zwischen den Malen im Gre-
sieht und denen am Körper obzuwalten pflegt^ sagt Don Quixote,
muss Dulcinea ein ähnliches Mal oben am Schenkel haben, an der*
selben Seite, wo es ihr am Gesicht sitzt (Don Quixote li, Kapitel lo).
Ich glaube, der edle Ritter ist nicht ganz genau berichtet,
denn der Mund entspricht der Mitte, die rechte Wange
aber würde dem linken, die linke Wange dem rechten
Hinterbacken entsprechen. Wenigstens ist das die Theorie,
die Casanova Esther auseinandersetzte (M^moires Tome rv, Cha-
pitie i) und auf Grund deren er der schönen Holländerin
ein wichtiges Geheimnis verraten hatte (Memoires, Tome iii, Cha-
pitre 19). Unsere Frauen pflegen wohl die sogenannten
Temperamentsblätter um dergleichen Kleinigkeiten zu be-
fragen, danach bekommt zum Beispiel ein Kind, das vom
Januar zum Februar geboren ist, ein Mal am linken Arm.
Wenn sie erst wüssten, dass sich alle Male, die sich im
Gesicht, am Kinn, am Nacken, auf den Armen und an den
Händen finden, an andern, korrespondierenden Teilen Avie-
derholen! —
Wir werden hiernach ein Missverständnis begreifen,
dessen Opfer einst Gibbon, der berühmte Verfasser der
History of the decline and fall of the Eoman empire geworden
ist. Der ausgezeichnete Mann, dessen Name eine Affenart
— 111 —
bezeichnet, hatte keine starke Konstitution, aber einen un-
geheuren Kopf wie Hugo Capet und ein Gesicht wie einen
Globus, fast ohne Nase, Augen und Mund — die beiden
vorderen Hemisphären verschlangen sozusagen alles; sie
waren über alle Massen breit und pausig und ausser Ver-
hältnis, dass man es kaum für möglich halten sollte. So
ward er einst in Paris der bekannten Madame Du DefFand
vorgestellt, die, vollständig erblindet, um sich von ihnen
eine Idee zu machen, die Leute im Gesicht zu befühlen
pflegte. Als sie dieses Monstrum zwischen die Finger be-
kam, stiess sie den Gast zurück und rief empört: Yoüä une
infame plaisanterie! — Die blinde Marquise glaubte, man
habe sich einen Spass mit ihr gemacht.
III. Leib und Seele.
Die Enthüllung der Mumie des Königs Ramses II. — seine mächtige Habichts-
nase — die königliche Nase — die Nase das Aushängeschild des Charakters
und immer vielsagend — Nasen, die bedeutende Männer gehabt haben — die
Ohren und das Ohrläppchen — die Augen, ein Spiegel der Seele, ein Prüfstein
der Gesundheit, ein Massstab für das Alter — Taubstumme und Blinde — die
Accessorien an den Augen: die Angenbrauen und der Hoffartsmuskel — die
verschiedenen Formen der Hand: die sensible und die motorische, die weibliche
und die männliche Hand — die psychische und die elementare Hand — die
Handfläche — ex ungue leanefn — die Handschriftendeutung — der Mimd und
die Lippen — hiermit sind die Sinnesorgane erledigt und wir sehen uns den
ganzen Menschen an — die Statur — Homo longus raro sapiens, sed si sapiens
sapientissimus — Vorliebe grosser und dicker Männer für kleine und zarte
Frauen — Vir pilosus aut libidinosus aut fortis — der Herakles Melampygos —
das Haar — alles ist in seiner Art charakteristisch: der Gang, das Lachen —
die Hässlichen — sie haben häufig Glück in der Liebe — Krates und Hippar-
chia, der Herzog von Lauzun, Rizzio — Don Quixote und Matthias Claudius
über die Schönheit.
Wir sind (l Juni 1886) in Bulak, der bekannten Vor-
stadt von Kairo, in der SoXle des Momies Royales des Ägyp-
tischen Museums, und wohnen der Enthüllung einer Mumie
bei, die der Direktor der ägyptischen Ausgrabungen Gaston
Maspero in Gegenwart des Vizekönigs vornimmt.
— 112 —
Es ist der Leichnam des grossen Königs Ramses U.,
der hier nach drei Jahrtausenden in ganz wunderbarer Er-
haltung wieder an das Licht des Tages kommt — kein
Wunder, wenn wir der Aufwickelung der Leinen- und
Musselinbandagen mit Spannung entgegensehen.
Ein Greis: die schlichten weissen Haare über dem Ohre,
die in einer aufstrebenden Locke vereinigt sind, zeigen den
alten Mann an, der siebenundsechzig Jahre lang regierte.
Aber ein schöner, kraftvoller, im Vergleich mit anderen
beinahe jugendlicher Greis, Auf einem hohen Körper (die
Mumie misst an i,8o Meter) sitzt ein grosser, äusserst
charakteristischer Kopf, an welchem vor allem die mächtige
Habichtsnase auffällt Hochgesattelt steigt das Nasenbein
im Bogen zu den schmalen, feinen Nasenflügeln herab.
Grosse Augen mit sehr nahe gestellten Augenwinkeln, ein
selbst heute noch schwulstiger Mund mit langen Lippen,
aber vollkommen geschlossen, nicht eingefallen, mit wahr-
scheinlich noch gut erhaltenen Zähnen, und ein breites,
hohes, vom Munde senkrecht abfallendes Kinn geben dem
Gesichte ebenso wie die zurückliegende schmale Stirn ein
höchst bestimmtes, unverkennbar ägyptisches Gepräge, wie
man es heute noch bei einzelnen Kopten findet. Merk-
würdig lang ist der noch von Leinenhüllen verdeckte Hals,
die Schultern wie bei den heutigen Ägyptern wag^echt
ausladend, breite Brust, lange starkknochige Hand, deren
einzelne Phalangen sechs und fünf Centimenter messen.
Wie? Nach zweiunddreissig Jahrhunderten wird man noch
gestört? Nach Jahrtausenden muss noch die verschlafene
Physiognomie dem Physiognomiker Rede und Antwort
stehen? — Sie thufs -— leise, aber vernehmlich und feier-
lich spricht sie zu einem Geschlechte, das ihr fremd ist,
wie sie vor grauen Jahrtausenden zu ihren Freunden und
zu ihren Feinden, den Cheta, gesprochen hat; denn schon
vor Jahrtausenden, in der XIX. Dynastie des altägyptischen
Reiches, animi imago wMvs erat.
Was sagte wohl die stolze, verachtende, kühngeschwun-
— 113 —
g-ene Nase des alten Königs, der den Nachkommen als
ein Herrscher ohnegleichen erscheinen sollte? — Es heisst,
die Nase sei an der gesamten Physiognomie das Aller-
wichtigste — in mehr als einer Redensart wird die Nase
^vermöge einer Synekdoche) für das ganze Gesicht genommen
— eine grosse oder kleine, eine lange oder kurze, eine
bedeutende oder unbedeutende Nase ist fast gleichbedeutend
mit einer bedeutenden oder unbedeutenden Person. Die
Nase ist wie das Organ, mit welchem der Verstand durch
Nacht und Nebel durchdringt; sie ist das Aushängeschild des
Charakters und der äusserliche Massstab, der an das Inge-
nium angelegt werden kann; der erste Napoleon (der selbst
eine schmale und spitze Nase hatte) ging, wenn es sich
um die Besetzung einer Stelle handelte, immer nach der
Nase des Kandidaten und nach seiner Naseweisheit: naseweis
sein heisst eigentlich eine weise, mit feinem Gerüche be-
gabte Nase haben, wie sie die wirklich naseweisen Jagd-
hunde besitzen; und hat erst allmählich einen tadelnden
Sinn und die Bedeutung des Älles-wissen-und-verstehen-wollens
angenommen. Zwar haben Sokrates und Boerl\p.ve Stumpf-
nasen gehabt, und die Nase Michelangelos war geplatscht
und eingedrückt wie eine Heringsnase, so auffällig breit
gequetscht, dass man seinerzeit ein Monument, welches in
dem Kloster bei der römischen Apostelkirche stand, des-
halb irrtümlich für das Grabmal des berühmten Künstlers
hielt, weil die Figiu: des Verstorbenen die Michelangelosche
Quetschung der Nase zeigte, während dieselbe doch von
einer Beschädigung herrührte. Und diese drei Männer sind
doch gewiss nicht beschränkt gewesen oder sinnlich und
träge. Indessen wir wollen hier an die Anekdote erinnern,
die oben von Sokrates erzählt ward; und nebenbei konsta-
tieren, dass Dante eine Habichtsnase, der Apostel Paulus
eine Adlernase, Schiller eine römische, Erasmus eine grie-
chische, die Königin Elisabeth von England überhaupt eine
grosse Nase hatte und uns mit diesen Beispielen trösten,
denen wir, um die Regel zu bestätigen, noch sehr viele
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. O
-^ 114 —
hinzufügen könnten. Eine charakteristische Nase ist immer
vielsagend und gibt viel zu denken — spitze Nase un spitzen
Kinn, daar sitt der levendige Düvel in — und eine krumme
Nase ist allein ein beissender Spott, auch wenn sie der In-
haber noch nicht rümpft und uns nach der Anweisung des
Horaz
naso suspendit adunco.
So mans haben kann, ist es in der That hübsch, wenn
jeder König wie Ramses 11. eine Adlernase hat, die wie
der Schnabel des Adlers von der Mitte an gebogen ist und
die Plato des stolzen Wurfes wegen ausdrücklich die könig-
liche nennt — wenn der kleinere Edelmann, der arme Land-
junker, den die Franzosen Baumfalk (hohereau) und die Spa-
nier Lerchenstosser (tagarote) nennen, auch einen Geierschnabel
führt — und wenn die Kammerjungfer ein artiges Stumpf-
naschen bekommt. Kleine, kurze, aufgeworfene Nasen, welche
von den Tataren als Schönheit betrachtet werden, schicken
sich gut zu den neugierigen, naiven, naseweisen Kammer-
kätzchen. Ist es möglich, rief Soliman IL aus, dass so ein
vertracktes Nischen die Gesetze eines Reiches umwerfe! — Er meinte
das Naschen der schönen Roxelane, seiner Favoritin, einer
geborenen Russin, die vielleicht einmal keine Kartoffelnase
hatte.
Der Nationalökonom Wilhelm von Hermann in Mün-
chen hielt dagegen die Ohren für besonders charakteristisch.
Er sagte: sie sind das Erste, was sich beim Embryo bildet,
das Letzte, was im Tode seinen Dienst versagt; Sterbende
sollen noch hören, wenn sie sich schon nicht mehr regen.
Es ist also nicht mehr als billig, dass sie an der Gestaltung
des ganzen Organismus einen hervorragenden Anteil neh-
men. In der That haben nicht nur niedrige Rassen, wie
z. B. die Neger, Ohren von erschreckender Hässlichkeit;
man wird auch bei bedeutenden Männern nicht selten be-
deutende, eigentümlich gespannte Ohren finden. Ciceros
und Liebigs Ohren sind höchst bemerkenswert. Ja, man
hat beobachtet, dass allein die Genies eigentliche Ohr-
. — 115 -
läppchen besitzen, die bekamntlich den Tieren fehlen und
bei Dummköpfen angewachsen sind. Die Ohrmuschel
ist an sich eine Art von Auszeichnung, kein im Wasser
lebendes Säugetier besitzt sie, ausser den Ohrenrobben:
der Seehund, dessen Augen einen so klugen, menschen-
ähnlichen Ausdruck haben, entbehrt eines äusseren Ohres,
sein Gehörgang ist nur durch eine Hautfalte verschliess-
bar. Lange Ohren nennen wir zwar Eselsohren; aber
wer weiss, ob der Esel nicht mit seinen langen Ohren
mehr und besser als die übrigen Tiere hört und deshalb
so eigensinnig ist? — Vor hundert Jahren hatten gutge-
schulte Leute meist härtere Schädel und längere Ohren; der
ausgezeichnete Johann George wScheffher liebte es, sein
rechtes Ohr zu zeigen, das durch anhaltendes Zupfen um
sieben Centimeter länger als das linke geworden war. Man
könnte demnach lange Ohren als einen Vorzug ansehen,
so gut wie grosse Augen.
Die Augen — ja freilich, die Augen! Warum haben
wir nicht gleich an sie gedacht? In den Augen liegt ja der
Mensch, selbst die Tiere gucken ihm darnach; Porta wid-
mete ihnen das ganze dritte Buch. Die Augen sind ein
Spiegel der Seele und ein Prüfstein der Gesundheit, ja
sogar ein Massstab für das Alter; denn nicht nur, dass der
Blick mit den Jahren ein anderer wird, indem das Kind
gedankenlos umherblickt, der Mann den Gegenstand fixiert,
der Greis in die Feme sieht: auch die Farbe des Auges,
die Farbe der Iris oder der Regenbogenhaut und das so-
genannte Weisse im Auge erleiden um das vierzigste Jahr
herum eine merkliche Veränderung, beziehungsweise Trü-
bung; nur wenige bevorzugte Naturen erhalten sich die
eigentümliche Frische und Klarheit des jugendlichen Auges
bis zum Tode, so z, B. Friedrich der Grosse und Goethe.
Greboren werden wir alle mit blauer Regenbogenhaut, wie
wirs mit blonden Haaren werden, aber nach der Geburt ändert
sich die Färbung. Indessen um bei dem stehenden Aus-
druck dieses edlen Organs zu verweilen — jedermann kennt
- 116 -
die sanften blauen Augen, die bald schwärmerisch erglühen,
bald in ruhiger Kälte leuchten, jedermann die feurigen
schwarzen Augen, die bald leidenschaftlich lodern und
gleichsam Funken sprühen, bald unergründlich wie tiefe
Brunnen sind, jedermann die schönen, klaren Augen des
überlegenen Philosophen und die geröteten, begehrlichen
Augen roher Sinnesmenschen. Es kommt Vieles zusammen,
was dem Auge seinen Ausdruck und seine Beredsamkeit
verleiht; seine Bedeutung liegt durchaus nicht bloss in der
Farbe, in der Grösse und in dem Glänze des Organs, son-
dern auch, ja sogar hauptsächlich im Blick, das heisst, in
der eigentümlichen Art, die Augen zu bewegen. Es gibt
listige Blicke, durchdringende Blicke, verliebte Blicke,
strafende Blicke, traurige Blicke, heitere Blicke — die
letzteren sogar an hübschen Punkten auf der Mutter Erde.
In den Augenwinkeln sitzen die Falten, welche die Lust
am Lachen und am Spott anzeigen.
Der Anblick der Taubstummen hat nichts so trauriges
wie der der Blinden, denen gerade das fehlt, wodurch das
Innere des Gemüts sich am lebhaftesten offenbart, das
Licht des Auges; den Taubstummen ist das Auge das
Werkzeug, welches den Mangel des Gehörs ersetzen muss,
daher ist es äusserst lebhaft, beweglich, fixierend, und dies
gibt ihnen ein geistreiches, ja oft pfiffiges Ansehen und
einen Anflug von Espieglerie,
Und die Accessorien an den Augen sind nicht ausser
acht zu lassen. Die Beschattung durch die Wimpern,
welche der Wirkung eines vor dem Auge ausgebreiteten
schwarzen Flores gleicht — die Form und Stellung der
Augenlider — die Augenbrauen, welche die Alten als Sitz
des Hochmuts ansahen, wie bei uns einer der sechs Augen-
muskeln, der den Augapfel hebt, der Hoffartsmuskel heisst.
Horaz verlacht die pedantischen Maximen der Philosophen
und das supercüium stoicum. Zusammengewachsene Augen-
brauen, wo der haarlose Raum zwischen den beiden Bogen,
und das, was die Franzosen la gldbelle nennen, fehlt, hielt
— 117 —
Aristoteles für Anzeichen von Grämlichkeit und Melan-
cholie. Gewöhnlich aber galten sie im Altertum für eine
Schönheit, namentlich bei Frauen: Anakreon bewundert
diese Spezialität an seinem Mädchen, und zur Zeit Ovids
malte man sie sich künstlich, die kahle Stelle ausfüllend:
arte supercilii confiDia nuda rq^lebant
Artis Amatoriae Über III, 201.
Wir nennen Menschen, deren Augenbrauen über der
Nase zusammenstossen, Bäzely und halten sie nicht sowohl
für rätselhaft als vielmehr für bösartig und grausam, aber
eher für heiter und sinnlich, als für melancholisch. Es
scheint, dass Aristoteles die zusammengewachsenen Augen-
brauen für solche genommen hat, die gleichsam von Natur
zusammengezogen sind, wie das geschieht, wenn wir die
Stime runzeln.
Porta riet seinem Sohne: Wenn du mit einem Lump oder
mit einem Verbrecher sprichst, so sieh ihm mehr auf die Hände
als auf das Gesicht Vielleicht meinte er damit nur, dass
es bei Menschen, die lange Finger machen, nicht angebracht
sei, physiognomische Studien zu treiben; möglich aber
auch, dass er die Hände von Verbrechern für vorzugsweise
charakteristisch ansah. Gewisse Physiognomiker geben
überhaupt alles auf die Hand, z. B. Karl Gustav Carus, der
über Grund und Bedeutung der verschiedenen Formen der Hand
bei verschiedenen Personen ein eigenes Buch geschrieben hat
(Stuttgart 1846). Sie unterscheiden zwei Sorten Hände: die-
jenige Hand, bei welcher der Charakter als Sinnesorgan,
und diejenige Hand, bei welcher der Charakter als Greif-
organ vorwaltet. Dieser Unterschied ist dem der Empfin-
dungs- und Bewegfungsnerven analog; die eine Hand wird
daher auch die sensible oder sensitive, die andere die mofo-
rische Hand genannt. Jene ist zart und feingegliedert,
massig gross, sehr weich; sie lässt auf ein Überwiegen des
Gefühlslebens, auf ideale Neigfungen, zugleich auf Schwach-
heit schliessen. Diese ist stark und kräftig, gross, sehnig
und muskulös, wie die Hand des russischen Trompeters in
— 118 —
Castans Panoptikum; sie lässt auf Energie und Mut, auf
Brauchbarkeit im praktischen Leben schliessen. Man könnte
die sensible Hand auch die weibliche, die motorische Hand
auch die männliche Hand nennen. Eine sensible Hand hat
z. ,B. Frau Pauline Lucca oder die Königin Victoria von
England, Correggio trifft sie bei seinen Madonnen bewun-
derungswürdig; eine motorische hatte z. B. der römische
Kaiser Maximinus I., dieses historische Vorbild des Königs
Gargantua, dabei doch kein unschöner Mann: auf seine
Hand kann man einen Schluss ziehen, wenn man liest, dass
sein Daumen so stark war, wie das Handgelenk einer Frau,
und dsiss er das Armband seiner Gemahlin als Ring
brauchte.
Don Quixote zeigt der Wirtstochter und Maritornes
seine Hand: Ich gehe sie euch nicht zum Küssen, sagt der Held,
sondern damit ihr seht, wie fest das Gewebe ihrer Nerven, wie
kraftvoll der Bau ihrer Mmkeln und une breit und strotzend ihre
Ädern sind, woraus ihr entnehmen könnt, wie mächtig der Arm
sein muss, welchem sie gehört.
Daneben unterscheidet Carus noch die elementare und
die psychische Hand, erstere die unvollkommenste, letztere
die vollkommenste von allen; sie wird von den Künstlern
gewöhnlich Christus gegeben, z. B. auf dem Zinsgroschen von
Tizian. Eine ähnliche Hand hat unter Anderen der Gene-
ralfeldmarschall Moltke. Die psychische Hand vereinigt
die höchste Kraft mit der höchsten Feinheit, ihre Finger
sind lang und schmal, aber elastisch wie stählerne Sprung-
federn; sie ist beinahe ein untrügliches Zeichen von Genia-
lität. Porta junior wird dagegen bei den empfohlenen Sub-
jekten selten andere als viereckige und breite Hände mit
kurzen und dicken Fingern gefunden haben, das heisst ele-
mentare Hände. Aber auch abgesehen von diesen Grund-
formen ist an der Hand noch mancherlei zu beachten.
Zunächst die Handfläche, welche der Gegenstand einer
wissenschaftlichen Chirognomie, keiner willkürlichen
Chiromantie sein soll. DesbaroUes behauptet, dass die
— 119 —
an der linken Seite, will sagen an der Kleinfingerseite,
stark entwickelte Handfläche auf Mordlust hindeute, wäh-
rend die Länge des Daumens auf einen unbeugsamen Wil-
len schliessen lasse. Ist die um den Ansatz des Daumens
laufende Lebenslinie tief und breit, so verrät das nach
demselben Beobachter gleichfalls verbrecherische Instinkte.
Femer die Wärme und Feuchtigkeit der Hand. Heiss^ heiss
und feucht, ruft Othello bedenklich aus; dies deutet Fruchtbar-
keit, freigebigen Sinn, Kalte Hände, warme Liebe, sagt dagegen
ein Sprichwort, das in vielfachen Modifikationen durch ganz
Europa geht. En(Jlich auch die Beschaffenheit der Finger-
nägel. Ex ungue leonem. Sind die Nägel länglich und
schmal, so darf man auf Phantasie, poetische Anlage und
Trägheit schliessen. Sind sie lang, breit und flach, so ver-
raten sie Klugheit und gesunden Menschenverstand. Breite
und kurze Nägel deuten auf Jähzorn, Streitsucht und Eigen-
sinn. Rötliche auf Gesundheit und Heiterkeit; vielleicht
färben deshalb die orientalischen Frauen die Nägel der
Finger und Zehen mit Alhenna orangerot. Harte und
spröde auf Grausamkeit und Mordlust. Weiche und bieg-
same auf Schwäche. Klauenförmig gebogene auf Bosheit
und Heuchelei. Kurze, bis aufs Fleisch abgebissene auf
Sinnlichkeit und Dummheit. Cardanus wollte gar die Zu-
kunft aus den Flecken erkennen, die sich auf seinen Nägeln
bildeten; zum Beispiel behauptete er, die Einkerkerung
seines Sohnes aus einem roten Flecken auf dem Nagel des
Mittelfingers erraten zu haben, der nach der Hinrichtung
verschwand. Er hat weitläufig über diese Fleckchen ge-
handelt in seinem Werke: De rerum varietate, und namentlich
in dem anderen: De suhtilitate, Cardanus hätte vielleicht
auch erklärt, warum man keine Zahnschmerzen bekommt,
wenn man seine Nägel Freitags schneidet. Notabene, man
soll sie rite kreuzweise schneiden, das heisst, an Händen
und Füssen übers Kreuz schneiden, erst die linke Hand
nehmen, dann den rechten Fuss, hierauf die rechte Hand
und endlich den linken Fuss.
— 120 --
Nach dem Vorhergehenden scheint es, dass vor allein
den Sinnesorganen eine physiognomische Bedeutung inne-
wohne; es ist dies auch ganz natürlich, massen diese Organe
gleichsam die Extremitäten und die vorgestreckten Fang-
arme des Geistes selber bilden. Wir werden demnach auch
den fünften Sinn, den Geschmack und sein Hauptwerkzeug,
die Zunge, und ihren Wohnsitz, den Mund, nicht über-
gehen, obgleich wir uns in diesem Falle hüten müssen,
Beobachtungen aufzugreifen, die sich nur auf das Sprech-
werkzeug beziehen; wenn zum Beispiel gesagt wird: je
länger Zunge je kürzer Hand, oder je stärker die Zunge, je
schwächer die Arme, so leuchtet ein, dass das Volk keine
leibliche Ansdogie, sondern das häufige Missverhältnis
zwischen Worten und Thaten, Versprechungen und Leistun-
gen im Auge hat. Nur die grössere oder geringere Ge-
läufigkeit der Zunge, ihre Lösung oder ihre Schwere würde
für die physiognomische Diagnose eben so wichtig sein, als
es anerkanntermassen der Klang der Stimme, die Art
des Lachens oder die Handschrift ist, deren Deutung ja
eine eigne Wissenschaft, die Graphologie oder die Chirogram-
matomantie beschäftigt — schon Goethe hat sich für die
letztere interessiert, und in der That wird kein Menschen-
kenner leugnen, dass das geistige Wesen eines Menschen
auch in seiner Schrift bis zu einem gewissen Grade seinen
Ausdruck findet; dass die Handschrift sowohl den männ-
lichen als auch den weiblichen Charakter, die rasche Jugend
und das bedächtige Alter wiederspiegelt, dass bunte Kritze-
leien wohl Launenhaftigkeit, scharfe, spitzige Buchstaben
wohl Spottsucht, hintereinander versteckte wohl Argwohn,
karge und vorsichtig ausgegebene wohl Sparsamkeit ver-
raten mögen u. s. w.; und dass eine recht zierliche, überall
gleiche Handschrift, die toie gestochen aussieht, gleich einer
allzu sorgfältigen Toilette nicht gerade auf einen grossen
Geist und eine tüchtige Gesinnung, die Ecken hat, schliessen
lässt. Charakteristisch ist ja doch der ganz verschiedene
Ductus, den sogar unter den Nationen zum Beispiel die
— 121 —
Franzosen und die Engländer in ihren Briefen haben. Doch
liegen uns dergleichen sekundäre Charaktermerkmale einst-
weilen noch fem, wir wollen zunächst unsere fiinf Sinne
zusammennehmen und mit den Taubstummen die Kunst
lernen, vom Munde abzulesen.
Der Mund, das heisst die Mundspalte, deren Ränder
die Lippen sind. Sie, die ein so feines Gefühl für Druck
und Temperatur besitzen, deren Färbung so charakteristisch
ist, die den Liebeskuss ermöglichen, und deren reflektorische
Bewegungen bereits (am Ende von Abschnitt I des laufen-
den Kapitels) hervorgehoben wurden: haben ihre eigen-
tümlichen Laute unter den Konsonanten des Angesichts.
Dünne Lippen deuten auf Geiz und ein gewisses abstraktes
Wesen; fest geschlossene, im Grunde auch wieder mehr
ein mimisches als ein physiognomisches Merkmal, auf Cha-
rakterfestigkeit , auf Hartnäckigkeit und Energie. Der
Generalfeldmarschall Moltke hat zum Beispiel solche Lippen.
Gutschmecker sind kenntlich an einer eigenen Mundfalte,
sie machen den Eindruck, als ob ihnen der Mund beständig
wässere. Dicke, wulstige Lippen, wie sie eine Eigentümlich-
keit der äthiopischen Menschenrasse sind, verraten Trägheit
und Sinnlichkeit: ein Ldbeo oder Dickmaul mag nicht gern reden,
aber gern küssen. Namentlich wollüstige Frauen kennzeichnen
sich durch ihre dicke Unterlippe; eine solche wurde zum Bei-
spiel von den Journalisten bei der in letzter Zeit vielgenannten
Madame Limousin konstatiert. Dagegen kenne ich auch ein
volles, rundes Gesicht, dem kleine, geschwollene, kirschrote
Lippen und kleine Muttermale auf den Wangen und über
den Brauen einen Ausdruck grosser Gutmütigkeit verleihen.
Indessen, so wichtig auch die hauptsächlichen Sinnes-
organe für einzelne Charakterzüge sein mögen, das eigent-
liche Bild der Seele gewährt doch nur der ganze Leib, das
Meisterwerk der Schöpfung. Wer den Menschen beurteilen
will, muss den ganzen Menschen nehmen. Was hat er
für eine Statur? Ist er klein, ist er gross; ist er schmächtig,
ist er vierschrötig, ist es eine lange Latte? — Homo longtis,
122
raro sapiens, sagt ein bewährtes Axiom, und Baco bestätigt
es, indem er lange Lottiche mit hohen Häusern vergleicht,
deren oberster Stock leer steht; sed st sapiens, sapientissimiis,
fährt es fort. Der Herr Professor Hans Georg Konen
von der Gabelentz in Leipzig ist ein solcher Vir sapien-
tissimuSy und auch Schiller ist's gewesen. Der Schriftsteller
Bode, der Humorist Saphir, der Komponist Spohr waren
bekannt als grosse Menschen, während der grosse Napo-
leon wie Talbot eine recht kleine Figur abgab, die im
Kaisermantel in der Mitte der schönsten Männer von der
Armee komisch gelassen haben soll. Ist er hübsch dick,
oder wie sich die romanischen Völker realistisch ausdrücken,
fett? — Es war ein dicker Mann, folglich ein guter Mann, sagt
Cervantes, wobei man sich indessen zu erinnern belieben
möge, dass Nero dick und ein feister Nacken (cervix öbesa)
sein charakteristisches Merkmal gewesen ist; man könnte
wohl mit demselben Rechte sagen: es war ein dicker Mann,
folglich ein fauler Mann; und wieder ein andermal: es war
ein dicker Mann, folglich ein toitziger Mann, Eine bemerkens-
werte Thatsache ist die, dass grosse Männer, wie z. B. der
berühmte Bayle, eine ausgesprochene Vorliebe für zarte
und schlanke; kleine Männer dagegen, wie z. B. Makart,
eine solche für grosse, starke und volle Weiber haben.
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass sich die Frauen
in Marokko nudeln, um dick zu werden und so ihren
(mageren) Männern zu gefallen. Ist er an Brust, Bauch,
Armen und Schenkeln stark behaart und ganz rauch wie
ein Haarmensch? — Ei, ei; vir pilosus aut lihidinosus auf
fortis, starke Behaarung verrät entweder physische Kraft
oder Geilheit, die Geilheit des Bockes, der sich auch eines
zottigen Felles rühmt. Der grosse Conde teilte einst der
Ninon de Lenclos vielbegehrtes Bett, aber ohne sie zu be-
rühren. Verwundert betrachtete sie ihn: er war rauch wie
Esau. Da meinte die kluge Person mit Anspielung auf
den bekannten Erfahrungssatz und logisch denkend: Ah,
Monseigneurf Que vous devez etre fort! —
— 123 —
Wir sagen von einem ganzen Manne, er habe Haare
auf den Zahnen; die alten Griechen hielten die starke Be-
haarung der Steissgegend für ein Zeichen besonderer Mann-
haftigkeit Hercules hatte davon den Beinamen MeldfXTtvyog^
wörtlich Schwarzarsch f und auch andere tapfere und starke
Leute nannte man so; vielleicht hängt es damit zusammen,
dass man bei uns dem Adel diese lokale Hypertrichiasis
zuschreibt. Aber interessant ist es, dass man die abnorme
Behaarung des unteren Endes der Wirbelsäule in neuerer
Zeit in Griechenland bei Militäraushebungen von neuem
häufig beobachtet hat. Man bezieht sie auf Atavismus —
hei, was Nachkommen des Hercules! —
Die Länge des Haupthaars an sich ist kein gutes Pro-
gnostikon, wenigstens nicht für den Verstand, sintemal es
von den Frauen heisst, dass sie dessen wenig hätten: lange
Haare, kurze Gedanken, Auch trägt Hercules, trotz seiner
Melampygie, keineswegs langes, sondern krauses Haupt-
und Barthaar, wie die Italiener sagen a mallo, nach Art
eines Lammfells, wollähnlich wie es die Neger haben, wo-
bei er sich allerdings wieder das Sprichwort gefallen lassen
muss: krauses Haar^ krav^er Sinn, Ob Hercules auch ein
Schwarzkopf gewesen ist? — Zu einem solchen pflegt sich
Prinzessin Omphale ja schon allein grösserer Kraft und
eines feurigeren Temperamentes zu versehen; jedenfalls sind
wir überzeugt, dass sein Haar nicht rot gewesen sei, denn
von einem Fuchse und von einem Judas hat der Held wahr-
lich nichts gehabt; es weiss es ja jedermann: rotes Haar, kein
gutes Haar,
Schliesslich ist alles in seiner Art charakteristisch —
wie der Mensch geht und steht, wie er spricht und wie er
schreibt, wie er weint und wie er lacht, wie er sich räuspert
und wie er spuckt, ja, sogar wie er riecht*) — ob er die
*) Der heilige Josephus a Cupertino, der merkwürdige fliegende Heilige,
wusste das längst vor Professor Jäger. Er erkannte namentlich böse Menschen
am Gerüche.
- 124 -
Hände in den Hosentaschen hat oder ob er sie wie Napo-
leon in die Brusttasche zu stecken pflegt; ob er seine lange
Pfeife in der Hand hält wie der Dichter Klopstock, ob er
Zigarren oder Zigaretten raucht, ist dem Physiognomiker
nicht gleichgültig — nur durch die Zusammenfassimg der
verschiedensten Merkmale entsteht in seinem Kopfe das
intuitive Bild, worin sich das Wesen malt. Papst Innocenz IQ.
meinte, die Kinder, wenn sie geboren würden, weinten alle
über die Erbsünde, aber je nach dem Geschlecht verschieden:
die Knaben wimmerten Ä, die Mädchen wimmerten E, jene
über Ädaniy diese über Eva. Analog behauptete der ge-
lehrte Damascenus, jedes Temperament habe sein eigenes
Lachen: der eine lache Haha, der andere lache Hehe, der
dritte lache Hoho, der vierte lache Hihi — man könnte
vielleicht auch hier wieder ein männliches und ein weib-
liches Lachen unterscheiden und das volle herzliche Lachen
den Männern, das feine Kichern den Frauen überlassen.
Dergleichen Nuancen, wie sie von Geschlecht zu Geschlecht
und von Temperament zu Temperament obwalten, bestehen
natürlich erst recht von Individuum zu Individuum. Es
gibt ein so albernes Gelächter, ein so dummes Lächeln;
und es gibt ein so feines Lächeln; . ein Lächeln, das nur
denjenigen eigen ist, die über den Anderen stehen, ohne
es selbst zu wissen. Schon dass ein Mensch überhaupt
lacht, ist ja charakteristisch: M. Licinius Crassus, der Gross-
vater des Triumvirs, lachte nur einmal in seinem Leben
und bekam davon den Beinamen Ägelastus — Wallenstein
lachte nie — Demokrit lachte immer, während Heraklit
weinte, und er hiess danach der lachende Fhüosoph,
Wer den Menschen beurteilen will, muss den ganzen
Menschen nehmen. Er muss in dem Bilde der Seele, das
der Leib darstellt, wenn es für hässlich gilt, den schö-
nen Zug entdecken; er muss auch das nicht vergessen,
dass Wcihre Schönheit und wahre Hässlichkeit vor einem
höheren Richterstuhle nicht immer da gefunden werden,
wo der Pöbel diese Eigenschaften sucht. Nicht selten über-
— 125 —
nehmen Frauen dieses höhere Richteramt. Es gibt wohl
wenig arme, unglückliche Stiefkinder der Natur, die nicht
zu Zeiten einen Monolog wie Glocester, nachmals Richard III.
in Shakespeares König Heinrich der Sechste. Dritter Teil (III, 2)
gehalten und an aller Lust der Erde verzweifelt hätten.
Und bin ich also wohl ein Mann zum Lieben?
Aber sie haben deshalb nicht nötig, mit Richard ein Böse-
wicht zu werden. Sie mögen nur wissen, detss Hässliche gar
nicht so selten Glück in der Liebe haben, ja, dass es, wenn
sie einmal geliebt werden, eine tolle Liebe ist — ohne dass
man deshalb mit Labruyere anzunehmen brauchte, es müsste
hier noch ein versteckterer und stärkerer Zauber als der der
Schönheit vorhanden sein. Es ist auch Schönheit, aber
eine höhere und ungemeine Schönheit. Krates von Theben,
ein ausgezeichneter cynischer Philosoph und eine der ori-
ginellsten Erscheinungen in einer Zeit, die an sonderbaren
Charakteren Überfluss hatte; eine hässliche und misgestaltete
Figur, freiwillig arm, noch dazu ein strenger Sittenrichter,
der in die Häuser ging, um Kapuzinerpredigten zu halten,
und dabei namentlich das schöne Geschlecht unbarmherzig
mitnahm — - flösste Hipparchia, der Tochter eines der besten
athenischen Häuser, eine so glühende Liebe ein, dass sie
die reichsten Partien ausschlug und ihren Eltern drohte,
sich ein Leids anzuthun, wenn sie ihr nicht erlauben wollten,
den Philosophen zu heiraten. Die Eltern wandten sich an
Krates selbst, dem Mädchen das auszureden, und wirklich
that er sein Bestes; er wies Hipparchia seinen Höcker und
seinen Quersack mit den Worten: Hier ist der Bräutigam und
das ist sein Vermögen. Umsonst ; Hipparchia blieb dabei, sie
könne keinen schöneren und keinen reicheren Gatten finden.
Sie wurden wirklich ein Paar, und die Philosophenbraut
nahm die Tracht und die Manieren der Cyniker an und
stürzte sich in alle möglichen Excentrizitäten. Diogenes
Laertius erzählt aus der Ehe die interessantesten Anekdoten.
Dieser Fall steht durchaus nicht vereinzelt da. Der
Musikus David Rizzio, der Vertraute der schottischen Kö-
— 126 —
nigin Mairia Stuart, der von ihrem Gemahl in Holyrood-
house vor ihren Augen ermordet wurde, war imschön,
grämlich und geradezu abstossend; und wenn sich hier an
einem eigentlichen Liebesverhältnis zweifeln lässt, so ist
ein solcher Zweifel andere Male vollständig ausgeschlossen.
Der Herzog von Lauzun, Günstling Ludwigs XIV., war ein
hässlicher Zwerg, und doch machte niemand bei den Frauen
glänzendere Eroberungen. Die Königin von Portugal imd
ihre Schwester, Mademoiselle d'Aumale, waren leidenschaft-
lieh in ihn verliebt und losten, welche von beiden ihn
heiraten sollte. Um ihm ein Vermögen zu sichern, kamen
sie überein, dass diejenige, welche verlöre, ins Kloster gehen
und ihre Güter der anderen abtreten sollte. Gibt es in den
Annalen der Galanterie etwas Schmeichelhafteres für einen
Mann? — Gerade bei den Frauen, welche mehr ihren In-
stinkten folgen, pflegt die eigene, unberechenbare, launische
Natur der Liebe hervorzutreten; sie setzen sich leichter als
Männer über Gebrechen hinweg, wenn dieselben durch
andere gute Eigen$chaften kompensiert werden. Und das
ist bei hässlichen Individuen oft der Fall, sie haben oft
persönlichen Mut, Tapferkeit und Kühnheit, wie eben
Lauzun, oder wie der unscheinbare Turenne; sie besitzen
nicht minder häufig Geist, Bildung, Gelehrsamkeit, so der
verwachsene, vielfältig geplagte Pope, der Sänger des Op-
timismus. Und dergleichen Vorzüge werden von den mit-
leidigen Frauen nun gerade recht hoch angeschlagen.
Merke dir, Sancho, sagt Don Quixote (11, 58), dass es
zweierlei Arten von Schönheit gibt, die Schönheit des Körpers und die
Schönheit des Geistes. Diese letztere wohnt und offenhart sich in
dem Verstände, in der Wohlanständigkeit, im guten Betragen, in
der Freigebigkeit, in den feinen Sitten, Alle diese guten Eigen--
Schäften können sich auch bei einem hässlichen Manne finden, und
wenn man sein Augenmerk auf diese Schönheit richtet und nicht
auf die des Körpers, so pflegt die Liebe dadurch um so heßiger
und unwiderstehlicher zu wirken. Er hätte dazusetzen sollen,
dass sich diese geistige Schönheit trotzalledem auch in
— 127 —
dem verächtlichen Körper, in queste misere carni, spiegelt und
zum Beispiel den Blick der Augen, die Bewegungen der
Hände wunderbar verschönt.
Und von Matthias Claudius, dem gemütvollen Wands-
hecker Boten, sind uns die rührenden Worte aufbewahrt, die
jeder gute Sohn und jedes deutsche Mädchen beherzigen
sollte: Was ist äussere Schönheit? Es ist doch nur Schönheit des
Leibes j Glanz einer Zitternadel, darin kein edles Gemüt grossen
Wert setzen kann. Du hast sie dir nicht gegeben, und du magst
sie dir nicht erhalten , ein paar Jahre weiter , und sie ist dahin.
Auch schafft und nützt sie im Hause nicht viel. Auch ist
Schönheit nicht einmal das, was eigentlich Liebe macht. Den Kopf
kann sie wohl verdrehen, aber wahre, herzliche Liebe ist nicht an
sie gebunden. Sieh deine Mutter an: sie ist nicht mehr schön und
doch liebt sie dein Vater herzlich und trägt sie in seinen Augen.
Also ein Ding, das in sich keinen Wert hat, das nur kurz
währet, das im Hause nicht sonderlich nützt und nicht eigentlich
Liebe macht — so ein Ding ist die Schönheit. Mehr ist sie nicht,
und Ihr müsst mir nicht böse sein, Ihr schönen Mädchen, dass sie
nicht mehr ist! —
IV. Nationalität und Rasse.
Zur Beförderung der Menschenkenntnis — die Physiognomie nicht bloss ein Pro-
tokoll des Charakters, sondern auch ein Geburtsschein — die ethnographischen
Kenntnisse unserer Zeit, namentlich der Grossstädter — woran die Florentinerin
den Engländer erkennt — russische, römische, griechische, jüdische, deutsche
Nasen — Familiennasen, die Kaisemase — il Labbro Austriaco — der Nacken
des Polen, der Rücken des Friesen, die Steatopygie der Hottentottinnen —
Rassenmerkmale: die Hottentottenschürze — Geschöpfe der Wüste und Geschöpfe
des platten Landes — die Sitten und Gewohnheiten der Völker: Orient und
Occident — die Sitten sind nicht bloss an sich charakteristisch, sie hinterlassen
auch dauernde Spuren in der leiblichen Erscheinung — wie an der Nase, am
Kopfe, an den Geschlechtsteilen, am ganzen Körper herumgebastelt wird —
einseitige Thätigkeit und abnorme Lebensweise bei den Grossen: Lappen und
Tataren — sonstige Verunstaltungen durch unvernünftige Zierraten — Natur
und Erziehung — das Bild des Volkes.
Es ist etwas Schönes um die Menschenkenntnis, zu der
die Physiognomik ihren Anhängern verhelfen will. Je we-
— 128 —
niger mitunter in der falschen Welt auf Mienen und Worte
zu geben ist, um so eifriger muss man eine Sprache stu-
dieren, die nicht in der Gewalt der Menschen ist und die
sie nicht verstellen und unterdrücken können. Indessen
zu der Summe von Merkmalen, in denen sich der Charakter
und das geistige Wesen ausspricht, kommt noch ein Addend
hinzu, der erst in unserer Zeit, infolge der lebhafteren
Reisebewegung, allgemeine Beachtung gefunden hat: die
lange Reihe der Rassenmerkmale, der Nationaleigentüm-
lichkeiten und, wenn der Kreis enger gezogen wird, der
Familienzüge oder der Kennzeichen eines besonderen Ge-
schlechts. Die Physiognomie (und natürlich nicht bloss das
Gesicht, sondern die Gesamtphysiognomie) ist dcis Protokoll
des Charakters — sie ist auch wie ein Geburtsschein: der
Organismus verrät in Bau und Entwickelung, in Vorzügen
und Gebrechen Vaterland und Oeschlecht, Nationalität und
Rasse; in Ländern, die viel bereist werden, in grossen
Städten, wo viel Fremde zusammenkommen, in Residenzen
und an Höfen bekommen die Bewohner in der Ent-
zifferung dieses offenen, unveräusserlichen Dokumentes eine
merkwürdige Übung.
Tag für Tag, auf der Strasse, im Hotel, in der Ge-
mäldegalerie, im Empfangszimmer stellen sie ihre Diagnose.
Ehe er noch in Her Majesty^s best English debütiert, hat die
Florentinerin, die in den Uffizien malt, den Engländer
unterschieden: sie erkennt ihn an seiner Haltung, am
Gange, an den Lippen, an dem eisernen Kinne, an dem
ledernen Gesichte, an der tödlichen Langenweile. Allen-
falls könnte einmal ein Norddeutscher oder ein Holländer
englisch aussehen, nur dass dieser noch etwas mehr Phlegma,
jener noch etwas mehr Rasse hat; aber niemals wird unsere
Malerin den Engländer und den Franzosen verwechseln,
den die beweglichen, aber geistreichen Züge, die kleinen
Schweinsaugen und die affenartigen Komplimente charak-
terisieren. Und obgleich die russischen Geheimpolizisten,
von denen es beim Zarenbesuche wimmelt, verkleidet sind.
— 129 —
erkennt sie doch der Berliner an ihrer fremdartigen Er-
scheinung, an dem stechenden Blicke und an ihrer russi-
schen Nase, die man nicht mit Unrecht eine Kartoffelnase
nennt. Namentlich die russischen Frauen haben diese Nase
und runde Nasenlöcher, die eine ungezügelte Sinnlichkeit
verraten: wie sticht dagegen die regelmässige Schönheit
des griechischen Profils, die römische Adlernase, die jü-
dische Ramsnase, die geschwippte böhmische Nase und die
derbe, fast grobe, aber gerade und schroffe deutsche Ncise
ab, die Nase Martin Luthers! — Diese Nase fällt den
heutigen Römern so auf, dass sie die armen Deutschen
Froge, wörtlich Nasenlöcher oder Nüstern nennen; während
der Franzosenhasser Alfieri die Franzosen als Halbnasen
(Seminasi) bezeichnete. In Frankreich unterscheiden sich
die Schönheiten von Arles und Avignon, die noch von
griechischem Blut abstammen, von den Lyonneserinnen
und den Pariserinnen namentlich durch die Nase. Es gibt
Nationalnasen, wie es Familiennasen gibt; vor andern
bekannt ist von den letzteren die Orleansnase, die dem
regierenden Fürsten von Bulgarien zugeschrieben wird, und
die grosse Habichtsnase der Habsburger, die sogenannte
Kaisemase, die sie von ihrem Stammsitze, der alten Habsburg
oder Habichtsburg, mitgebracht zu haben scheinen. Schon vor
Eurer Nase kann ich nicht atisweichen! — schrie ein Fuhrmann
in einer engen Gasse dem Grafen Rudolf von Habsburg zu,
welcher seine Nase gefällig zur Seite bog. Diese Szene
ist im Ehrenspiegel des Hauses Österreich abgebildet worden.
Eine hangende Unterlippe nennen die Italiener: Läbbro
ÄustriacOy nach einem andern Distinctivum des Hauses
Österreich; noch Marie Antoinette hatte diese dicke, vor-
stehende, zuweilen herabhängende Unterlippe, die ihr nur
im Zorne stand. Auch die Familienähnlichkeit der Bour-
bonen und der Bonaparte liegt im Munde.
Sprichwörtlich ist der starke und kurze Nacken des
Polen, sowie seine kurze stumpfe Kosciuszkonase — der
hohle Rücken der Friesen, der ein Zeichen ihres edlen und
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. "
— 130 —
festen Charakters sein soll — und der Kropf der Savoyarden
und anderer Alpenvölker, namentlich der Kretinen. Ge-
wisse Nationalitäten, wie die Orientalen, Ungarn und Wa-
lachen, zeichnen sich namentlich im weiblichen Geschlecht
durch eine Neigung zu übermässiger Korpulenz aus —
eine Eigentümlichkeit der Hottentottenfrauen und Busch-
weiber ist ihre Steatopygie, die in einer grandiosen Fett-
anhäufung am Gesäss besteht, so dass die Fettpolster des
naiven Teiles treppenartig vorzuspringen scheinen — die
Japaner und die Koreaner haben bei der Geburt einen
dunklen Fleck, ein sogenanntes Melasma am Allerwertesten,
das mit dem Wachstum schwindet; und die Brustwarzen
der Samojedinnen sind tiefschwarz.
Je ungleicher die Rassen, um so schärfer die Kenn-
zeichen, um so leichter die Diagnose. Zwar so schlimm ist
es nicht, wie sich's der Unerfahrene denkt: Mensch bleibt
Mensch, und zu dem fremden. Aussehn trägt oft am meisten
die Kleidung bei. Immerhin sind wir völkerkundig. Dicke,
wulstige Lippen sind eine Eigentümlichkeit der Äthiopischen
Menschenrasse — mandelförmig geschlitzte Augen charak-
terisieren den Ägypter, Ziegenaugen den Perser — bei den
Negern Afrikas und bei den Australiern fällt der Mangel
der Waden auf Lepsius hielt aus anatomischen Gründen,
namentlich der vorgebeugten Haltung des Oberkörpers
wegen, alle einheimischen afrikanischen Rassen für ver-
wandt. Haut, Fett und Fleisch, Blick, Haltung und Aus-
druck, das sind die Dinge, die in der Ethnographie ent-
scheiden; eine gnte Abbildung sagt oft mehr als ganze
Bände von Messungen. Und wir lernen heutzutage in
Deutschland die Menschenrassen nicht mehr bloss aus
Abbildungen im Konversationslexikon und in der Natur-
geschichte kennen: wir haben unsere Kolonien in Afrika,
unsere Zoologischen Gärten, in denen es von Samojeden
und Singhalesen wimmelt, und unsere Salons, in denen w^ir
uns mit schwarzen Königen und den hoffnungsvollen Söhnen
der gelben Rasse befreunden können. Ist das etwa in
— 131 -
Leipzig oder in Berlin etwas Seltenes, ein Student aus
Japan oder ein chinesischer Gesandter? — Wir kennen
die kleinen intelligenten schmetterlingsartigen Mikados mit
den zarten Händen und den kleinen Füssen und die Herren
Mandarinen mit ihren Zöpfen, ihren langen Nägeln, ihren
kolossalen Visitenkarten auswendig und inwendig; die Söhne
des Himmlischen Reiches sind ja in Berlin schon beinahe
so gemein wie in San Francisco, und in Hamburg und in
London laufen sie haufenweis herum. Aber es erfordert
ein geübtes vAuge, um die Mandschu von den Chinesen zu
unterscheiden! Sie sind etwas schwerer gebaut und haben
mehr Bart. Das ist eine spanische Kreolin, das ist ein Mu-
latte; durch das wollige Haupthaar zeigt er deutlich die
Negerabkunft an. Das ist Fatima, die sich der Fürst Pückler
aus dem Orient mitgebracht hat. Das ist ein Negerkind, das
hier in die Schule geht. Das ist die Prinzessin von Zanzibar.
Es gibt auch Eigenschaften, die mehr am Boden und am
Klima, als am Blute zu hängen scheinen, obgleich sich diese
Ursachen schwer von einander trennen lassen. Die Geschöpfe
der Wüste sind dürrh aisig, schlank und hager; die des platten
Landes schwerfällig und dick. Die blauen Augen, die
blonden Locken und die heldenhaften Leiber der Germanen
fielen bereits den alten Römern auf; der Süden erzeugt
dunkle Augen und schwarzes Haar. Die Küstengegenden,
die Hochgebirge haben ihre eigenen, unverkennbaren Typen,
wie die Elemente. Das alles wird der Beobachter notieren:
es wird ihm als ein Handweiser den Weg nach der Heimat
des Unbekannten zeigen. .
Ich bleibe dabei, wir sind in dieser Beziehung weiter,
als man es vor hundert Jahren war: das Jahrhundert hat
in der Naturgeschichte des Menschen gehörige Fortschritte
gemacht Mit einem gewissen Lächeln wird man heute
lesen, was Lavater, der Physiognom, über die Haupt-
nationen Europas sagt: einzelne Züge sind richtig hervor-
gehoben, aber man merkt dem Herrn Pastor durchaus den
Mangel an Erfahrung und ausgebreiteter Weltkenntnis an.
9*
— 132 —
Die Franzosen j sa,gt Lavater, haben nicht so kühne Züge wie
die Engländer j noch so kleine als die Deutschen, Ich erkenne
sie hauptsächlich an ihren Zähnen und an ihrem Laichen. Die
Italiener erkenne ich an ihrer Nase, den kleinen Äugen und dem
hervorstehenden Kinn, Die Engländer an ihren Stirnen und der
SchwäcJie ihres Haares. Die Deutschen an den Winkeln und
Bunzeln um die Augen und den Backen, Die Bussen an den
Stumpfnasen und dem lichten oder schwarzen Haar, Wenn er
noch gesagt hätte, dass die Franzosen und die Italiener
einen ganz andern Penis haben als die Schweizer, was
schon junge Mädchen wissen! — Wenden wir uns nun zu
den Sitten der Völker, die in einem weiteren Sinne eben-
falls zu ihrer Physiognomie gehören, die der Einzelne samt
seinen körperlichen Rassenmerkmalen aus der Heimat in
die Fremde mitbringt, durch die er abermals von seiner
Heimat ohne Worte fortwährend erzählt.
Der berühmte Tänzer Marcel machte sich anheischig-,
bei jedem Fremden die Landsmannschaft aus der Art seiner
Bewegungen zu erraten. Aber nicht bloss wie einer geht
und steht, springt und tanzt, ist dem Physiognomiker be-
deutsam: alle seine Gewohnheiten und Manieren gewähren
ihm einen Anhalt. Nehmen wir nur einmal Morgen- und
Abendland: in dem einen wird immer alles umgekehrt ge-
macht, als es in dem anderen gemacht wird. Im Orient
empfängt der Ankömmling den ersten Besuch, im Abend-
land stattet er ihn ab. Der Orientale zieht seine Schuhe
aus, wenn er die Moschee oder das Haus eines vornehmen
Mannes betritt, und behält den Turban auf dem Kopfe;
wenn wir in die Kirche gehn oder dem Herrn Baron auf-
warten, so behalten wir die Schuhe an und nehmen den
Hut ab. Die Orientalin weint darüber, dass sie noch Jungfer
ist, zum Beispiel die Tochter Jephtha's; die Occidentalin weint
darüber, dass sie keine mehr ist. Der Orientale schläft in
seinen Kleidern; der Europäer zieht sich aus. Wenn der
Grieche sich wäscht, so speit er dazu ins Wasser; in Europa
serviert man nach dem Dessert den Mundausspüler (le rince-
— 133 —
hauche). Der Orientale lässt sich den Kopf rasieren; der
Amerikaner schampuieren. Der Jude isst kein Schweine-
fleisch und schmatzt beim Essen; wir essen Schweinefleisch
und halten das Schmatzen fiir unmanierlich, ebenso wie den
Rülps, der bei Türken und Arabern das Zeichen der
Sättigung am Ende des Mahles ist. Der Deutsche * raucht
Zigarren; der Italiener Zigaretten; der Türke seinen Tschi-
buk oder sein Nargileh. Der Russe trinkt Thee, der
Spanier Chokolade. Es hilft alles. Die Nihilistin Thekla
Maschurin, die unter dem Namen einer italienischen Gräfin
reist, beisst beim Thee ihren Zucker ab — eine russische
Gepflogenheit Gräfin Bocco di Santo Fiume, und sie heisst
Zucker zum Thee! — ruft Paklin aus; das ist äusserst unwahr-
scheinlich. Ein Glück, dass die Polizei nicht hier ist, sie würde
sofort Verdacht schöpfen! —
Die Polizei könnte etwa auch Verdacht schöpfen, wenn
sich eine Dame fiir eine Norddeutsche ausgäbe und nicht
rechts strickte, sondern links; denn nur die mitteldeutschen
Damen stricken links, die norddeutschen und ebenso die
Norwegerinnen und die Französinnen stricken rechts.
Alle Sitten sind wieder von Einfluss auf die leibliche
Physiognomie des Volkes; Leben und Gewohnheiten bilden
und formen die Gesichtszüge des Menschen mit unsicht-
barem Meissel und drücken ihnen unbemerkbar ihr Siegel
auf. Woher die stumpfen Nasenspitzen der Fidschiinsu-
laner? — Weil sie sich mit den Nasenspitzen grüssen. Wo-
her die mangelhafte Entwicklung der Büste bei den
Dachauer Frauen? — Weil sie enge und plattanüegende
Schnürmieder tragen. Die Hauptsache ist natürlich, wie
ein Volk die Pflege und die Ernährung des Körpers regelt.
Zunächst die Kindererziehung: die harmonische Ausbildung,
wie sie in unsem Schulen angestrebt wird, ergibt einen
andern Typus als die Abrichtung in einer Zigeunerhütte,
oder im Wigwam eines Indianers, ja die gelegentliche
Misshandlung der Kinder. Förmliche Rassenmerkmale sind
auf barbarische Prozeduren zurückzuführen, welche die
— 134 —
Eltern mit den Kindern vorgenommen haben. Jedermann
kennt die sogenannte Hottentottenschürze, vielleicht sog-ar
aus eigner Anschauung in Natura oder in einem Anato-
mischen Museum, obgleich nicht jeder wissen wird, wie
gerade die Hottentottenfrauen zu dieser Bekleidimg kommen.
Einzig *und allein durch eine mechanische Einwirkung von
Seiten der Mütter und Hebammen. Wenn die Mädchen
etwa drei Jahr^ alt sind, wird ihnen durch die Vorhaut
des Kitzlers, das Praeputium Glitoridis ein Loch gestochen,
ein Faden hindurchgezogen und daran ein schwerer Gegen-
stand gehängt, wie ein Ohrgehänge. Dadurch verlängert
sich die gedachte Vorhaut samt den kleinen Schamlippen, so-
dass sie die ganze äussere Scham bedeckt. Damit die Jungen
auch etwas haben, wird, ihnen im Alter von acht Jahren
der eine Hoden ausgeschnitten, daher die Hottentotten
halbe Eunuchen sind. Die sogenannten Kolarier oder Kol
in Vorderindien, die Veranlassung zu dem Weltwort Kuli
gegeben haben, pressen und schrauben die Schädel ihrer
armen Kinder, dass sie eine ganz falsche Phrenologie be-
kommen; und die Maschukulumbwe-Neger, die durch Emil
Holub bekannt geworden sind, brechen ihren Jungen die
Vorderzähne aus, dass die Lippen einsinken und die Männer
die Physiognomie von alten Weibern haben.
Bekanntlich ersticken die Chinesen bei den Mädchen
das Wachstum des Fusses durch gewaltsame Einzwängung,
so dass nun die Frauen ganz verkrüppelte, hufartige Füsse
haben. Die Schönheit der Frauen von Cumana in der
südamerikanischen Föderativrepublik Venezuela beruht auf
fter Magerkeit der Wangen, der Länge des Gesichts und
der ausserordentlichen Dicke der Hüften. Zu dem Ende
presst man ihnen in der Kindheit den Kopf mit Kissen zu-
sammen und unterbindet ihnen die Schenkel in der Gegend
des Kniees. Am meisten wird an der Nase (und in Neapel am
Penis, auf den man Salz streut) herumgebastelt. In Persien^ er-
zählt Olympiodorus, der letzte namhafte Philosoph der Neu-
platonischen Schule von Alexandria, wendeten die Eunuchen
— 135 —
hei den jungen Prinzen ausser anderen Schönheitsmitteln auch
dieses an, da^s sie die Nase in eine gekrümmte Form zu bringen
und einer Adlernase nachzubilden versuchten, um anzudeuten, dass
der Knabe zum Herrschen bestimmt sei. Die hässliche Nase
der Neger erklären einige Ethnographen daher, dass sie
sich die Kinder, die von den Negerinnen bei der Arbeit
auf dem Rücken getragen werden, selber plattgestossen
haben; aber die Neger sollen den Kindern auch die Nase
ausdrücklich breitquetschen und die Lippen dickdrücken,
um das heryorzubringen oder wenigstens zu befördern,
was in ihren Augen Schönheit ist. Bei uns selbst ver-
bessern die Hebammen gern heimlich die Nase, wenn sie
ihnen zu kurz scheint, und ziehen und richten sie, dass es
eine Art hat. Man kann damit vergleichen, dass, weil
man sich mit der rechten Hand schneuzt, die Nase bei
vielen Individuen eine Neigung nach rechts hat; die meisten
Nasen stehen etwas schief wie der Turm zu Pisa.
Aber der Physiognomiker hätte danach nicht allein
die Rasse und die spontane Entwickelung der Spezies,
sondern auch eine künstliche Verbildung durch gewaltthätige
Eingriffe in den Gang der Natur zu konstatieren — der-
jenigen analog, welche eine einseitige Thätigkeit oder eine
abnorme Lebensweise bei den Grossen nach sich zu ziehen
pflegt. Bei den Lappen an den Küsten, welche nur von
der Fischerei oder als Lotsen leben, soll sich durch das
beständige Sitzen in äusserst engen Kähnen eine eigentüm-
liche, von Generation zu Generation zunehmende Schwächung*
und Verkürzung der Beine, dagegen kräftige Muskulatur
und Grösse der Arme herausgebildet haben; die Tataren,
die immer zu Pferde leben, bekommen Trainbeine wie
unsere Kavalleristen. Wie sehr die Kost den Habitus
ganzer Stämme modifiziere, ist bekannt, man denke nur an
die Hindu und an die Eskimo und an die obenerwähnten
Frauen von Marokko, die durch systematisches Brot- und
Reisessen Fettleibigkeit erlangen. Soll ich etwa noch an
das Tätowieren und an die Holzpflöcke, Ringe und Steine
/
/
/
f
/
/
— 136 —
erinnern, die in der Unterlippe, der Nase und den Ohren
in Amerika, Asien, Afrika und — Europa getragen werden?
Gewiss ist, dass die Sitten eines Volkes nicht bloss an sich
charakteristisch sind, sondern dass sie auch jezuweilen
dauernde Spuren in der nationalen Erscheinung hinter-
lassen, sei es, dass die Eltern die Kinder, sei es, dass sie
sich selber drillen; nur lässt sich nicht immer ausmachen, was
auf Rechnung der Natur, was auf Erziehung und Lebens-
art zu setzen sei. Die Kunst hilft der Natur nach: wo
fängt sie dies an zu thun? Alte Gewohnheiten, die in
Fleisch und Blut übergegangen sind, werden selbst Natur.
Übrigens ändert die Beantwortung dieser Frage an dem
Bilde des Volkes nichts, zu dem sich das Individuum bekennt
V. stand und Profession.
Die Hand steckt in einem Handschuh, den ihr das Leben übergezogen hat —
der ganze Körper steckt im Mantel des Berufs, wie der Glaukos des Plato —
durch einseitige Beschäftigung wird die Harmonie gestört, bei Individuen wie
bei ganzen Völkern — jedes Handwerk hat seine besondere Misbildung — die
krankhaften Beine, die sich die Menschen anstehn und ansitzen — Gewerbe-
krankheiten — das Bäckerbein — Habitus der Schneider, Schuster, Tischler,
Leineweber — die letzteren meist gedrückt und furchtsam — der grosse Kopf
des Gelehrten, der kleine Kopf des Maurers — Gastwirte und Kellner, Soldaten
und Seeleute — die protestantischen Geistlichen und die katholischen Pfaffen —
die Bewegungen des Handwerks werden zur Gewohnheit: Schneider, Schuster,
•Musikanten, Studenten — Kennzeichen der Erziehung — quo semel est imbuta
recensy servabit odorem testa diu.
Die Bemerkungen, die wir am Ende des vorigen Ab-
schnitts über fremde Völker machten, drängen sich mit
noch grösserer Evidenz im Umkreis des Vaterlandes auf.
Wir haben oben den Bauplan der Hand betrachtet und
vier Grundformen derselben herausgefunden. Das waren
die natürlichen Formen der Hand; aber sie werden selten
und nur unter den glücklichsten Verhältnissen rein erhalten,
bei der Menge durch abnorme Arbeit und die Schädlich-
— 137 —
keiten des Berufes alteriert. Wer Pech angreift, besudelt
sich. Der hat vielleicht ein Wunder von einer psychischen
Hand, der sie in der Werkstätte verschimpfieren , be-
schmutzen, abstumpfen, versengen, verstauchen muss. Die
Hand ist überaus empfindlich, sie gleicht dem Thee und
den Zigarren: sie nimmt alles an. Auch die Linien, welche
die innere Fläche der menschlichen Hand durchfurchen^
bekommen je nach der Hantierung eine besondere Zeich-
nung, da sie durch den Druck der Fleischmuskeln ent-
stehen. Kurz, die Hand liegt gewöhnlich nicht rein vor,
sie steckt gleichsam in einem Handschuh, den ihr das
Leben übergezogen hat und den der Physiognomiker erst
wieder abzustreifen hat. Und deshalb ist die Hand, und
zwar bis auf die Fingernägel, deren grössere oder geringere
Pflege ein Streiflicht auf die Erziehung und' Bildung des
Menschen wirft, nicht bloss für den Charakter und die
Anlagen, sondern auch für die soziale Stellung, die Be-
schäftigung, den Umgang des Individuums bezeichnend.
Das ist freilich beim ganzen Körper der Fall: wir alle
gleichen dem Glaukos des Plato, dem Sinnbild der mensch-
lichen Seele, der vom Wogenschwall gemisshandelt und
verhunzt und mit einer dicken Kruste von Schlamm, See-
tang und Muscheln bedeckt worden ist. Oder um bei
unserem Bilde zu bleiben : der Beruf wirft jedem Berufenen
einen neuen, unveräusserlichen, oft recht hässlichen Mantel um.
Der Beruf? Ja, weil er fast immer ein ungesunder ist. Der
Normalmensch bleibt normal bei normaler Beschäftigung;
eine normale Beschäftigung ist eine allseitige Gymnastik,
bei welcher alle Kräfte des Leibes und der Seele ab-
wechselnd und in einem richtig abgewogenen Verhältnis
bethätigt werden. Wer treibt nun diese Art Gymnastik?
Man möchte sagen: niemand, denn wir alle üben einzelne
Organe, der Reiche noch eher gar keins, als sämtliche
Organe. Aber sobald ein einzelnes Organ überwiegend
angestrengt wird, ist die Harmonie gestört, denn das ge-
brauchte Organ entwickelt sich auf Kosten der anderen,
— 138 —
nicht benutzten und träge verbliebenen. Käme es nun
bloss zu einer starken Entwicklung des betrefifenden Glie-
des ohne Schaden für die Konstitution, wie zum Beispiel
bei den gewaltigen Händen der Klavierspieler, deren Finger
sich auffallend verlängern, so möchte es noch hingehen;
meist aber ist eine eigentümliche Verbildung damit ver-
bunden — eine Verbildung, wie man sie eben bei ganzen
Völkern beobachten kann, wenn sie auf eine einseitige,
naturwidrige Thätigkeit angewiesen sind.
Die Lappen bekommen durch das ewige Kahnsitzen
kurze Beine und lange Arme: bei uns sind die einzelnen
Stände und Professionen in dem Fall der Lappen, unsere
Einseitigkeit ist nur sozusagen vielseitiger, denn wir sitzen
nicht alle in einem und demselben Kahne. Auch bei uns
sind die Fischer und die Seeleute an ihren gespreizten
Beinen, an ihrem gebückten und stets balancierenden Gange
zu erkennen ; aber wir haben auch Droschkenkutscher, die
immer auf dem Bocke, Gelehrte, die immer auf dem
Schreibbock, Buchhalter, die immer auf dem Kontorbock
sitzen — sie werden alle bockbeinig, sie sitzen sich alle
steife Kniee und nebenbei unter den Lenden eine Haut
wie Sohlenleder an, während bei alten Kavalleristen oder
Schwägern das gewohnheitsmässige Anschmiegen der Beine
an den rundlichen Pferdeleib das Genu varum, die Säbelbein-
oder O-beinform begünstigt; ihre krummen Trainbeine, zwi-
schen denen ein Pudel durchspringt, sind ja geradezu sprich-
wörtlich. Der familiäre Titel Schwager, den wir dem Postil-
lon zu geben pflegen und der durch Goethes Schwager Kronos
klassisch geworden ist, bedeutet eigentlich einen Reiter,
nämlich den Postreuter oder den reitenden Boten, welcher
die Briefschaften beförderte, respektive den Vorreiter bei
einem vierspännigen Postwagen, französisch Chevalier (ver-
deutscht Schwaljer, Schwager).
Aber die Menschen sitzen sich nicht bloss, sie stehen sich
auch krankhafte Beine an; zum Beispiel Bäckerheine. Die
Bäcker, die in gebückter Stellung ihre schweren Schieber
— 139 —
halten müssen, pressen die Kniee zusammen, während die
Füsse zum festeren Stehen soweit wie möglich von ein-
ander entfernt gestellt werden; dadurch entsteht das habi-
tuelle Genu vcUguMy wobei namentlich das linke Bein nach
innen einknickt, und die Figur eines Sägebockes oder des
Buchstabens X. Auch die Tischler haben gewöhnlich nach
innen gekrümmte Beine, dabei schieben sie die linke Schul-
ter etwas vor, eine Reminiscenz an die Hobelbank, die
man zum Beispiel unlängst bei dem jüngst in Leipzig ver-
urteilten Sozialdemokraten Neve beobachten konnte; und
überhaupt neigen Leute, die viel stehen und einmal über
das andere das Gleichgewicht verlegen müssen, Schlosser,
Kellner, Schneider zu dieser DifFormität. Häufig sind die
Krümmungen und Knickungen der Beine, Säbelbeine wie
Bäckerbeine, nicht erworben, sondern, gleich dem krummen
Rücken und der Hühnerbrust, hinterlassene Spuren der
Englischen Krankheit, die schon Äsop gehabt hat, wie eine
antike, entschieden rhachitische Büste des Fabeldichters in
der Villa Albani zu Rom bezeugt; und bereits früher haben
wir bemerkt, dass sich die untern Extremitäten aller Frauen
der Form des X nähern.
Von hier ist es offenbar nur noch ein Schritt bis zu
wirklichen Krankheiten, den sogenannten Gewerbekrankheiten
— zu der Lungenschwindsucht der Steinmetzen, zu den
Lungenemphysem der Trompeter und Posaunenbläser, zu
der hohen Schulter der Schreiber, zu den Krampfadem, an
welchen die Schriftsetzer leiden, weil sie bei ihrer Arbeit
anhaltend zu stehen genötigt sind, zu dem Ekzema marginal
tum der Schuhmacher, zu dem Exerzierknochen der Soldaten,
zu der sogenannten Malerkolik u. s. W. Spuren finden sich
bereits im klassischen Altertum. Der verstorbene Doktor
von Gudden schrieb über eine eigentümliche Ohrblut-
geschwulst, die zuerst bei Gladiatoren wahrgenommen
ward; die Ohren der Ringer, welche man Pankratiasten
nannte und die mit dem Ringen den Faustkampf verban-
den, aber nicht mit der geballten Faust, sondern nur mit
- 140 —
gekrümmten Fingern schlugen, hatten regelmässig eine
plattgedrückte Form: weil einer Statue im grossen Saal des
Capitolinischen Museums dieses Charakteristikum fehlte^
erklärte sich Winckelmann gegen die ihr gegebene Be-
nennung eines Pankratiasten. Die Krankheiten, von denen
fast jeder Beruf seine besondere erzeugt, sind die auffällig-
sten und traurigsten Abzeichen des Berufes, bis herab zu
der Puerperalphysiognomie.
Denn es sind nicht bloss die Extremitäten, Beine,
Arme und Hände, die durch das Gewerbe verändert werden:
der ganze Habitus erleidet eine dauernde Modifikation.
Ausser dem krummen Bein charakterisiert den Tischler die
Erhöhung zwischen den Schultern; den Schuster der
krumme Rücken und das kräftig abstehende Daumenge-
lenk. Wer hätte nicht die dicken Bäuche der Bierbrauer,
die Koteletten der Kellner und die weingrünen, vollen
Gesichter der Herren Wirte in gutem Angedenken? —
Auch Fleischer und Köche werden in der Regel fett und
rund, obgleich sie nur wenig essen; die ersteren, die häufig
rohes Fleisch kosten, leiden, nebenbei gesagt, gern an
* Trichinen und Eingeweidewürmern; und endlich sind die
Müller meist behäbige, dicke Leute, dabei höflich, weil der
Bauer auf Höflichkeit sieht, und im Besitze schöner Mülle-
rinnen. Fleischer und Soldaten tragen überall denselben
farouschen Anstrich, der durch einen martialischen Schnauz-
bart und eine stramme Haltung noch mehr gehoben wird —
der wettergebräunte Seemann geht, die kurze Seemanns-
pfeife im Munde, vollbärtig bis auf die Lippen, die er
rasiert, breitspurig über das Verdeck des schwankenden
Lebensschiffs — fest und sicher treten sie alle auf, nur
die armen gedrückten Weber müssen sich verstecken:
Leineweber sind bescheiden und still, eher furchtsam, oft
nachdenklich und Philosophen wie die Schuster.
Natürlich ist es, dass diejenigen, welche schwere Arbeit
zu verrichten haben, eine herkulische Gestalt bekommen,
während eine leichte Beschäftignng und eine sitzende
— 141 —
Lebensweise den Körper verkümmern lässt. Man kennt
die riesigen Auflader in Freytags Soll und Hohen, Alle
Schmiede sind athletisch, wenn gleich ihr Ahnherr Vulkan
ein schwächliches, lahmes Kerlchen gewesen ist; die
Schneider in der ganzen Welt zeichnen sich aus durch
Zartheit der Glieder und durch den abgeflachten Daumen.
Es gehen ihrer neune auf einen Mann, und schön zeichnet
sie die Schnurre:
Es waren einmal die Schneider,
Die hatten guten Mut;
Neunzig und neunmal neunzig
Tranken aus einem Fingerhut,
Sassen auf einem Kartenblatt,
Und da sie zu späte heimkamen
Mussten sie durchs Schlüsselloch schlüpfen;
Sie tanzten auf einem Bocksschwanz,
Ihr Braten war eine fette Maus,
Und da sie besoffen waren.
Krochen sie in eine Lichtputzschere,
Die der Wirt zum Fenster hinauswarf:
Da lagen die neunzig und neunmal neunzig Schneider
In der Rinne und endeten jämmerlich! —
Im Gegensatz zu den beschaulichen Schustern sind
übrigens die Schneider Krakehler und die ersten bei Revo-
lutionen, man denke an den Schneider Jetter in Goethes
Egmond,
Demgegenüber pflegt wieder bei den arbeitenden
Klassen der Kopf zurückzutreten, was um so mehr auf-
fällt, als er gerade bei den höheren Ständen stark ent-
wickelt ist. Alle Hutmacher wissen, dass die kleinsten
Köpfe den Arbeitern und den Handlangern angehören;
die Maurer insbesondere haben den Kopf so klein, dass man
in Paris von einem kleinköpfigen Individuum sprichwörtlich
sagt: ü a une tele de magon. Daher auch die Hutmacher in
den Arbeiterquartieren, z. B. im Quartiere MoufFetard, nur
kleine Hüte auf Lager haben (2,5 points = 52 cm bis
3 points =53 cm). Umgekehrt die Huthändler im Schu-
— 142 —
lenquartier brauchen grosse Hüte, weil die Kunden grosse
Köpfe haben (5,5 points = 58 cm bis 6,5 points = 60 cm).
Aber die grossköpfige Gelehrtenwelt weist selbst
wieder die grösste Mannigfaltigkeit auf. Unschwer erkennt
man den praktischen, meist blühend aussehenden Arzt, den
vertrockneten Bureaukraten, den wildlockigen Konservato-
risten, den armen Maler mit seinem Plaid — die pedan-
tische Figur des Schulmeisters, das evangelische Gresicht
des Kandidaten sind wie offene Visitenkarten. Die Fami-
lienähnlichkeit, welche die Priester aller Religionen unter
einander haben, ist notorisch; und doch wie verschieden
ein katholischer und ein protestantischer Geistlicher! Schon
Heine sag^, der letztere habe etwas ungleich Rationalisti-
scheres in seinem Wesen, eine protestantisch vernünftige
Nase, dünne denkgläubige Beine, einen aufgeklärteren
Bauch. Heine sagt auch, ein katholischer Pfaffe wandle
einher, als wenn ihm der Himmel gehöre, ein Pastor gehe
herum, als wenn er den Himmel gepachtet habe. Bei La-
vater selbst sind diese Züge nicht zu verkennen.
Dazu werden dem Menschen die Bewegungen und die
Griffe, welche sein Handwerk mit sich bringt, selber zur
Gewohnheit. Wir gehen am Sonntag Nachmittag spazieren:
wenn öiner unterwegs den Faden langzieht, so wissen wir,
es ist ein Schneider — wenn er mit beiden Händen den
Draht auseinanderzieht, ein Schuster — wenn er mit dem
Fusse wackelt, ein Töpfer — wenn er mit dem Stocke
fidelt und im Takte geht, ein Geiger — wenn er mit dem
Stocke Terzen und Quarten macht, ein Bruder Studio. Der
alte Militär, der pensionierte Beamte, der verkleidete Poli-
zist — meilenweit riecht man sie: quo semel est imhuta recens,
servahit odorem testa diu.
Lange wird das Gefäss den Geruch bewahren, mit dem
es eingeweiht worden ist — gilt dies nicht auch von der
Erziehung, dem ersten Unterricht und den ersten Ein-
drücken der Kindheit überhaupt? -- Denn Handwerk und
Lebensberuf sind doch erst sekundäre Faktoren der Stan-
— 143 -
desphysiognomie. Und freilich, noch eher als man auf
Schuster oder Schneider diagnostiziert, wird man dem Bur-
schen ansehen, ob er überhaupt von guter Familie ab-
stammt oder nicht; man hat .dafür tausend Anhaltspunkte.
Wenn wir einen jungen Menschen zur Tafel gezogen haben,
so merken wir ihm gleich an, wes Hauses Kind er ist: er
isst seinen Fisch mit dem Messer: pah! eine englische Er-
ziehung hat er nicht erhalten — er nimmt seine Gabel in
die rechte Hand, er führt sein Messer zum Munde, er
schneidet sein Brot: das riecht nicht nach gutem Tone.
Der Anstand im Reiten macht den Unterschied zwische^i dem Bitter
und dem Reitknecht y sagt Don Quixote. An solchen Kenn-
zeichen pflegen in den Märchen die Fürstenkinder erkannt
zu werden, wenn sie in zarter Jugend ausgewechselt worden
sind; oder die verarmten Edelleute in der Fremde. Nur
dass die bessere oder schlechtere Erziehung, die ja auch
noch nachträglich durch den Umgang vervollständigt zu
werden pflegt, bereits ein Teil des äusseren Glückes ist,
das der Mensch in seinem Leben hat, respektive gehabt
hat, wenn es inzwischen anders geworden wäre; denn wenn
auch ein armer Mann seine Kinder in seiner Art gleich-
falls erziehen mag, erst Reichtum und Rang bringen,
wenigstens im Laufe der Zeit, unfehlbar Erziehung und
Bildung mit sich,, darin liegt sogar etwas sehr Trauriges.
Und insofern wir hier vom physiognomischen Einfluss des
Vermögens und der äusseren Lage als solcher noch nicht
reden, sondern nur den Wirkungen der Arbeit und des
speziellen bürgerlichen Standes nachspüren wollten, müssen
wir vorläufig ein Punktum und erst eine neue Über-
schrift machen, unter welcher wir den angeregten Ge-
danken weiter ausführen können.
— 144 —
VI. Erfahrungen und Schicksal.
Vier Brüder — das Leben und das Schicksal zeichnet die Menschen ins Ange-
sicht — die Abenteuer, die Gil Blas erlebt hat, sind auf seiner Stime zu lesen
— die wahre Chiromantie — man sieht es dem Menschen gleich an, was er
für Tage gesehen hat, ob er reich oder arm ist, ob er tausend oder zweitausend
Mark zu verzehren hat — wie der reiche Mann spuckt und wie der arme Mann
spuckt: Lesefrucht aus Labruyere — Schicksale und Erfahrungen gelangen nur
durch Vermiltelung der Affekte zum Ausdruck im Gesicht — die Objektivität
muss durch die Subjektivität hindurchgehen — nur das dauernde Bild der Seele,
an dem Vaterland, Geschlecht und Stand ein für allemal mitgearbeitet haben,
ist der Vorwurf des Physiognomikers.
Man denke sich einen Bauer, dem seine Frau Vier-
linge gebiert. Es sind vier schöne und gesunde Kna-
ben, die alle am Leben bleiben, und untereinander von
grosser Ähnlichkeit. Aber jeder der vier Brüder hat seine
eigene Laufbahn. Der älteste bleibt Bauer und bewirt-
schaftet das väterliche Gut. Der zweite wird Soldat und
bleibt bei den Soldaten; er dient mit Auszeichnung und
macht verschiedene Kriege mit. Der dritte wird auf dem
Schlosse als Bedienter angenommen; der Herr Graf, der
gewöhnlich in Paris lebt, macht ihn zu seinem Kammer-
diener und nimmt ihn mit auf Reisen. Der jüngste erlernt
das Schuhmacherhandwerk, geht erst auf die Wanderschaft
und lässt sich dann in der Landeshauptstadt nieder, wo er
sich verheiratet und ehrsamer Bürger wird. Vierzig Jahre
sind seit ihrer Geburt vergangen, und zu ihrem vierzigsten
Geburtstag kommen sie einmal wieder alle vier in ihrem
Heimatsdorf zusammen. Aber wie haben sie sich verändert!
Sind es noch die alten Vierlinge, die man hätte Zeichnen
mögen, um sie zu unterscheiden? Wie hat sie jetzt der
Beruf und das verschiedenartige Schicksal ins Angesicht
gezeichnet! —
Menschenangesicht, Spiegel des Lebens! Wie die Stürme
das Meer aufwühlen und Wälder umbrechen, so ziehen die
Leidenschaften über uns hinweg; wie das unterirdische
— 145 —
Feuer die Erdrinde sprengt und Krater aufreisst, so steht
der Mann, ein ausgebrannter Vulkan, von heissen inneren
Kämpfen zerspalten und zerklüftet; wie der fliehende Tiger,
wenn die Kugel das Herz durchbohrt hat, beim Gehen
gleichsam krampfhaft alle seine Klauen ausstreckt, imd
diese eine auch dem Unkundigen auffallende Fährte hinter-
lassen, so gräbt Gram und Sorge noch fliehend tiefe Fur-
chen in die glatte Stime; und wenn in dem arabischen
Märchen der kluge Abu-Said aus den eingedrückten Fuss-
stapfen und dem abgerupften Grase schloss — dass ein
Kamel vorübergegangen sei, dass dieses Kamel auf dem
linken Hinterbeine hinkte und ein Junges bei sich hatte:
so las er auf dem Erdboden wie der Menschenkenner im
Gesicht. Gril Blas, der spanische Zigeuner, kam eines Tages
in ein Wirtshaus zu Granada und setzte sich an ein Tisch-
chen in die Ecke, einem alten graugekleideten Manne
gegenüber, anscheinend einem Mönche. Er grüsste und
bestellte sich zu essen. Inzwischen begann ihn der Graue
zu fixieren und unverwandt anzusehen. Gil Blas ward es
unheimlich, er ergriff das Wort und fragte: Sollten mr uns
im Lehen schon irgendwo begegnet sein, ehrtoürdiger Vater? Ihr
seht mich an, als oh Ihr nicht recht wüsstet, wo Ihr mich hinthun
sollt? ^ Da antwortete der alte Mann ernsthaft: W&nn ich
meine Blicke auf Dich hefte, mein Sohn, so geschieht es nur, um
das staunenswerte Durcheinander von Abenteuern zu entwirren, das
Deine Stime kräuselt! — So meinte schon der Kaiser Marc
Aurel zu einem Gesandten, der ihm einen Vortrag halten
sollte: Ich habe Deine Bede schon gehört; Deine Stirne sagt alles.
Und Menschenhand, Spiegel des Lebens! Nicht das
zukünftige, das vergangene Leben zeigt sie, nicht der
Zigeunerin, sondern der Wissenschaft, dem Auge nicht des
Chiromanten, sondern des Physiognomikers. Auch Erfah-
rung und Schicksal wirkt bestimmend auf dieses wunder-
bare Instrument. Junge Personen haben, so zu sagen, ge-
dankenlose Hände; wenn sie gelebt und gelitten haben,
bekommen ihre Hände etwas geschichtlich Reizendes. Es
Kleinpaiil, Spruche ohne Worte. 10
— 14Ü —
ist nicht bloss das bläuliche Geäder und der vornehme
Glanz der weissen Finger, was die Hand Torquato Tassos
oder der Prinzessin Leonore von Este auszeichnet; es ist ein
geistiger Ausdruck,, ein Ausdruck von Seelengrösse, Krank-
heit und Entsagung, der wie ein undefinierbarer Hauch dar-
über ausgegossen ist. Es ist ein unsichtbares Wundmal, wie
das an der Hand des Erlösers und der Hand des heiligen
Franciscus, welche beiden Hände, unter einem Kreuze über-
einandergeschlagen, das Wappen der Franciscaner bilden.
Und auch hier gilt das Wort: das Kreuz im Leben ist wie
das Kreuz in der Musik; beides erhöht.
Ja, Menschenleib, Spiegel des Lebens! Wie es einem
Menschen ergangen ist; ob er gute oder böse Tage ge-
sehen; ob er auf der Weltbühne den Herrn oder den
Diener gegeben hat, das kann man ihm, wie das Volk sagt,
an der Nase ansehen; jedes Tausend Mark Rente mehr
oder weniger ist gleichsam an seiner Stime aufnotiert.
Wer gewohnt gewesen ist, zu befehlen, und wer sich immer
hat bücken müssen; wer in einer goldnen Wiege gelegen
hat und wer in Not und Entbehrungen aufgewachsen ist;
wer in Ehren grau geworden ist und wer ein Leben voll
Schande hinter sich hat: welche Gegensätze auch in der
Haltung und in der äusseren Erscheinung! Zwischen der
selbstbewussten, stolzen, freien Miene des Einen und dem
gedrückten, unsicheren, ängstlichen Auftreten des Anderen!
Wahrlich Glück und Reichtum und Unglück und Armut
haben ihre eigenen, unverkennbaren Gesichter, als hätte
man sie allegorisch abgemalt: Incessu patuit Dea.
Labruyere entwirft am Ende des Kapitels des biens de
fortune, unter den Namen Giton und Phedon eine meisterhafte
Charakteristik des Reichen und des Armen. Als Franzose,
dem der Auswurf des Speichels sehr am Herzen liegt, ver-
gisst er auch nicht, darauf aufmerksam zu machen, dass der
Reiche weit von sich abspuckt, wie er laut niest und sich
geräuschvoll schneuzt (il crache fort loin); der Arme heim-
lich niest, seinen Hut darüber hält, wenn er sich schneuzt
- 147 —
und räuspert, und sich beinahe selber anspuckt (il crache
presgue sur soi). Schon vor Labruyere , dessen Caracteres
A. D. 1688 erschienen, hatte Moliere in den Femmes Savantes
(1672) die besondere Art des tousser et er acher als ein, bis-
weilen nachgemachtes, bedeutsames Charaktermerkmal an-
gesehen, und danach lässt es bekanntlich wieder Schiller
dem Wallenstein abgucken, wie er räuspert und wie er spuckt.
Analog erzählt Lady Percy in Shakespeares König Heinrich
der Vierte. Zweiter Teil, wie die englische Jugend ihrem Ge-
mahl das Stottern, den Gang, die Lebensart und alle Lau-
nen und Neigungen abguckte (II, 3).
Indessen, auf das Leben und seine angeblichen Spiegel
zurückzukommen: täuschen wir uns nicht, sondern erinnern
wir uns an das, was wir am Ende des ersten Abschnitts
über das Verhältnis der Physiognomik zur Mimik sagten.
Schicksale und Erfahrungen gelangen nicht unmittelbar,
sondern nur durch Vermittelung der Affekte zum Ausdruck
im Gesicht. So gewiss die Verhältnisse ihre physiogno-
mischen Spuren hinterlassen, so erscheinen sie doch auf
der Bildfläche der Physiognomie nicht selbst, sondern nur
sofern sie Gemütsbewegungen und mit ihnen Reflexwirkun-
gen auslösen, die, wenn sie habituell werden, das Aussehen
dauernd verändern. Die Abenteuer, welche dem Gil Blas
an der Stime geschrieben sind, kommen nur in Form von
Eindrücken zutage; was er genossen oder gelitten hat, sieht
man, nicht seine Reichtümer oder Schulden; um es gelehrt
auszudrücken: die Objektivität muss, um sich bemerkbar
machen zu können, durch die Subjektivität hindurchgehen.
Das ist eigentlich so selbstverständlich, dass es kaum her-
vorgehoben zu werden braucht, aber es ist doch wesentlich,
dass man sich dieses Verhältnis klar macht. Man darf
nicht vergessen, dass unsere Physiognomie im Lauf des
täglichen Lebens und eben durch die kleinen oder grossen
Zufälle desselben eine Menge vorübergehender Modifika-
tionen, beziehentlich Störungen erleidet, die bei öfterer
Wiederholung stabil und in das Gepräge des Organismus
10*
— 148 —
aufgenommen werden können. Aber diese gelegentlichen
Lebensäusserungen, die erst später zur Gewohnheit w^erden,
liegen ausserhalb des Rahmens der anziehenden Sprache,
die uns nun schon so lange gefesselt hat und noch immer
nicht ganz loslässt.
Nur das dauernde Bild, das Gott der Herr von jedem
geistigen Individuum mit wunderbarer Freiheit hinwirft,
und an dem Vaterland, Geschlecht und Stand ein für alle-
mal mitgearbeitet haben, beschäftigt den Physiognomiker,
wie irgend einen Liebhaber der Antike. Stört die Kälte,
die tiefe Ruhe des Marmorbildes nicht! — Es fühlt nicht
und erwärmt nicht, es ist keine Galatea — und seinem
Betrachter mutet es nicht zu, die Qual des Lebens nach-
fühlend durchzukosten; gönnt ihm die Ruhe auch.
VII. Die Kleidung.
Die künstliche Haut des Menschen — weite Ausdehnung ihres Begriffs, die
jedoch hier nur angedeutet wird — an der Kleidung nach Jesus Sirach der
Geist des Mannes zu erkennen — zunächst erkennt man an ihr Stand und Xatio-
nalität — die Nationaltrachten vermischen sich, die Standesunterschiede ver-
wischen sich — der nivellierenden Mode zum Trotz bleiben inmier noch genug
Nuancen übrig, die den Beobachter leiten können — auch bringt nicht selten
der Beruf eine bestimmte Tracht mit sich — wie die römische Polizei mit Hilfe
kupferner Stifte eine unbekannte männliche Leiche rekognosziert — innerhalb
der durch Nationalität und Stand gezogenen Grenzen macht sich der Charakter
des Individuums geltend — moralische Eigenschaften , die sich in der Kleidung
spiegeln — die Eitelkeit, die aus den Löchern im Mantel des Antisthenes her-
vorguckt — wie sich der Weltmann kleidet — Vergleich zwischen der physio-
gnomischen Prognose und der Bestimmung von antiken Marmorbildem , bei
welchen ebenfalls auf die Kleidung zu achten ist — wie dort, auf den darge-
stellten Gott, leitet sie hier auf den Geist, dessen Ebenbild der menschliche
Körper ist.
Vestitus, risuSf incesstis, heisst es nach einer Stelle im
Ecclesiasticus des Jesus Sirach (XIX, 27), arguunt hominis in-
genium. Mit dem Menschen und seiner eignen Haut wären
wi nun fertig; es bleibt uns noch die künstliche Haut zu
— 149 -
betrachten übrig, die er über die natürliche Haut wirft und
die anschmiegend und formwiedergebend ist wie sie.
Sie hat das Eigentümliche, deiss man thatsächtlich aus
ihr und in sie fahren kann; und dass man sie unter ge-
wissen Einschränkungen selbst bestimmt. Ja, von den
Grrossen der Erde wird sie gleichsam noch auf andere Per-
sonen, auf ganze Länder, wenigstens auf die nächste Um-
gebung, das Haus und das Gesinde übertragen: zum Bei-
spiel kennt man in Sankt Petersburg die kaiserlichen Equi-
pagen an den roten, goldstrotzenden Livreen der Kutscher
und Diener, und die Wagen der fremden Diplomaten an
den Federbüschen der Diener, welche stets die betreffenden
I-andesfarben haben. Überhaupt erweitert sich sozusagen
bei diesen Grossen der Begriff der einfachen Bekleidung,
indem er auch die Begleitung und alles was darum und
daran hängt mitumfasst; daher kommt es, dass sie so
leicht zu erkennen sind, sie haben, wie Falstaff, eine ganze
Schvle von Zungen, die ihren Namen sagen. Was das Gefährt
des deutschen Kaisers in den Strassen Berlins unterscheidet,
ist ein Jäger mit wallendem Federbusch neben dem Kut-
scher. Sothaner Federbusch war wie ein öffentlicher Aus-
rufer, der männiglich verkündete: der Kaiser kommt! —
Nach der Krankheit Seiner Majestät im Juni des vorigen
Jahres wurde, um dem Kaiser das viele Grüssen durch
Anlegen der Hand an die Kopfbedeckung zu ersparen, der
Federbusch entfernt, der neben dem Kutscher sitzende
Leibjäger trug fortan nur die Mütze. In der einfachen
Mütze sass er dann auch in Gastein auf dem Bocke neben
dem Postillon; und für den Kundigen bildete damals nur
noch der Adler an dem hohen Kragen des Jägers das
äussere Zeichen, dass der Herr, der im Wagen sass, der
deutsche Kaiser war. Doch wir wollen uns mit unserer
letzten physiognomischen Abhandlung nicht gar zu weit
versteigen und unsere Beobachtungen innerhalb beschei-
dener Grenzen halten; schon die einfache Kleidung zur
Sprache des Angesichts hinzuzunehmen, ist ja eine gewisse Libe-
— 150 —
ralität, obgleich sie schon die alten Römer als ein Haupt-
moment des gesamten menschlichen Habitus, ja geradezu
als den Habitus selber betrachteten; wohin sollte das fuhren,
wenn wir unter dieser Rubrik die ganze Umgebung des
deutschen Kaisers bringen wollten, so sehr auch diese ganze
Umgebung abermals als ein grosser Leib betrachtet werden
kann, in dem sich die Seele spiegelt.
An der Kleidung, dem Lachen und dem Gang sollt
ihr den Geist des Mannes erkennen. Mit dem Ingenium ist
es so eine Sache — es kann einer recht viel Ingenium
haben und doch schlechter gekleidet sein, als der fadeste
süsse Herr — es kann einer der scharfsinnigste Philosoph
und der grösste Gelehrte sein und doch einen fadenschei-
nigen Rock und einen alten Hut aufhaben — es kann einer
eine Fülle der herrlichsten Gedanken, aber nur einen Gott
und nur einen Rock besitzen freilich, es liegt immer
etwas Geist darin, ob der Rock dunkel oder hell, lang oder
kurz, zugeknöpft ist oder nicht; und in gewissen Moden
und Trachten kann man den Geist einer ganzen Zeit gleich-
sam verkörpert sehen, wie zum Beispiel die Allongeperücke
die Signatur der Zeit Ludwigs XIV., ein charakteristischer
Ausdruck der steifen Feierlichkeit ihres Ceremoniells und
ihres gesellschaftlichen Lebens war; und das leinene Hemd,
ja das Hemd überhaupt gleich dem Taschentuch eine Sig-
natur der modernen Kultur darstellt.
Noch unlängst hat man in den Zeitungen tiefsinnige
Betrachtungen darüber lesen können, wie es komme, dass
die Männer ihr Gewand nach rechts, die Frauen nach links
überzuknöpfen pflegen. Ein neuentdeckter Geschlechts-
charakter, den wir oben vergessen haben.
Vestitus, risus, incessus arguunt hominis ingenium. Eigent-
lich erkennt man an der Kleidung zuallererst Stand und
Nationalität. Lieber Leser, komm mit mir nach Wien, das
ungleich farbenreicher als Paris und irgend eine Stadt in
Mitteleuropa ist — welche Trachten! Welche sprechenden
Kleidungsstücke! — Die Pumphose charakterisiert den
— 151 —
Türken; die Fustanella den Griechen; die Bunda den Ungar;
die Tschamara den Tschechen; die Litewka den Polen und
das lebhaft gefärbte Kopftuch die polnische Arbeiterin —
so erkennen wir in London den Schotten an seinem Eült;
im Palais Royal den Araber, der Räucherkerzchen feil-
hält, an seinem Burnus ', und in der ganzen Welt den
Juden an seinem asiatischen Kaftan und den anmutigen
Peies. Bekanntlich nennen wir bis auf den heutigen Tag
die Krawatte nach den Kroaten, welche sie zuerst getragen
und unter Ludwig XIV. in Frankreich Mode gemacht
haben. Die Nationaltracht zu dem leiblichen T3rpus hinzu-
genommen, lässt uns über die Herkunft eines Menschen
keinen Zweifel. Und ebenso gibt die Tracht ursprünglich
einen Massstab für die soziale Stellung des Trägers ab:
dass der Reiche prächtige und neue Stoffe, Samt und Seide,
kostbares Pelzwerk trägt, der Arme in Lumpen gehüllt ist,
macht sich ja von selbst; die sogenannten Kleiderordnungen
sorgen dann dafür, dass an den natürlichen Verhältnissen
nicht gerüttelt wird und dass jeder Stand den geziemenden
Anzug beibehält. Bis in die neuere Zeit galt die Kleidung,
in welcher man erschien, auch dem ernsten Manne als eine
Standesangelegenheit; durch die Frommen war der Bürger
an dunkle oder matte Farben gewöhnt worden, aber der
feine Stoff, die Knöpfe, die Stickerei, die Wäsche verrieten
gleich Perücke und Degen den Mann von Erziehung, der
sich innerhalb seiner vier Pfähle den Schlafrock gestattete,
aber ausser dem Hause auf seine Würde hielt. In der
neuesten Zeit verwischen sich die Kleiderordnungen mehr
und mehr, auch die Nationalkostüme, die bald aufgegeben,
bald umgekehrt ganz oder teilweise von anderen Nationen
angenommen werden. Um die Mitte des XVI. Jahrhunderts
kleidete man sich allgemein nach spanischer Mode, ein
Jahrhundert später allgemein nach französischer Mode, und
wenn die letztere auch im ganzen und grossen bis heute
tonangebend geblieben ist, so hält es doch nicht schwer,
bei einem und demselben Individuum ein orientalisches
— 152 —
Fes, ein schottisches Plaid und ein paar russische Juchten-
stiefel zusammen anzutreflFen. So sind die gelben lederbe-
setzten Zeugstiefel, die in heissen Ländern getragen werden,
neuerdings auch an Bord englischer und deutscher SchifiFe
üblich. Aber während die Trachten der Völker mehr die
Tendenz haben, sich untereinander zu vermischen und zu
ergänzen, zeigen die Trachten der Stände mehr die andere
Tendenz, zu gnnsten einer einzigen Durchschnittsform zu-
rückzutreten und sich auf einem bestimmten, allgemeinen
Niveau zu halten. In dieser Beziehung ist die französische
Revolution epochemachend gewesen, die alle gesellschaft-
lichen Rangunterschiede aufgehoben und an die Stelle des
Brokats das Linnen, an die Stelle der Seide und des Samts
das Tuch gesetzt hat. Im Mittelalter waren die Adeligen
adelig von der Spitze ihrer Hüte bis zu den Absätzen ihrer
Stiefel und die Bauern Bauern von ihren Lederkappen bis
zu ihren Filzsocken und Bundschuhen. Heutzutage kleidet
ein und derselbe Tuchrock nicht bloss den Franzosen und
den Deutschen, sondern auch den Arbeiter und den Grafen;
und wenn der letztere nicht von seinen gotischen Ahnen
her sein Blaues Blut und nach dem Vorgang des mann-
haften Herkules noch etwas Schwarzes hätte, er wäre nicht
zu erkennen.
Immerhin bleiben selbst innerhalb unserer Kreise genug
Nuancen übrig, die den Beobachter leiten können: der
nivellierenden Mode zum Trotz grenzen sich Nationen und
Klassen nach wie vor gegeneinander ab, die beredte
Sprache der Trachten ist zwar leiser geworden, aber nicht
verstummt. Dazu kommt, dass doch der Beruf nicht selten
eine bestimmte Tracht mit sich bringt und dass einzelne
Klassen bis auf den heutigen Tag ihre natürlichen, durch
die Verhältnisse gebotenen Farben und Arbeitskleider
haben. Den Geistlichen erkennen wir an der schwarzen
Soutane, den Jäger am grünen Rock, den Koch an der
weissen Schürze, den Arbeiter an der blauen Blouse; Causi-
dicum, sagt Juvenal, vendit purpura, den Rechtsanwalt em-
— 153 —
pfiehlt der Purpur. Die pariser Bäcker tragen in der
Werkstatt eine Mütze oder eine Mitra von Papier, franzö-
sisch le mitron; in Rom thuen es die Bildhauer und Gipser.
Dergleichen natürliche Abzeichen werden im Laufe der
Zeit konventionell und wie die Uniformen der Soldaten
und Beamten zu indirekten Standesbekenntnissen — als
solche gehen sie uns hier, wo es sich um die Sprache ohne
x\bsicht der Mitteilung und ohne Gedankenaustausch han-
delt, noch nichts an. Aber schon wie sie sich aus der Art
des Handwerks von selbst ergeben, ohne dass damit etwas
bekannt oder angegeben werden sollte, sind sie verräterisch
und ohne Worte sprechend.
Es kann sich fügen, dass ein Hemdkragen, ein eng-
lischer Vatermörder, eine absonderliche Schuhzwecke den
Spürhunden der Polizei auf die richtige Spur hilft. In Rom
ist in einem Brunnen eine männliche Leiche gefunden
worden — niemand rekognosziert sie — guter Rat ist teuer.
Da kommt die heilige Hermandad: noch am Toten müssen
ihr die Kleider Rede stehen. Ei, ei, sagt sie zu den um-
stehenden Quirlten, habt Ihr die Stiefel des Ermordeten
nicht beachtet? — Die^lben sind mit kupfernen Stiften
beschlagen, wie sie in Italien nicht hergestellt zu werden
pflegen: als woraus wir uns abnehmen, dass es ein Fremder
gewesen ist. Und scheint Euch das etwa der Anzug eines
Kuriers oder eines armen Malers? Der Kleidung nach zu
urteilen muss er den höchsten Ständen angehören; die
Wirte, die den Fremden nach seinem Kleid empfangen,
haben ihm gewiss recht tiefe Bücklinge gemacht. Seht
Euch die Tuberose in seinem Knopfloch an — es ist ein
Engländer: seitdem der Prinz von Wales immer eine duf-
tende Tuberose im Knopfloch trägt, lieben alle Gentlemen
diese unschuldige Dekoration. Seht Ihr wohl? Nur Mut!
Vielleicht kriegen wir noch heraus, wie er heisst und wo
er wohnt
YestüuSy Visus, incesstis arguunt hominis ingenium. Innerhalb
der durch Nationalität und Stand gezogenen Grenzen kann
— 154 —
sich nun der Charakter des Individuums geltend machen,
sofern die vorgeschriebene Toilette wiederum tausendfache
kleine Modifikationen zulässt und den Liebhabereien und
Eigenheiten des Einzelnen den weitesten Spielraum gewährt.
Die Kleidung, sagt Polonius zu seinem nach Paris abgehen-
den Sohne,
kostbar, wie's dein Beutel kann;
doch nicht ins Grillenhafte; reich, nicht bunt;
denn es verkündet oft die Tracht den Mann.
Sie verkündet den unpraktischen Stockgelehrten, wenn
sie schlecht sitzt — den eitlen Gecken, wenn sie ge-
schniegelt ist — geschmacklos, den Parvenü — liederlich,
den Zerstreuten — ärmlich, den Geizhals — auffallend, den
Sonderling — gesucht, das Original. AflFektation, Pedan-
terie, Strenge, Ordnungsliebe, Sauberkeit, Herzensreinheit,
Hochmut, Eitelkeit, alle diese Eigenschaften prägen sich
deutlich im Anzug des Menschen aus, ohne dass er des-
halb die allgemeine Norm sichtlich zu überschreiten braucht.
Wie einer sich trägt, ja wie er den Hut aufsetzt, ob er
ihn tief ins Gesicht drückt, oder ob er ihn nach Art der
Juden hinten überfallen lässt; ob^ er ihn als glücklicher
Bräutigam auf die rechte oder als alter Krakehler auf die
linke Schläfe zieht; ob er ihn in schlechter Laune gar der
Quere setzt (met son honnet de travers) — sagt oft ebenso-
viel wie eine Falte des Angesichts und eine charakteristische
Physiognomie, obwohl dergleichen Manieren bereits wieder
vielfach in das Gebiet der Mimik hinüberspielen. Sie ver-
kündet auch das Weib, das adrette Stubenmädchen wie die
alte Schlumpe; die Hoifart bläht sich, die Demut verbirgt
sich in ihren Kleidern, die irdische Liebe putzt sich und
prunkt, die himmlische Liebe zieht gar nichts an, wenigstens
nach Tizians Auffassung (auf seinem berühmten Gemälde
VAmore sacro e profano in der Galerie Borghese in Rom,
siehe Rom in Wort und Bild, Band ii, Seite 443 4). Man kann
damit vergleichen, was jeder Städter weiss: dass die vor-
nehme Dame für gewöhnlich solid, aber einfach gekleidet
— 155 —
ist, die Tochter der Halbwelt aber, gelegentlich auch die
des kleinen Mittelstandes Staat macht, und meist nur mit
Mannheimer Gold und Similidiamanten.
Die Toilette ist die Domäne der Eitelkeit. Und doch
trachtet Frau Vanitas nicht immer nach Putz und Flitter-
staat; eine höhere Eitelkeit mag auch ans der gröbsten
Vernachlässigung des äusseren Menschen sprechen. Dio-
genes geht barfuss, unfrisiert, einen Stock in der Hand und
einen Quersack auf der Schulter als Bettler in Athen ein-
her und schläft in einer Tonne — er wickelt sich in seine
Tugend ein und pfeift auf die Welt — er ist ein Weiser.
Aber schon Sokrates bemerkte zu seinem Lehrer Anti-
sthenes, dessen Gehrock gleichfalls nicht recht ganz war,
aus jedem Loche desselben gucke die Eitelkeit des Trägers hervor.
Die Kleidung ist das erste, womit man einem Menschen
seine Hochachtung erweist, wenn man ihn ehren will; wer
sie also geflissentlich vernachlässigt, deutet damit an, dass
er sich um die andern Menschen nicht kümmere, und da
sitzt der Hase im Pfeffer. Man nimmt es einem schon
übel, wenn er sich aus Versehen oder Ungeschick nicht
ordentlich anzieht; kommt er nun gar absichtlich in un-
botmässiger Toilette, pocht er auf seine alten Sachen, nicht
um sie rein zu machen, sondern um sich damit zu brüsten,
so ist das gleich einer groben Beleidigung.
Der Philosoph gibt viel auf die Kleidung, ohne sie zu
schätzen, namentlich auf die Wäsche, weil sie vieles sagt
und auf die Meinung, welche sich die Menschen von uns
bilden, von grösstem Einfluss ist. Er weiss, dass wer
finanziell und moralisch herunterkommt, damit anfängt,
dass er sich in der Kleidung gehen lässt. Er macht keine
Mode, aber er macht die Mode mit; wenigstens widersetzt
er sich derselben nicht, sondern lässt Gott und den Schneider
walten. In diesem Sinne mag es heissen, dass ein guter
Anzug Kennzeichen des Weltmanns sei: Vir betie vestitus
vir creditur esse peritus.
Wie ein roter Faden zieht sich durch das vorstehende
— 156 —
Kapitel die Anschauung hindurch, dass der Mensch, wie
er dem Physiognomiker erscheint, eine Art von Statue
vorstelle; dass er wie eine Statue betrachtet und behandelt
werden müsse; und dass die Sprache des Angesichts die Sprache
eines Bildes sei, das seiner Natur nach von dem nach-
gebildeten Originale spricht. Dieses Original ist der Geist
— ein unbekanntes Wesen wie ein Gott oder wie irgend
eine mythologische Gestalt; von keinem sterblichen Auge
gesehn wie Zeus oder Hercules, von denen uns der Bild-
hauer gleichwohl geniale Bilder macht, die wir für zu-
treffend halten, ohne sie mit dem Modelle selbst zusammen-
halten zu können. Eine solche Anschauung liegt dem-
jenigen nahe, der viel Kunstwerke gesehn und dem Studium
derselben obgelegen hat; und sie bringt in das ganze
Problem eine gewisse Klarheit, selbst wenn man den Ver-
gleich nicht wörtlich nehmen wollte: sie g^ibt die Methode
an die Hand. Die Kunst bildet nur die Vorschule der
Natur, aber man kann in dieser Vorschule manches lernen^
was dann der Natur zugutekommt, und wer sich in einem
Antiken -Kabinett in der Bestimmung der Marmorbilder
geübt hat, dem wird es auch gelingen, wenn es an die
Bestimmung der Menschenbilder geht. Ist doch die Auf-
gabe ganz und gar dieselbe, selbst was den letzten Gegen-
stand, die Kleidung, anbelangt. Alle die göttlichen und
halbgöttlichen Wesen, die in unserem Museum abgebildet
sind, haben nicht nur ihre eigentümlichen Attribute, sondern
auch ihre eigentümlichen Trachten und Kleidungsstücke.
Athene trägt ihr Ziegenfell, die ÄgiSj Bacchus sein Reh-
fellchen, die Nehfis, Vulkan sein Arbeitshemd, die Exomis,
die kurz geschürzte Diana ihre Jagdschuhe; Mercur hat
einen Reisehut (Petasus), Odysseus eine Filzkappe (Fileus),
Paris eine Phrygische Mütze auf dem Kopfe. Dass histo-
rische Personen noch im Marmor die Tracht ihrer Nation
und ihres Standes nebst ihren persönlichen Eigenheiten
nicht verleugnen: dass der Römer seine Toga, der Grieche
sein Pallium y der Spartaner (und nach ihm der stoische und
— 157 —
cynische Philosoph) seinen alten Mantel (Trihon), der Perser
seine Beinkleider (Braccae), der Gallier seinen WaflFenrock
(Carac(üla)y der Germane ein Stück groben Wollzeugs oder
ein Tierfell umhat; dass den römischen Soldaten das Äa-
gum, den Feldherm das Faludamentumj den Pontifex Maximus
die Pelzmütze (Qalerus) und die purpurverbrämte Toga
(Toga praeteocta), die Matrone die Stola, die Ehebrecherin
und das prostituierte Frauenzimmer die Toga charakterisiert,
versteht ja sich von selbst.
Alle diese simplen Toilettegegenstände müssen im
Museum dem Besucher nicht selten nebst der Haartour
und den beigegebenen Symbolen zur Erkennung des
Kunstwerks dienen. So leitet uns draussen im Leben,
wenn andere Anzeichen fehlen, unzähligemal das Kleid zu
dem Namen des Geistes, dessen Ebenbild der menschliche
Körper darstellt Wiederholen wir Ciceros Wort mit einer
Modifikation: Änimi imago vvMus est, indices vestittLs et häbitus.
Drittes KapiteL
Die Sprache der Mienen und Geberden.
I. Die gelegentlichen Äusserungen. Interjeldionen.
Niemand badet zweimal in demselben Flusse — umsoweniger als sich der Ba-
dende selbst verändert — dennoch bleibt die Form des Organismus bis zu einem
gewissen Grade stationär — dieselbe wird nur vorübergehend gestört, indem
Reize an den Organismus herantreten und er auf die Reize reagiert — der
Spiegel des menschlichen Angesichts zerbricht einmal über das andere und stellt
sich dann von selber wieder her — zum Beispiel bei Aufregungen, im Zorne —
der Kardinal Wolsey, der rasende Ajax, Othello, Hamlet — das Spief der Mienen
macht von der stehenden Physiognomie eine Diversion — die Reflexbewegungen
sprechende Symptome, sie reden von den Affekten, die sie hervorgerufen haben,
und mittelbar von den entsprechenden Reizen — alle Geheimnisse seines Haushalts
schwatzt der Organismus aus — das Tier selbst hat diese Sprache — die Ohren
der Pferde, der Schwanz des Hundes, das Erwachen der Harpyie — Theoderich,
durch einen Fischkopf an das Gesicht des Symmachus erinnert — die Reaktionen
teils sichtbar, teils hörbar — Begriff der Interjektionen — dieselben sind bei
den verschiedensten Völkern gleich, gehen von Volk zu Volk — wie der pol-
nische Jude macht, wenn man ihm auf den Fuss tritt — sie werden gern ver-
doppelt und untereinander verbunden — Ergänzungen des Naturlautes durch
Pronomina und andere Worte — Gewohnheit, im Schmerz das höchste Wesen
anzurufen — der Name Linos, ein semitischer Klageruf — es läuft vieles unter
dem Namen Interjektion, was nichts damit zu thun hat — C?, bald Ausruf, bald
Zuruf — inwiefern Flüche und Schwüre die Funktion von Interjektionen erfüllen
— sie werden oft absichtlich verstümmelt und verdunkelt — Missbrauch des Be-
griffes Interjektion — Lockrufe, Scheuchnife und andere Weisungen, so man den
Tieren angedeihen lässt, dürfen nicht mit Naturlauten in einen Topf zusammen-
geworfen werden — die Lockrufe bestehen in den Namen der Tiere — wie
Gänse, Hühner, Enten, Tauben, Schweine, Zi^en, Katzen gerufen werden —
— 159 —
in Interjektionen reden ist ein Widerspruch — auch die Wörtchen, die man
Menschen zuruft, keine Interjektionen, sie haben vielmehr Beziehungen zu Sprach-
wurzeln — Holla! zu holen, Hip! zu hüpfen, St! zu stehen — Theorie, wonach
die Sprache überhaupt aus Interjektionen hervorgegangen sein soll — uns genügt
es zu konstatieren, dass einzelne Interjektionen zu Substantiven und umfangreichen
Begriffen erhoben worden sind, denn wir können die Interjektionen in unserem
Buch nur brauchen, nicht sofern sie Worte sind, sondern sofern sie keine
Worte sind.
Der griechische Philosoph Heraklit hat bekanntlich
gesagt, dass niemand zweimal in demselben Flusse ge-
wesen sei; und dabei nicht nur die Bewegung des Flusses,
sondern auch unsem eignen Wechsel, den Stoffwechsel, im
Auge gehabt. In der That, so oft wir in einem Flusse
baden, kreuzen sich gleichsam zwei Ströme, der Strom des
Wassers und der Strom des Lebens; sie gleichen zwei
Schnellzügen, die den Bahnhof zugleich, aber in verschie-
denen Richtungen verlassen, oder um bei unserem Bilde
zu bleiben, unser Körper ruht nicht wie eine Seerose auf
dem Wasser, er durchschneidet es wie ein Schiff. Auch in
einen Teich können wir nicht zweimal hinabsteigen. Es
ist gewiss seltsam sich vorzustellen, dass man im nächsten
Augenblicke schon nicht ganz mehr derselbe und nach einigen
Wochen ganz ein anderer sein soll. Aber die Naturwissen-
schaft gibt dem Heraklit vollkommen recht, an ein zwei-
maliges Rheinbad ist gar nicht zu denken, im Gegenteil
wird durch das kalte Wasser der Stoffwechsel noch be-
schleunigt.
Indessen bleibt doch bei allem Wechsel des Inhalts
die Form unseres Organismus einigermassen stationär, und
wenn auch das Alter eine gewisse Veränderung hervor-
bringt, so erhält sich doch der einmal geschaffene Typus,
namentlich in den mittleren Jahren, mit ziemlicher Hart-
näckigkeit. Wäre dem nicht so, so würden wir uns ein-
ander gar nicht wiedererkennen, und die Behauptung des
griechischen Philosophen erschiene uns selbstverständlich.
Wir sind keine Chamäleons, die unablässig Farbe wechseln;
noch weniger Proteusse, die sich in tausend Gestalten ver-
— 160 —
wandeln können. Man kann von dem Charakter des Men-
schen sagen, dass er sich im Laufe des Lebens nicht ändere;
dass er sich nur aus Politik nicht immer zeige, aber de-
maskiere, sobald als es die Verhältnisse erlauben; und dass
sich einer ins Grab lege, wie er in der Wiege geatrtet ge-
wesen sei. So ändert sich auch die Physiognomie des
Menschen nicht wesentlich, was auch Alter, Lebensweise,
Schicksal für Einfluss haben mögen, das Leben des Einzelnen
ist zu kurz, als dass eine völlige Umbildung vor sich gehen
könnte, eine solche bedarf ganzer Generationen. Mutter
Natur hat uns in ihrer Weisheit eine bestimmte Nase,
einen bestimmten Mund, eine bestimmte Statur gegeben,
und dabei bleibt es.
Nur die kleinen Zufälle des Lebens und die Auf-
regungen des Tags bringen vorübergehende Störungen
hervor: so oft an den Organismus ein Reiz herantritt, er-
folgt eine Reflexbewegung, der Organismus erweist sein
Leben, indem er auf den Reiz reagiert, und aus den phy-
siologischen Veränderungen, die er bei dieser Gelegenheit
erleidet, kann eben auf den Reiz zurückgeschlossen werden.
Ein Stein, den man irCs Wasser wirft, sagt der persische
Dichter Saadi, erregt kein üngewitter, so wenig als eine Be-
leidigung in einer grossen Seele, Und doch wird auch der
Stein auf einen Moment die Klarheit des Spiegels trüben,
um so gewisser, wenn es ein grosser Stein und ein kleines
Wasser gewesen ist. Der Spiegel bekommt ein Loch,
stiebend fliegen die Splitter in die Höhe, ein Kreis auf
den anderen wird geschlagen wie ein Wundrand; dann ist
die Wirkung vorüber und der Spiegel wieder glatt. So
zerbricht der ebene Spiegel des menschlichen Angesichts
den Tag über tausendmal, sei es, dass ein Steinchen hinein-
geworfen wird, sei es, dass ein Wind hineinbläst; dann
stellt er sich von selber wieder her. Seht den Kardinal
Wolsey, dessen Hirn, nach den Worten des Herzogs von
Norfolk (Shakespeare, A'öni^ Heinrich der Achte, HI, 2) in seltsamem
Aufruhr ist:
— 161 —
er beisst die Lippe, starrt;
hält plötzlich an den Schritt, blickt auf die Erde,
legt dann die Finger an die Schläfe; stracks,
springt wieder auf, läuft schnell, steht wieder still,
schlägt heftig seine Brust; und gleich drauf wirft er
die Augen auf zum Mond.
Seht den riesigen Ajax, den ein ungerechtes Urteil
rasend gemacht hat: die Waffen, die er verdiente, sind dem
Odysseus zugesprochen worden: so sucht er die Waffen
zusammen, die ihm die Natur am eignen Leibe verliehen
hat, seine Feinde zu vernichten, ja, sie gegen sich selbst
zu kehren. Er stampft mit dem Fusse, er ballt die Fäuste,
er fletscht die Zähne, er nagt grimmig die Unterlippe, seine
Augen rollen und schiessen gleichsam Blitze; der ganze
gewaltige Bau erbebt in blutiger Wut, das Blut kocht und
schäumt in den Gefässen, wie der Vierwaldstättersee, wenn
er ein Opfer haben will. Der Zornige ist schrecklich wie
Othello, da er Desdemona mordet — wie Hamlet, da ihm
der Geist seines Vaters erschienen ist — er wird auch
wieder gut und entwaffnet sich wie Hamlet, von dem seine
Mutter meldet, dass- die Hitze bei ihm schnell verraucht sei:
So tobt der Anfall eine W^eil' in ihm;
Doch gleich, geduldig wie das Taubenweibchen,
Wenn sie ihr goldnes Paar hat ausgebrütet,
Senkt seine Ruh' die Flügel.
Da dieses Mienenspiel niemals von selbst erfolgt, son-
dern regelmässig in einem stärkeren oder schwächeren
Affekte und mittelbar in einem entsprechenden Reize seine
Ursache hat, so ergibt sich daraus eine physiognomische
Bedeutung, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine
Diversion von der stehenden Physiognomik macht. Die
Reflexbewegungen sind sprechende Symptome, sprechend
wie die Züge des Angesichts, nur dass sie gelegentlich er-
scheinen und mit den Reizen vorübergehn — es redet der
Mensch, so oft er weint und lacht, in Traurigkeit und Freude,
bei jedem Ereignis seiner Brust. Die zwei kleinen Muskeln,
welche die Haut, auf der die Augenbrauen stehen, bei
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 11
~ 162 —
Verdruss nach innen bewegen; die komplizierten Muskeln,
welche die Bewegungen der Lippen vermitteln und die
Mundwinkel bald hinauf, bald hinabziehen, was man neben-
beigesag^ bei runden Gesichtern kaum unterscheiden kann;
die geballte Faust, die zuckende Hand, die aufgeblähten
Nasenlöcher des Apollo von Belvedere — es sind ausge-
zeichnete Dolmetscher der Vorgänge in unserm Innern.
Das Tier selbst hat diese Sprache — man achte z. B. auf
die Ohren der Esel und der Pferde, wie fleissig und aus-
drucksvoll sie mit ihnen spielen, auf den Schweif des
Rosses und den Schwanz des Hundes; im Zorn legt das
Pferd die Ohren hinter sich, die Katze krümmt den Rücken,
der Löwe peitscht sich die Flanken mit dem Schwänze und
die lebhaften Augen funkeln. Aufrecht und in steinerner
Ruhe sitzt die Harpyie in ihrem Käfige, nur das drohende
Auge glänzt von stillem Grimme. Plötzlich, durch den
Anblick eines ihr überlassenen Tieres aufgestachelt, belebt
sich die Statue, mit Wut stürzt sich der majestätische Vogel
auf sein Opfer und tötet es mit zwei Schlägen. Alle leben-
digen Wesen äussern ihre Empfindungen, ihre Leiden und
Qualen in Lauten und Geberden, und es ist eine Sprache,
die keines von ihnen misshört, denn alle aus gleichem Stoff
geformt, verstehen wir einander, wie Thetis die Seufzer
ihres Sohnes in den Tiefen des Meeres hört Oder hat
Homer den Schmerz des Achilles beim Tode des Patroklus
nicht auch für ims geschildert? Ist uns die Niobe ein Rätsel?
Brauchen wir einen Cicerone für den Laokoon? — Natur,
unsere Mutter! Wer verkennte deine mächtigen Geberden!
Und welcher Fremdling ist deiner heiligen Stimme taub?
Du bist beredt, wenn die Zunge mühsam stammelt; du
rührst und erschütterst, wenn Worte im Wind verhallen;
du sprichst das uralte, bilderreiche Idiom, in dem sich Götter
und Götterwesen unterhalten.
Es heisst, dass König Theoderich durch einen grossen
Fischkopf, der vor ihm auf der Tafel stand, an das ver-
zogene Antlitz des hingerichteten Symmachus erinnert
— 163 —
wurde; dass er sich darüber entsetzte, das Fieber bekam
und starb. Täglich blicken wir in solche verzogene Ge-
sichter, und sie melden uns, wenn nicht von Todesqualen,
so doch von anderen Qualen; von den vielfachen Störungen,
denen die Gesundheit und Ruhe des Organismus hienieden
ausgesetzt ist. Und wir sehen ihn nicht nur das Gesicht
verziehen, wir hören auch, wie er sich krampfhaft der
Quälgeister erwehrt — wie er hustet, weil ihm ein Krüm-
chen in die unrechte Kehle gekommen ist, wie er niest,
weil ein Kömchen Tabak oder ein Lüftchen seine Nasen-
schleimhaut reizt, wie er weint und schluchzt, seufzt und
ächzt, händeringend klagt und schreit und gleich einem
müssigen Verwalter alle Geheimnisse seines Haushalts aus-
schwatzt. Er behält nichts bei sich und schweigt nur, wenn
er zufrieden ist.
Denn wir können unter unsem Reaktionen, obgleich
diese beiden Klassen selten getrennt auftreten, zwischen
sichtbaren und hörbaren unterscheiden; und wenn wir das
thun und was von Reflexbewegungen mit der Stimme aus-
geführt wird als ein eigenes Gebiet absondern, so streifen
wir damit an das, was die Grammatiker Interjektionen nennen,
so nahe, dass man beim Weinen und Lachen, beim Seufzen
und Schreien schon geradezu unter die Interjektionen gerät.
In der That sind diese interesisanten Lebensäusserungen,
obwohl eigentlichen Worten scheinbar ähnlicher als Mienen,
doch nur in demselben Sinne sprechend, wie es die Mienen
waren: sie stellen Reaktionen auf Reize dar, sie beruhen
wie die Falten, in die sich die Stime legt, auf einer Kette
mechanischer Wirkungen, sie wollen nichts ausdrücken,
nichts malen, sie verraten die inneren Zustände nicht als
Bilder, sondern nur als Folgen. Wenn wir in der Ver-
wunderung nicht bloss die Hände über dem Kopfe zu-
sammenschlagen, sondern auch in ein Ah! ausbrechen, das
sich bei der Überraschung in ein Aha! verwandelt — wenn
■wir im Schmerze Au!, bei einer geringeren Verletzung Fft!
machen, indem wir die Lippe an die Zähne legen und,
11*
- 164 —
gleichsam um darauf zu blasen, die Luft einziehen — wenn
der Frierende Hu!, der im Wundfieber Schaudernde Schock!
ausruft — wenn sich der Widerwille in IfuH, die Bedenk-
lichkeit in JEfm/, die Freude in Jtich! und Heisa! Luft macht:
so sind das reine Naturlaute oder Empfindungslaute,
die zwar einer instinktiven Beziehung zu dem vorherge-
gangenen Reize und einer Anpassung an ihn nicht ent-
behren, immerhin nur ein rein persönliches Bedürfnis, das
Bedürfnis der Reaktion befriedigen, daher auch, wie Pris-
cian sag^ per exclamationem interjiciuntur , das heisst, in die
Rede hineingeworfen werden, ohne selbst Redeteile zu sein
und ohne im Satze eine bestimmte Stelle einzunehmen.
Deshalb sind auch die Interjektionen bei den verschie-
densten Völkern gleich: sie gehören gleichsam zum Haus-
halt des menschlichen Organismus, und wie bei allen Men-
schen das Blut durch dieselben Gefässe läuft, wie sie alle
dieselben Nerven haben, so brechen sie auch alle in die-
selben Thränen und in dieselben Laute aus. Nicht bloss wir
verwundem uns mit einem 0/, schon die alten Griechen
und Römer thaten es. Nicht bloss uns reisst das Erstaunen
zu einem Äh! hin, sondern auch den Araber, wie jeder
wissen wird, der das langgedehnte Äah! des Publikums bei
Erzählungen in Kaffeehäusern vernommen hat. Nicht bloss
in Deutschland macht der erschöpft Keuchende oder der
Erstickende D/"/, sondern auch in Frankreich (Ouß, Unser
Weh!, eine Interjektion, aus der das Substantivum Wehe
entsprungen ist, englisch Woe!, entspricht aufs deutlichste
dem arabischen Weh!, dem hebräischen '»IN !,*) dem lateinischen
Vae! und dem griechischen ^l\ oder Ovall; unser Pfui!, eng-
lisch Fy!, italienisch und französisch Fi!, dem lateinischen
Phy! und dem griechischen ^evV, unser Hm! dem französi-
schen Hein! und dem lateinischen Hern!; unser JtLchf dem
lateinischen lo! und dem griechischen Yw. Kleine Modifi-
*) Daneben rtn« und »». Noch heute macht der pohlische Jude, wenn man
ihm auf dem Brühl in Leipzig auf den Fuss tritt: 0/!
»
9
i
}
4
/
— 165 —
kationen laufen selbstverständlich unter. Ausgeschlossen
ist auch nicht, dass die Gleichheit auf Entlehnungen beruht,
denn nichts geht leichter von Volke zu Volke als Inter-
jektionen. So scheinen die Italiener ihr Oihd!, soviel wie
M was! Ei hewahrßf, den Griechen abgelernt zu haben, denen
Aißol! ein Ausruf des Unwillens ist. Endlich wechselt wohl
auch der Gebrauch einer Interjektion von Volke zu Volke.
Zum Beispiel ist JJii! bei uns ein Ausruf freudiger Ver-
wunderung, in Italien fast immer ein Schmerzensruf: Mi son
Iruciato un dito, ahil — wir wimmern vielmehr, wenn wir uns
einen Finger verbrennen; auch in Frankreich drückt AM!
und in Spanien Äy! die Empfindung eines heftigen Schmerzes
aus. Das Aliif der Romanen mag aber gar nicht mit un-
serem Ähif, sondern vielmehr mit unserem Ach! identisch
sein. Im grossen und ganzen stimmen die Nationen in
ihren Interjektionen merkwürdig überein, und zwar von
Haus aus, wie die Vögel.
Auch die Art und Weise, diese Naturlaute hervorzu-
bringen, ist so ziemlich bei allen Menschen eine und die-
selbe. Überall werden die Interjektionen gern verdoppelt,
wie die Ausdrücke der Kindersprache: wir schreien Au! au!
oder Ei! ei! wie der sophokleische Philoktet: Alal alail
oder gar IlaTiaTtTtaTtaTtTtartrtaTtai ! — Das herzliche, volle
Lachen, das wir mit Haha! wiedergeben, und das feine
Kichern, das wir mit Hihi! bezeichnen, das eine wie das
andere beruht, wissenschaftlich ausgedrückt, nur auf einer
Reduplikation, so gut wie das indogermanische Perfektum.
Unser Lachen ist eben weiter nichts als eine schnelle
Wiederholung der Interjektionen Ha! und HU, welche beide
als solche bei etwas Unerwartetem, PlötzHchem, Über-
raschendem ausgestossen werden ; das Unerwartete im
Hervortreten eines Irrtums macht uns eben lachen, ja ohne
das verfehlt schon der körperliche Kitzel seine Wirkung.
Desgleichen werden die Interjektionen gern unterein-
ander, zum Beispiel 0! und Weh! y verbunden; wenn wir
einen schlechten Kalauer hören, so sagen wir, weil er uns
— 166 —
ge Wissermassen wehthut, Auweh! — die armen Juden haben
oft g-enug bei realeren Anlässen Ämceih! geschrieen. Na-
mentlich liebt es der Sprechende, die Beziehung auf sein
liebes Ich durch einen Casus des Pronomens der ersten
Person anzugeben, eventuell auch noch ein und das andere
Prädikat ergänzend hinzuzusetzen, wo er dann mit einem
Fusse in das Gebiet der wirklichen Sprache überzutreten
scheint. Wie Rüdiger im Nibelungenliede auf die Bot-
schaft, dass die Könige kommen, mit berliner Färbung
spricht: Nu ivol ir^ich dirre mceref — so ruft umgekehrt der
unglücklich liebende Schäfer aus: weh mir armen Koryäm!
— Im Lateinischen sind Hei mihi! Hei trdhi misero!, im Grie-
chischen 0)'fioij ja sogar mit Verdoppelung, Oijlioi fioi die
allerge wohnlichsten, bei den Dichtern fortwährend wieder-
kehrenden Schmerzensrufe.*) Analog wird wohl auch an-
deren Personen ein Wehe! zugerufen: Vae victis! sagte Bren-
nus in Rom, sein Schwert in die Wagschale werfend;
Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Sethsaida! schalt Christus die
Städte, in welchen am meisten seiner Thaten geschehen
waren. Indessen man notiere, dass hier das Wehe! kaum
noch als Naturlaut gelten kann; die Interjektion schickt
sich ihrem Wesen nach nur zu dem Pronomen der ersten
Person. Aber es läuft überhaupt manches unter dem Namen
Interjektion, was gar nichts damit zu thun hat.
Wenn der ursprüngliche Naturlaut Wehe! zu Weherufen
über zweite und dritte Personen verwendet wird, so ist der
freiere Gebrauch desselben wenigstens von der Interjektion
ausgegangen; es kann aber auch vorkommen, dass ein und
derselbe Laut bald Interjektion, bald Nicht-Inteijektion ist
*) Der Name Linos scheint der Rest einer derartigen pränominalen Ver-
bindung zu sein. Linos war nach der griechischen Mythologie ein schöner
Jüngling, auf dessen frühen Tod Trauerlieder gesungen wurden. Diese Linos-
lieder hiessen AlXlvol, und es ist nicht ganz unwahrscheinlich, das Aikivog auf
den semitischen Klageruf Oilänu (hebräisch) oder (arabisch) Welanä, wörtlich
wehe uns, zurückgeht und der Name Linos selbst nur die Personifikation dieses
Klagerufes, der durch Aphäresis die erste Silbe verloren hätte, darstellt.
— 167 —
und beide Ausdrücke gar nicht unter einander zusammen-
hängen. Die Interjektionen dienen zu Ausrufen, nicht zu
Anrufungen oder Zurufen — per exclamationen interjiciuntw.
Der Zuruf will gehört und verstanden sein; der Ausruf ist
sich Selbstzweck, er erfolgt unbewusst und unwillkürlich
und ist für den Beobachter nur lehrreich als ein Natur-
ereignis. Nun nehme man aber einmal den Vokal 0. Ihn
stossen wir bald im Affekt hervor, bei der Verwunderung,
in der Freude, im Zorne und im Schmerze, indem wir die
Hände ringen; der gebrochene Othello wiederholt ihn
dreimal:
O, Desdemona, Desdemona, tot?
Tot? O! O! O! -.
Ein andermal ist das Zeichen des Vokativs, wir ver-
binden es mit dem Namen, um die Anrede zu verstärken
und gleichsam an die Thüre des Verstandes anzupochen,
wie wir zu demselben Zwecke He! brauchen und wie die
alten Römer Heus! riefen: Heus! heus! Syre! — dies ist zum
Beispiel der Fall, wenn Benjamin Schmolck singt:
O, Mensch, gedenk ans Ende!
Beide Bedeutungen, Ausruf und Zuruf, sind nun offen-
bar streng auseinanderzuhalten, was schon die Engländer
einsahen, die das 0! als Empfindungslaut lieber Oh! schrei-
ben wollten; die Sache ist nur nicht so einfach als sie aus-
sieht. Dass ein 0! durch die ausdrückliche Beziehung auf
das Ich zur Interjektion gestempelt wird, leuchtet ein; wenn
ich sage: 0, ich Ärmster! oder wenn Lenore zu ihrer
Mutter sagt:
O, Mutter, Mutter, hin ist hin!
Nun fahre Welt und alles hin!
Bei Gott ist kein Erbarmen,
O weh, o weh mir Armen! —
SO sind das echte Empfindungslaute. Aber ist es nun so,
dass jedesmal die Verbindung des mit dem Namen einer
anderen Person bewiese, das sei ein Vokativzeichen und
— 168 -
keine Interjektion? — Weitgefehlt; schon bei 0, Desdemona
und bei 0, Mutter, Mutter lässt sich über den Sinn des Vo-
kales streiten. Es ist dem Menschen eine fromme Gepflo-
genheit, in seinem Schmerz das höchste Wesen anzurufen
— Gott soll gleichsam Zeuge des erduldeten Wehes sein,
Gott soll helfen, Gott soll rächen — Gott oder der Himmel
oder der Heiland oder die heilige Mutter Gottes. 0, Gott!
heisst es, oÄ, Dio! 0, Lord! 0, Himmel! 0, Heavens! 0, Hei-
land! 0, Jesus! und so weiter. Gleichwohl ist die Anrufung
in solchen Fällen keine direkte, wie man schon daraus ab-
nehmen kann, dass statt 0! auch Ach! eintreten, anderseits
das 0! ganz fehlen darf; es heisst wohl ebenso oft: Mein
Gott! Gott im Himmel! Allmächtiger Gott! Mon Dieu! Dio mio!
Herr Jeses, Herr Jeses! Corpo di Gristo! Madonna santa! Maria
santissima! und so weiter. Zum mindesten hat sich nach-
träglich der anrufende Charakter dieser Phreisen erheblich
abgeschwächt, so dass sie gleich den Formeln des Schwurs,
des Fluchs und der Verwünschung geradezu die Stelle von
Interjektionen vertreten müssen und per exclama^tionen inter-
jiduntur. Dann dürfte aber auch das vorgesetzte 0/ kein
Vokativzeichen, sondern ein echter Naturlaut sein, der durch
die nachgesetzten Begriffe nur eine formelhafte Erweiterung
erführe.
Darf man denn aber etwa Flüche und Schwüre selbst
als Interjektionen gelten lassen? — Dass sie die Funktion von
solchen erfüllen, häufig erfüllen, ist zweifellos. Man hat den
Fluch: Hol mich der Teufel! das Soldatengebet genannt; nun
wenn der deutsche Soldat: Hol mich der Teufel! oder Fotz-
hunderttausend- Sack-voll- Enten! ruft, der Franzose Morhleu!, der
Spanier Caramba!, der Nordamerikaner by the living Jingol
schwört, so macht sich damit für gewöhnlich nur eine leb-
hafte, oft ganz unschuldige Empfindung, die Verwunderung,
die Ungeduld, der blaue Ärger Luft. Und diese seltsamen
Formeln eignen sich zu besagtem Zwecke um so mehr, als
sie nicht nur freiwillig, durch die mechanische Verwitterung
der Sprache, zu völlig unverständhchen, formlosen Klumpen
— 169 —
zusammenballen, sondern auch gar gern absichtlich ver-
stümmelt und verdunkelt werden, indem das Volk vor dem
unfrommen Ausdruck scheut und den Namen Gottes, wie
den des Teufels verkleidet und verhüllt. Aus Jesu mein!
wird Jemine !j aus Sacre nom de Dieu: Sackerlot !y aus Teufel: der
Deixel! , in Wien: Kruziadaxl! und aus Volant: Samt Veiten!
gemacht, wenn man nicht gar den Kuckuck und seinen Küster
dafür braucht vStatt Himmeldonnerwetter! bringt der Hand-
werker ein Himmel 'Donnerstag -und- Freitag!^ Donnerlüchting !
oder Himmel-Ha^el-Regenschauer ! hervor; das Potz in Potz-
tausend! ist aus Bocks oder Gotts entsprungen. Sothane Ver-
kleidung geht durch alle Sprachen, durch die deutsche
und englische so gut wie durch die französche und italie-
nische. Das Gebot: du sollst den Namen deines Gottes nicht
misshrauchen wird in England wohl beachtet. Anstatt Gott
im Himmel! sagt die Engländerin: Oh, dear me! — während
die jungen Herrn by Jove oder hy Jingo schwören. Diesseits
des Kanals missbrauchen sie den Namen Gottes, ohne dass
mans merkt. So ist das französische Morhleu! soviel wie
Mort de Dieu! — Parhleu! soviel wie Par Dieu! — Jarnihleu!
soviel wie Je renie Dieu, ich verleugne Gott. Jarnidieu!
sagten sonst die Franzosen in der Hitze sehr gewöhnlich,
auch Heinrich IV. bediente sich dieses Schwurs, und es ist
bekannt, dass er, weil ihm der Jesuitenpater Coton, sein
Beichtvater, darob Vorwürfe machte und ihm sagte, er
möge ihn lieber selber verleugnen, das Wort Jar nicoton!
einführte. Aus Diable! macht der Franzose Diantre!, und
die LiebUngsphrasen der Gascogner: Sandis! und Cadidis!
beruhen auf Sang Dis! Blut Gottes, und Gap de Dis! Haupt
Gottes. Der Italiener, der diese Art zu verdrehen als Jona-
dattico bezeichnet, ist nicht minder reich an interjektionalen
Formeln von schwer zu erratender Herkunft. Er verwandelt
Per Dio! in Perdinci! — Cospetto di Dio! oder bloss Gospeito!
das ist: Anblick Gottes! in Gaspita!^ eine namentlich in Nea-
pel gehörte, zugleich spanische Interjektion; Diavolo! in
Diamine! oder Diascolo! oder Diascuci! ; ÄccidentH, eigentlich
— 170 —
H colga un accidentel, das ist: dich treffe ein Unglück! oder
Dio ti mandi un accidente! das ist: Gott schicke Dir ein Un-
glück!, in: Acdderha! und so weiter. Der Römer hat ganz
eigene, gottlose Flüche, zu deren Verständnis weiter nichts
als die Bekanntschaft mit der schlechten Bedeutung der
Ableitungssilbe -accio gehört. Er bringt es fertig zu sagen:
Per Cristo, Vammazzo! Bei Christus, ich schlage ihn tot! und
dabei noch per Cristo in per Gristaccio! zu verhunzen; er
schwört krass: Pei mortacci tuoi! Bei den Äsern, die du be-
graben hast! — was an den Fluch der Südseeinsulaner er-
innert: Grabe deines Vaters Geheine aus zur Suppe! oder Schmore
deinen Grossvater, und seine Hirnschale sei dein Imbiss! — Nun,
wenn über die Bedeutung der Worte der gegenwärtige
Zweck und der Gebrauch entscheidet, so sind diese Floskeln
der menschlichen Rede, deren Reichtum man nie erschöpfen
und deren Ursprung man nur in gewissen, gutartigen Fäl-
len erraten kann, sicherlich Interjektionen, wie unser 0/ und
Ach!y ja, volltönende, kräftige Interjektionen. Wenn es aber
auf den ersten Sinn des Ausdrucks ankommt, so weit wir
ihn eben blosszulegen imstande sind, so erhebt ihn gerade
dieser Sinn, der einer blossen Interjektion niemals inne-
wohnt, über das Gebiet mechanischer Reflexbewegungen.
Und wir müssen bedenken, dass, wollte man alles, was im
Sturme des Gefühls von Sätzen und Phrasen zwischen die
Rede eingeschoben wird, zu den Interjektionen rechnen,
das Gebiet der letzteren gar unendlich wäre.
Man missbraucht vielfach den Begriff Interjektion, Es
sieht bald so aus, als ob die Grammatiker und die Lexiko-
graphen jedes kleine, ausserge wohnliche Wörtchen, mit dem
sie nichts anzufangen wissen, aufs Geratewohl zu den Inter-
jektionen geschlagen hätten. Hü! Interjektion. Hott! Inter-
jektion. Heda! Interjektion. Pst! Interjektion. Pütt, putt! In-
terjektion. Aber, den Teufel auch! was hat das mit Inter-
jektionen zu thun, wenn ich den Tauben oder den Hühnern
Putt, putt! mache? — Lockrufe und andere Weisungen, wie
wir sie namentlich den Tieren angedeihen lassen und die
— 171 —
bewusste, absichtlich hervorgebrachte und geschickt formu-
lierte Willensäusserungen darstellen, darf man doch nicht
mit Natur- und Empfindungslauten in einen Topf zusammen-
werfen. Wenn wir auf der Hetzjagd Tai! oder Wallof rufen
— wenn der Fuhrmann seine Pferde mit Hü! antreibt und
mit Brr! oder Oho! anhält: so ist das doch von einem Haha!
oder Eiei! himmelweit verschieden. Oder sind etwa diese
Zurufe von Haus aus Interjektionen, die nun in befehlendem
Tone reproduziert werden? Wer eine bittere Arznei geniesst,
schneidet Grimassen und schüttelt sich mit einem Brrr! —
Vielleicht, dass er damit instinktiv gegen den bitteren
Trank ankämpfen und ihm gleichsam Stillstand gebieten
will; und dass der Fuhrmann diesen Naturlaut verwertet,
indem er zu seinen Pferden Brr! sagt? — Die Erklärung
dürfte im vorliegenden Fall wohl zutreffen, aber ich zweifle,
dass sie für gewöhnlich zulässig sei. Die Befehle, welche
wir den Tieren geben, scheinen der eigentlichen Begriffs-
sprache viel näher zu stehen, als der Sprache ohne Worte,
zu der wir die Interjektionen zählen — abgesehen davon,
dass eine Interjektion, die man zu einer bewussten Mittei-
lung benutzte, strenggenommen aufhören würde, eine Inter-
jektion zu sein. Wir verstehen nur die Etymologie jener
Befehle nicht. Hott! bedeutet in der Fuhrmannssprache
Rechts!, Har! und Wist! ist soviel wie Links!; der Franzose
ruft, wenn die Pferde rechts gehen sollen, Hue! oder noch
häufiger Huhaut!, denn Hue!, offenbar identisch mit unserem
Hü!, dient auch im allgemeinen dazu, die Pferde anzutreiben;
wenn die Pferde links gehen sollen, ruft der französische
Fuhrmann Dia! — Daher heisst es in Frankreich von zwei
Personen, die sich gegenseitig zuwiderhandeln, sprichwört-
lich: Vun tire ä hue et Vautre ä dia. Aber gewiss wurzeln
diese Wörtchen ebensogut im Boden der indogermanischen
Sprachen wie das Sta hos! der Auvergnaten darin wurzelt:
mit diesem Zuruf halten sie, wenn sie mit dem südlichen
räderlosen Pflug, der kaum das Erdreich ritzt, die schweren
Schollen bearbeiten, ihre langsamen Ochsen an. Die Auver-
— 172 —
gnaten verstehen ihn selbst nicht: ist er deshalb nicht latei-
nisch? Steh, Ochse, steh! —
Und wenn wir unserem bellenden Hunde mit Kusch!
Kiisch dich! Schweigen auferlegen, ist das nicht französisch?
Allez vous coucher f Lege dich nieder! — Ich empfehle es
der sprachreinigenden Gesellschaft, diesen charakteristischen
Rest eines französischen Fremdwortes auszumerzen.
Unsere Landleute haben eine Menge interessanter Lock-
und Scheuchrufe für die Haustiere, Schweine, Ziegen, Gänse,
Hühner, Tauben u. s. w.; sie gehören einer eigenen Sprache
an, die sich zwischen Menschen und Tieren entwickelt hat
und die sich im allgemeinen der Berechnung ganz entzieht.
Wir rufen die Katze Miez! ; die englische und auch die
schweizer Katze bleibt gegen den Ruf Miez! gleichgültig,
sie will Pm55/ respektive Bus! angeredet sein, während
Bussel ein Hundename ist; und die französische Minet! — In
Bayern rufen sie die Schweine SukH, in der Niederlausitz
Tschinka! — Tauben und Hühner werden mit Butt! Pütt!,
die letzteren auch mit Büe! Bile! gelockt; die Italienerin
ruft den Hühnern, wenn sie ihnen Futter geben will, zu:
Büle! Bille! Billi! Büli! Curra! Curra! — Wer zum Beispiel
in der Umgegend von Dresden eine Herde Gänse gesehen
hat, der wird beobachtet haben, dass die böhmischen Hirten
sie mit Hussa! Hussa! oder Husche! Husche! dirigieren. Aber
in einzelnen Fällen lässt sich doch eine Etymologie mit
Wahrscheinlichkeit ermitteln, eben der Lockruf für die
Gänse ist in dieser Beziehung schlagend. Wie es scheint,
ist sothane Sprache doch nicht durch eine Art Kompromiss
zwischen Menschen und Tieren zustande gekommen, son-
dern wir muten den Tieren zu, unsere menschliche Sprache
zu erlernen. Es muss jedem auffallen, dass die Lockrufe
zugleich geläufige Namen der Tiere sind. Und wir dürfen
vermuten, dass wir die Tiere einfach mit ihren Namen
locken, mit anderen Worten, dass es besondere Lockrufe
gar nicht gibt. Die Gans heisst auf böhmisch, wie jeder-
mann von dem Reformator Johannes Huss her weiss, Husa
— 173 —
oder Hus; wenn die Böhmen also Hussa! Hussa! rufen, so
ist das geradeso, als ob sie Gänse! Gänse! riefen. Im Wen-
dischen ist Liha Liba Schmeichel- und Lockname der ein-
zelnen Gans, eine Abkürzung von Gottlieb; für die Herde
gilt gleichfalls Huso. Wir locken die Tauben nicht nur mit
PuM! Futt!y sie heissen auch selber Puttchen, wie die Katze
selber Mieze heisst. Mieze selbst ist weiter nichts als die
Koseform des Namens Mane, die auch für menschliche
Marien angewendet wird; der Kater führt den Namen Hinz
= Heinrich, Auch in der ersten Szene von Shakespeares
Macbeth heisst die Katze so, nämlich Gray-Malken, d. i. Grau-
Mariechen. Die Ente heisst auf italienisch Anatra oder
Anitra: deshab lockt also die Hausfrau in Italien ihre Enten
mit Ani! Ani! oder mit Ane! Ane! oder (wie bei Nanna =
Anna ein N vorschlagend) mit Nane! Nane! — Die Ziege
nennt man in Ober- und Mitteldeutschland nicht bloss Geiss,
sondern auch Heppe; Heppe! oder H^! ist zugleich Lockruf
für die Ziegen. Wenn den Juden spottweise Hep! Hep! zuge-
rufen wir, so geschieht es angebUch um ihres Ziegenbartes
willen.*) In Italien rufen die Bauern die Ziege Ciocia!, ein
durch die Ziegenhirten in den südlichen Teilen des alten
Kirchenstaates, die sogenannten Giociari, bekanntes Wort;
vielleicht bedeutet es ursprünglich die junge Ziege, das
Zicklein, welches noch am Euter saugt oder zutscht (doccia),
wenigstens weisen viele verwandte Ausdrücke darauf hin.
Und so kann man auch den erwähnten bayrischen Lockruf
für die Schweine: Suki! Suki! als einen deutlichen Überrest
des althochdeutschen Sü = Sau, lateinisch Sv^, betrachten.
Wenn wir aber mit den Tieren niemals in Interjektionen
reden, so mit den Menschen erst recht nicht. Was reden!
In Interjektionen reden ist ein vollkommener Widerspruch,
weil jede Rede die Absicht der Mitteilung voraussetzt; so
oft eine solche vorliegt, hat man es mit dem bewussten
*) Wohl richtiger eine Abkürzung von Hebräer. Das Akrostichon Hi^xo-
solyma EsX -Perdita beruht auf Spielerei.
— 174 —
Willen, nicht mit der Natur zu schaffen. Anstatt die merk-
würdigen Wortkörperchen, mit denen wir uns untereinander
etwas zu verstehen geben, als Naturlaute abzuthun, ziemte
es sich wohl ihre Beziehung zu den ältesten Sprachwurzeln
zu beleuchten. Die Wörtchen Holla! und Hallo! dienen uns
dazu, die Aufmerksamkeit zu erregen, uns zu melden und
Entfernten zuzurufen. Wir pochen an eine Thüre an und
rufen: Holla, Holla! thu auf mein Kind! Hallo! ist niemcM
hier? — Der thüringer Bauer pflegt sich vor einer Thür
mit Hold! zu melden. Wir stehen am Ufer eines Flusses
und wollen übergesetzt sein; wir rufen: Hallo, hallo! Hol
über! Schon im Mittelalter rief man dem Fährmann am
andern Ufer zu: Hola, Ferg! Hol über! — Holla! und HM.
sind überhaupt Mittel, die Leute herbeizurufen und imsere
Gegenwart kundzuthun; es sind Mittel, ein Hailoh, das heisst
ein Getümmel oder ein Geschrei zu machen, dieses Substan-
tivum ist aus dem Rufe Hallo! genau so hervorgegangen,
wie das Substantivum Lärm aus dem Ruf: AlVarme! Zu den
Waffen! Alarm! — Erst daraus entspringt die warnende
Bedeutung, die beide Rufe gelegentlich haben können: sie
enthalten die Aufforderung aufzupassen und sich vorzu-
sehen. Hallo! sagte jener Eisläufer und rutschte aus. Diese
Rufe haben nun nicht bloss wir, sondern auch die Eng-
länder und Franzosen : das französische Holla! ist Holä!,
das englische Hallo! ist Halloo! — Wenn zur See ein Schiff
angerufen wird, ist bei den Engländern die gewöhnliche
Antwort: Hollo! — Woher nun diese beiden allgemein ge-
bräuchlichen Rufe, die offenbar zusammengehören? — Wei-
gand hält Holla! für französisch und das -la für identisch
mit dem französischen lä, dort, sodass französisch Holä! un-
serem Heda! entsprechen würde; in diesem Falle hätte man
die Silben He! Ho! und Ha!, die in der That als selbstän-
dige Zurufe gäng und gäbe sind, gleichsam als absichtlich
hervorgebrachte Geräusche zu betrachten; sie enthielten
weiter nichts, als eine Art sprachliche Reveille, für welche
der Hauchlaut charakteristisch scheint. Er findet sich auch
— 175 —
an dem obenerwähnten Heus! der Römer; ja man könnte
etwa vermuten, dass das anrufende Ol, welches durch alle
Sprachen geht, ursprünglich mit unserem Ho! identisch und
der schon in der Augusteischen Zeit schwankende, im Ro-
manischen fast allgemein erloschene Buchstabe H nur frühe
verloren gegangen sei, wie er in dem italienischen Olä! =
Holla! verloren gegangen ist. Grimm meint dagegen, der
Auslaut von Holla! und Hala! repräsentiere jene mittelhoch-
deutsche Partikel a, die sich an lautausgerufene. Wörter,
Imperative sowohl als Substantive und Partikeln, hänge
und sie dadurch sinnlich zu Interjektionen stempele; die erste
Silbe Hol aber sei mit dem Zeitwort holen identisch, welches
eigentlich erschallen lassen, rufen , herbeirufen bedeute, etymo-
logisch gleich yiakelv, lateinisch calare. Mir ist es allerdings
wahrscheinlich, dass nicht Holla! von holen, sondern umge-
kehrt holen von Holla! kommt und dass holen bedeutet Holla
machen oder Hallo machen ^ gerade so wie das französische
hder, Hunde hetzen, auf Hallo! zurückgeht; oder wie das
Zeitwort hissen von dem Rufe Hissa! kommt, den man beim
Aufziehen des Segels oder des Gepäcks auf schwedischen,
italienischen, französischen, griechischen, ägyptischen und
deutschen Schiffen hört (mit langem Vokale: heissen).
Wenn uns demnach hier der begriffliche Gehalt des
Rufes vorderhand noch zweifelhaft erscheint, so berührt
sich dagegen der kleine Befehl andere Male an sich selbst
aufs innigste mit wirklichen und weitverzweigten Wurzeln.
Ein bekannter ermunternder Zuruf der Engländer ist Hip! —
Hip! Hip! Hurrah! in England die hergebrachte Art, ein Hurra
auszubringen. Noch neulich (Dezember 1887) begrüsste die
Bemannung des Herzoglich Edinburgschen Aviso Surprise,
auf den Rahen stehend, die Töchter des Kronprinzen in
San Remo mit diesem nationalen Rufe. Nun, die Inter-
jektion hip ist unzweifelhaft mit dem englischen Zeitwort
to hip oder hop, hüpfen, verwandt, denn das Herz hüpft einem
ja vor Freude. Oder, um ein analoges Beispiel anzuführen :
Schweigen gebietet man in der ganzen Welt, indem man
— 176 —
die Zunge hinter oder zwischen den Zähnen in Bewegung
setzt, sodass ein scharfes S herauskommt, mit welchem
schon der Star seine Leute bedeuten soll, dass er Ruhe
haben möchte. Wenn man dann die Zunge gewaltsam an
die Zähne anstösst, so entsteht die Lautverbindung ST,
Wenn auch noch die Lippen für einen Moment geschlossen
werden, so entsteht PST, Bei ungehörigem Lärm im
Theater machen wir also Pst! oder Stf, während der Fran-
zose mit Chutf, der Spanier mit Chiton!, der Italiener mit
Zitto! Silentium ansagt; die deutschen Formen scheinen die
ursprünglichen zu sein, denn die alten Römer riefen wie
w4r: St, st, tacetef, und wahrscheinlich sind die Zurufe der
altgriechischen Hirten an ihr Vieh: IlzTa oder TcTra, die
man jetzt noch hören kann, von Haus aus Scheucherufe.
Wesentlich ist offenbar der Doppelkonsonant ST, und ich
frage, ob er nicht deutlich an die indogermanische Wurzel
STA anklingt, welche stehen bedeutet und eben in unserem
deutschen stehen steckt? — Unsere Vorfahren sagten nicht
stehen, sondern stän, dieses Verbum hat erst unter dem
Einfluss des Zeitworts gehen seine Lautgestalt geändert.
Wie die Wurzel I: gehen und SAB: sitzen bedeutet, so be-
deutet also die Wurzel STA: stehen, und die Wahl dieser
Laute scheint mir keine unglückliche gewesen zu sein, denn
wird nicht in STA die Dauer des S durch die Tenuis T ge-
wissermassen angehalten und in ihrem Laufe gehemmt.-'
Da^ englische Stopf, das man vergleichen kann, verdankt
doch seine allgemeine Verbreitung sicherlich seiner treffen-
den Nachahmung. Kurz, in der Lautverbindung ST, voller
PST, liegt für das Ohr etwas Hemmendes, Stillstandgebie-
tendes, und diesen Begriff des Stillstehens malen wir eben-
sowohl, wenn wir mit einem St! zur Ruhe mahnen, als
wenn wir auf deutsch sagen: meine Uhr steht.
Pst! höre ich rufen. St, st, tacete! Wollt Ihr hier über
den Ursprung der Lautsprache philosophieren? Wir sind
hier bei der Sprache ohne Worte, und die indogermanischen
Wurzeln gehen uns nichts an! Ohe, jam satis est! — Ver-
i
— 177 —
zeihung, meine Herren. Es war nur so hingeworfen. Es
war selbst nur eine Interjektion in unserer geordneten Rede
über die Sprache der Mienen und Geberden; und eine ge-
legentHche Lebensäusserung , veranlasst durch den Reiz
derartiger Untersuchungen. Denn auch die richtigen und
eigentlichen, unbewussten Reaktionen stehen, sofern sie mit
dem Munde geschehen, der gewöhnlichen Sprache näher
als man denkt; so nahe, dass die letztere einzelnen Philo-
sophen geradezu aus Interjektionen hervorzugehen scheint.
Schon im Laufe dieses Kapitels haben wir erwähnt, wie
sich das Wort Lärm aus Alarm und mittelbar aus dem
romanischen Schlachtruf aWarmel zu den Waffen! entwickelt
hat; so sind auch die Naturlaute unzähligemal substantiviert
und zu Begriffen erhoben worden, die noch mehr besagen,
als das abstrakte Wesen der betreifenden Interjektion. Das
Hurra deckt sich am Ende noch mit Hurraruf oder
Hurrageschrei; wenn wir aber sagen ein Hallo machen, so
meinen wir gerade nicht, dass nur hallo! gerufen wird,
sondern wir verstehen darunter Lärm und Getümmel über-
haupt. Welch eine reiche Entfaltung ist dem Substantivum
Weh zuteil geworden, das sich aus einem Schmerzenslaut
in die Bezeichnung des Schmerzes selbst, des Unglücks, ja
g-anz speziell der Geburtsschmerzen verwandelt hat! — Mit
dieser geringen, aber sicheren Ausbeute wollen wir uns
vorläufig begnügen: selbst wenn es sich bestätigen sollte,
dass die menschliche Sprache aus Lauten wie Ah! und 0/
entsprungen wäre und, was doch gewiss seltsam erscheinen
müsste, alle Worte im letzten Grunde auf den Interjektionen
beruhten, die keine Worte sind: so könnte uns das in einem
Buche nichts verschlagen, das seiner Anlage nach die letz-
teren eben nur* insofern sie das nicht sind, brauchen und
berücksichtigen könnte.
K I e i n p a u 1 , Sprache ohne Worte.
12
178 —
II. Lachen und Weinen.
Darvrins Prinzip der Antithese — noch wichtiger ist das Prinzip der natürlichen
Übertragungen oder der psychologischen Metaphern — die ganze Psychologie
steckt voll bildlicher und indirekter Ausdrücke, voll volksmftssiger Gleichnisse
— strenggenommen ist sie die Lehre vom Atem — alle Sprachen leiten die
Vorstellung des Geistes und der Seele aus dem BegrifTe des Atmens her —
.anderemale wird die Seele als eine Art zwdter Leib oder als ein Tierchen vor-
gestellt — das Zeugen und das Erkennen — äusserliche Vorarbeiten werden fiir
die nachkommende Seelenthätigkeit genommen — die Menge geht über die
äusserlichsten und unwesentlichsten Erscheinungen des Seelenlebens nicht hinaus
— hiemach begreifen wir, wie die Natur selbst geistige Zustände als solche
nicht begreift — alle Geheinmisse seines Haushalts schwatzt der Orgamsmns
nach Einer ]>ier aus — erste Stufe: die Reaktion erfolgt auf einen sinnlichen
Reiz — zweite Stufe: die Reaktion erfolgt auf die blosse Vorstellung des Reizes,
zum Beispiel bei der Furcht — dritte Stufe: die Reaktion erfolgt auf allge-
meine Störungen hin, welche unter dem Bilde eines lokalen Reizes angeschaut
werden — die physischen Reize liefern das Tertium Cofnparatioms — das
Weinen und das Lachen: handgreifliche psychologische Metaphern — selbige
Metaphern sind neue, aber unbewusste Kundgebungen der Natur und Elemente
der Sprache ohne Worte.
Unter den Prinzipien, auf welche Darwin die Mimik
der Tiere und des Menschen zurückzufiihren sucht, figuriert
an zweiter Stelle das Prinzip der Antithese, demzufolge
bei entgegengesetzten geistigen Zuständen auch die ent-
gegengesetzten Muskeln in Aktion gesetzt werden. Der
Hund schmiegt sich, wenn er schmeicheln tvül, weil er sich streckt
und steift, wenn er sich zum Kampfe vorbereitet; die Katze steift
sich dagegen zum Liehkosen, weil sie sich duckt und schmeidigt,
wenn sie arigreife^i will. Wir wagen einem so grossen Natur-
forscher nicht zu widersprechen; nur scheint uns noch vor
besagter Antithese ein anderes Prinzip zu kommen, das von
der grössten Wichtigkeit für das Verständnis der Mienen-
sprache ist: das Prinzip der natürlichen Übertragungen
oder der psychologischen Metaphern. Ehe der tierische
Organismus in seinem dunkeln Drange auf den Gegensatz
verfällt, überträgt er, was ihm zustösst und was er gleich-
sam nicht verstehen und nicht bewältigen kann, instinktiv
— 179 —
auf einen lokalen Reiz, auf den er in normaler Weise rea-
giert, ohne dass derselbe thatsächlich eingetreten wäre, um
das verlorene Gleichgewicht herzustellen — gewiss eine
ganz merkwürdige Manier, dem Störenfried beizukommen.
Aber sie stimmt mit der elementaren Psychologie und der
gesamten kindlichen, bildlichen Weltanschauung des Volkes
überein, durch die eine und dieselbe urwüchsige Natur-
poesie hindurchweht.
Im Menschenhime malt sich die Welt anders, als sie
ist und als sie der Philosoph zu konstruieren sucht. Bunter,
farbenreicher, einfacher malt sie sich. Wo der Naturfor-
scher nur Schwingrungen einer den Raum erfüllenden,
dünnen und elastischen Flüssigkeit sieht, sehen wir Licht
und Farben; wo nach der Lehre vom Schalle eine Saite
gestrichen wird, die gestrichene Saite in mehr oder weniger
schneller Bewegung hin und her schwingt, ihre Bewegung
der umgebenden Luft und durch diese unserem Ohre mit-
teilt, hören wir einen wundervollen Ton. Einen See voll
Bakterien halten wir fiir ein Glas Wasser, und Hlze, die auf
Speisen und Getränken vegetieren, nennt die Hausfrau
Schimmel, Ein Haufen ausserordentlich kleiner Teile, die
nur darum so fest aneinanderhaften, weil sie auf einander
eine Anziehungskraft ausüben, erschieint uns als ein Stück
Eisen — eine Anhäufung kleiner loser Quarzkömer und
G-limmerblättchen ist uns Sand — die chemische Verbin-
dung des Kohlenstoffes mit dem Sauerstoff der Luft er-
scheint uns als eine Flamme — ein Beweg^ngszustand der
Moleküle ist uns Wärme, Dunkle Kxäfte, Modifikationen
einer einzigen Grundkraft, von der nicht ein Minimum im
Weltall verloren geht, verwandeln wir in Steife, und Bilder,
die nichts als Gesichtsempfindungen sind und die wir erst
nach aussen projizieren, legen wir in Raum und Zeit, in
Natur und Geschichte glänzend auseinander und machen
daraus, was Welt heisst. Auf geistigem Gebiete entfernen
sich die populären Vorstellungen von der Natur eines
Gegenstandes, der gar nicht in die Sinne fällt, noch mehr.
12*
— 180 —
Die Psychologie, wie sie das Volk versteht, sieht eher
nach allem andern aus, als nach einer Seelenlehre, ja, ohne
es zu wissen und zu wollen, nimmt die Wissenschaft selbst
die hahnebüchenen Metaphern und die unzutreffenden Um-
schreibungen der Menge in ihre Terminologie auf, sie kann
sich derselben gar nicht entbrechen. Eine wissenschaftliche
Psychologie ist noch zu schreiben, denn der Begriff Psycho-
logie selbst ist eine Konzession an volksmässige Anschau-
ungen. Auch der Laie fühlt wohl, dass das griechische
Wort Psyche darin steckt, was heisst das aber eigentlich?
— Hauch oder Atem. Die Psychologie ist, streng ge-
nommen, die Lehre vom Atem, Alle Sprachen leiten aus
den sinnlichen Begriffen des Wehens, Rauchens, Blasens
und Atmens die Vorstellung des Geistes und der Seele
her, indem sie sich stufenweise vom Atem zum Lebens-
odem, vom Lebensodem zum Leben, vom Leben zur Seele
als der Trägerin des Lebens erheben. Und er blies ihm
ein den lebendigen Odem in seine Nase. Sämtliche hebräische
Worte für Seele: Bucha, Nefesch und Neschamah, bedeuten ur-
sprünglich Atem und Wind, genau so wie unser Q^ist und
das lateinische Spiritus; denn hinter Geist steht ein Stamm
für hauchen, wehen, blasen, wie spirare hinter Spiritus und
wie Ttveiv hinter Ilvevfjia, Das lateinische Animus, Geist, und
das griechische ^'Avefiog, Wind, sind eins: im Griechischen
hat sich die physikalische Bedeutung erhalten, während im
Lateinischen die psychologische überwog, gerade umge-
kehrt wie bei ßvfxoc^, Mut, und Fumus, Rauch; auch diese
beiden Worte sind identisch, das lateinische F entspricht
dem griechischen Ö, wie Theodor bei den Russen zu Feodor
und wie das th im Munde der Engländer zu f wird. Es
ist demnach ganz und gar folgerichtig, wenn unsere Vor-
fahren, den Spiritus sanctus übersetzend, gelegentlich heiliger
Atem sagten: eine Zeitlang schwankte die althochdeutsche
Kirche zwischen ätum und geist für den heiligen Geist, erst
allmählich gewann Geist die Oberhand, so dass ätetn im
Mittelhochdeutschen die abstrakte Bedeutung nicht mehr
J
— 181 —
hat. Bei Geist erlosch umgekehrt die sinnliche Bedeutung.
Und so ist also auch xpvxij eigentlich soviel wie Hauch und
Atem, verwandt mit dem Verbum tpvxco, hauche, kühle,
und mit unzähligen Worten, die kühl und kalt bedeuten,
denn man kühlt ja die heisse Suppe, indem man auf sie
bläst, und dem Kinde, das sich die Finger verbrannt hat,
sagt man, es solle darauf blasen. Psychologie ist eine erste
Konzession an den Verstand der Laien, die der Philosoph
machen muss, heisse er Herbart oder Leibniz.
Und es gibt viele solcher Konzessionen! Ist etwa unser
Seelenlehre entsprechender? Das Wort Seele wird von Grimm
mit See zusammengebracht und als die bewegende, wogende,
flutende Kraft gedeutet. Die Seele soll die bewegliche sein,
wie die See die bewegte Wassermasse ist. Diese Deutung
will, wie so manche andere, nicht recht befriedigen; am
ersten würde sie noch auf das Blut passen, von dessen
Begriffe sich zu dem des Lebens und der Seele gelangen
lässt, wie von dem des Atems. Und wie hinwiederum
Blut, ein junges Blut, a hlood in unserer und der englischen
Sprache nicht selten den ganzen Menschen und das lebende
Wesen selbst bezeichnet, so sagen wir auch gern Seele für
die Person, ohne dass dabei eine bestimmte Beziehung auf
die Lebenskraft hervorzutreten braucht; wir sagen: Du gute
Seele! Geh, liehe Seele! Eine Gemeinde mit zehntausend Seelen
u. s. w. Dies führt weiter dazu, die Seele als eine Art
zweiten Leib zu fassen, der im ersten Leibe steckt, wie
dieser in den Kleidern: sie ist ein Geistletb oder ein Astral-
leib, wie die Spiritisten sagen, oder, wie die Griechen sagen,
ein Menschenbild (Eidwlov), Vergleicht doch Luther sinnig,
nur ein wenig gar zu anschaulich den menschlichen Geist
mit dem Portemonnaie in der Hosentasche: was in Hosen
und Wams steckt, sagt er. Fleisch und Blut, ist von der Welt,
der Geist aber ist das kleine Beutelein, da Patengeld, ungarisches
Gold inne liegt. Solche Anschauungen haben in der Kunst
einen monumentalen Ausdruck gefunden. Das Mittelalter
über bediente man sich, um eine Seele darzustellen, fast
— 182 —
regelmässig einer kleinen nackten menschlichen Figur,
sagen wir eines Kindes, das bald, ins Leichentuch gewickelt,
von Engelshänden zum Himmel emporgetragen wird, bald
auf seinen eigenen Füssen in die mandelförmige Glorie ein-
geht, welche die ewige Herrlichkeit bedeutet Verliess die
Seele gerade den Körper, so malte man wohl eine kleine
Menschenfigur, die unten wie eine Eidechse in einen
Schwanz auslief und damit aus dem Munde des Sterbenden
hervorkroch, um hier, je nachdem, von einem Engel oder
von einem Teufel in Empfang genommen zu werden — die
beiden Schacher von der Kreuzigung Christi gaben hierzu
eine schöne Gelegenheit, vergleiche Bevue archeologique
1844/45. deuxi^me partie, p. 513, 514). Aber die rohe Bildlichkeit
früherer Zeiten gefiel sich nicht bloss, kleine Menschen,
sondern auch kleine Tiere in den Menschen hineinzuthun:
Schmetterlinge, Insekten, Vögel, Eidechsen, Wiesel, Mäuse
— aus dem Munde der sterbenden Sancta Reparata sieht
man auf Abbildungen eine weisse Taube zum Himmel
emporfliegen, und man erinnert sich an den Traum des
Frankenkönigs Guntram, der auf der Jagd sein Haupt auf
das Knie seines Stallmeisters legte und einschlief, worauf
aus seinem Munde eine Maus hervorsprang (vergleiche
Seite 64 ff.). Auch diese phantastischen Vorstellungen
haben in der Sprache Boden gewonnen; oder reden wir
nicht tagtäglich von Orillen, von Schnaken und von Mucken?
Beruht nicht das fi"anzösische Gaprice und das italienische
Capriccio auf einem Vergleich der menschlichen Launen mit
den unerwarteten Sprüngen einer Ziege? — Der Mutwille, die
Unruhe, der beständige Trieb, den Ort zu wechseln, ist ein
Hauptmerkmal der Ziege, italienisch öapra. Darum haben
die Italiener unsere wunderlichen Einfälle und alles, was
wir Unvernünftiges und Unüberlegtes thun, gleichsam Ziegerei
genannt: ungefähr dasselbe bedeutet dzis italienische TicchiOy
welches aus unserem Zicke entstanden ist, während man in
Frankreich auch sagt: cette femme a des rata dans la tete.
Wer dagegen recht hochmütig ist, von dem heisst es, er
— 183 —
habe einen Wurm oder einen Spatz. Ja, wie stellen wir uns
am Ende die Seele Gottes vor? Nicht abermals als einen
Vogel, und zwau: wie bei der heiligen Reparata als eine
Taube, das Sinnbild der Reinheit? Mit ausgebreiteten Flü-
geln schwebte der Greist Gottes auf dem Weisser, gleich
als eine Taube fuhr der heilige Geist vom Himmel herab
und kam über den getauften Jesus, eine Taube sitzt Papst
Gregor dem Grossen auf der Schulter und flüstert ihm gött-
liche Geheimnisse ins Ohr. Und an alle diese kindlichen
Versuche, ^das Unsichtbare zu verkörpern, muss die wissen-
schaftliche Psychologie Konzessionen machen.
Sie kommt aus den Konzessionen gar nicht heraus!
Denn da die wahre Thätigkeit der Seele nur geahnt, aber
nicht angeschaut werden kann, hat das Volk auch gar
keine Ausdrücke dafür erfunden, sondern es behilft sich
mit halben Bezeichnungen und unangemessenen Bildern.
Um über psychologische Vorgänge halbwegs korrekt zu
schreiben, wäre eine ganz neue Terminologie vonnöten,
denn die, welche die Sprache bietet, sieht einer Fabel ähn-
lich. Wir reden wie die Blinden von der Farbe; unsere
Ausdrücke sind entweder bildlich oder zum mindesten in-
direkt. Zwischen den Begfriffen des Erkennens imd des
Zeugens, zwischen den Wurzeln QNO und GEN findet in
den indogermanischen Sprachen ein unverkennbares Ver-
wandtschaftsverhältnis statt, obgleich sie bereits in der Ur-
zeit unterschieden worden sind. Als vermittelnden Begriff
betrachtet man bald den des Keimens, bald den des Kom-
mens; vielleicht aber bedarf es dieser Vermittelung gar
nicht Unser können ist eigentlich so viel wie wissen, diese
Begriffe tauschen sich ja auch in anderen Sprachen aus:
ich kann tanzen entspricht auf das genaueste dem französi-
schen je sais danser oder dem italienischen so hcUlare. Erst
später entwickelte sich aus dem Wissen die Bedeutung des
yermögens. Indessen ist ich kann eigentlich kein Präsens,
sondern ein Perfektum, nämlich ein sogenanntes starkes
Präteritum, anolog den Formen ich sann, ich begann, ich ent-
— 184 —
rann: das Perfektum ich kann setzt ein Präsens kinnen vor-
aus, welches kinnen etwa dem lateinischen noscere zu ver-
gleichen wäre, so dass ich kann dem lateinischen novi gleich-
steht. Das Zeitwort kinnen nun hatte wiederum ursprünglich
die Bedeutung erzetigen, ich kann hiess: ich habe erzeugt. Ich
kann ihn, durfte etwa ein Vater von einem natürlichen
Sohne sagen, wenn es galt, ihn £ds erbberechtigt hinzu-
stellen; ich kann ihn war soviel wie ich hin sein Vater, und
dies soviel wie ich kenne ihn, ich erkenne ihn an. Ich kann ihn
durfte auch die Mutter im gleichen Falle sagen ^ dann war
es soviel wie ich habe ihn gebaren. Aus der Anerkennung
eines Kindes wäre demnach der Begriff aller Kenntnis
überhaupt hervorgegangen, und es unterliegt ja keinem
Zweifel, dass die Kenntnis, welche Vater und Mutter von
ihrem Kinde haben, die allerstärkste imd die allerbeste ist,
sintemal dem Volksglauben nach dem Vater und dem
Sohne, wenn sie sich unbekannterweise küssen, sogar die
Nase blutet und das Mutterauge den Wandersmann am
ersten wiederzuerkennen pflegt. Bei dem lateinischen con-
siderare, welches eigentlich die Sterne (Sidera) betrachten
heisst, ist ein beschränkter Begriff in ähnlicher Weise ver-
allgemeinert worden. Lassen wir diese Genesis des Be-
griffes gelten, so steht also ich kann so ziemlich auf der-
selben Stufe wie ich weiss, welches abermals ein iu"altes
Perfektum ist und eigentlich ich habe gesehen bedeutet, ent-
sprechend dem veda des Sanskrit, dem griechischen oUa
und dem lateinischen vidi, nur dass das Erzeugthaben eine
noch entferntere Ursache des Wissens ist als das Gesehen-
haben. Aber hier wie dort wird nicht das Wissen selbst,
sondern ein Erlebnis angedeutet, welches zum Wissen ge-
führt und den Zustand der Wissenschaft möglich gemacht
hat; ich kann und ich weiss sind blosse Voraussetzungen des
Wissens. Und das nenne ich einen indirekten Ausdruck.
Aber diese Mode, äusserliche Vorarbeiten fiir die nach-
kommende Seelenthätigkeit zu setzen, beherrscht die ganze
Psychologie. Wir sagen, dass wir uns etwas vorstellen, eine
— 185 —
Meinung verstehen, eine Sache hegreifen, eine Geschichte
überlegen. Dergleichen Ausdrücke sind nicht gerade bildlich,
aber sie machen Thätigkeiten namhaft, die bloss Mittel
zum Zwecke sind, und verlieren die Funktionen der Seele
über Präliminarien, die auf ein exaktes Wissen abzielen,
ohne das Wissen selbst zu sein. Das Leben und Treiben
unserer Seele ist den Menschen ein Geheimnis, sie haben
Worte für alles, wodurch das Denken vorbereitet wird,
aber sowie sie an die Grenze des unentdeckten Landes
kommen, geht ihnen der Atem aus. Sie haben den guten
Willen, vom Geist zu reden, aber sie tappen wie im Finstern;
sie möchten fliegen und können nicht. Wenn ich mir einen
Stuhl vorstelle, wenn ich ihn vor mich hinstelle, so dass
ich ihn recht genau sehen und mir seine Konstruktion ein-
prägen kann, so ist das ganz zweckmässig und ganz im
Geiste der empirischen Naturforschung. Aber ich hole den
Stuhl doch nur deshalb, um ein Bild von ihm in meine
Seele zu bekommen und um mir den Stuhl innerlich vor-
. stellen zu können. Wie? Was ist das? Muss ich hier
wieder vorstellen sagen? — Freilich; für die stille Funktion
der Seele oder des Gehirns, kraft deren ieine Anschauung
reproduziert wird, fehlt uns eben jegliches Verständnis, wir
kommen wie Blödsinnige immer wieder auf das materielle
Vorstellen zurück. Oder was heisst das: ein Ding verstehen?
Doch wohl dasselbe, was das griechische kTtlarafxai besagt
— dass wir durch das Hintreten vor ein Ding und durch
langes Stehen vor demselben, dass wir dadurch dem Dinge
auf den Grund kommen — wie wir ja auch sagen: hinter
etwas kommen. Jeder Forscher steht in diesem Sinne lange
und prüfend vor seinem Gegenstand, bis er ihn endlich
versteht — aber es ist doch kläglich, dass wir in der Sprache
den Anfang für das Ende und das elementarste Vorstudium
für die Blüte der Erkenntnis halten. Wir überlegen uns eine
Geschichte, das heisst, wir wenden sie um und um, drehen
sie hin und her, wie ein Stück Kattim, das wir kaufen
wollen und von dem wir eine Seite über die andere legen.
— 186 —
Es ist wirklich das, was etwa bei der Prüfung eines Planes
zu geschehen pflegt, aber das Geistige daran, das Hin-
und Herschwanken der Seele, entgeht uns, es klingt,
als ob wir leblose Automaten wären. Und so begreifen wir
die Wahrheit wie Isaak seinen Sohn, wir erfassen sie wie
einen Zipfel, wir erwägen sie wie ein Pfund; penser und peser
ist im Französischen identisch , das eine wie das andere
kommt von dem lateinischen pensare, welches selbst schon
die doppelte Bedeutung des Wagens und des Abwägens
oder Erwägens hat.
Neben solchen halb bildlichen Wendungen gehen die
allgemeinsten, ungenauesten und vagsten Ausdrücke neben-
her. Ausdrücke wie erinnern — empfinden, das ist entfinden
— vergessen, das ist verlieren, das Gegenteil zu dem eng-
lischen to get, erhalten — wahrscheinlich bedeutet auch das
lateinische oUivisci einfach verloren haben, nicht ein Ding auf
der Tafel des Gedächtnisses ausstreichen oder überstreichen,
wie etwas Geschriebenes (oblinere). Es steht schlimm um
die Psychologie: der Philosoph hat hier alles, alles neu zu
machen, er verkündigt wie der Apostel Paulus einen unbe-
kannten Gott, er erzählt von einer Seele, von der das Volk
so gut wie gar nichts weiss. Man darf das noch keinen
Materialismus nennen, denn der Materialismus hat doch
wenigstens ein Gehirn, während sich die Psychologie des
Volkes um das Gehirn nicht viel mehr als um eine imkör-
perliche Seele kümmert. Sie geht über die äusserlichsten
und unwesentlichsten Erscheinungen des Seelenlebens nicht
hinaus und sie spricht noch eher von einem Herzen und von
einem Eingeweide, als von einem Grehirn.
Und nun wird der geneigte Leser genügend vorbe-
reitet sein, um das zu vernehmen, worauf wir eigentlich
hinauswollen. Die Natur selbst scheint sich in Metaphern
zu gefallen und über grobsinnliche Ausdrücke nicht hinweg-
zukommen. Ich sage, scheint: denn was wir Natur nennen,
ist doch nur Wirkung einer dunkeln Phantasie, die unser
Wesen leitet Aber was es auch sei, die Thatsache steht
— 187 —
fest, dass nicht bloss die volkstümliche Psychologie die
Erscheinungen des Seelenlebens ganz verballhornt, sondern
dass auch unser eigner Körper, wenn er auf diese Er-
scheinungen reagiert, ausnehmend ungeschickt ist und unter
seinem Gegenstande bleibt. Ich meine die Reflexerschei-
nungen, die durch gewisse Empfindungen und Gefühle her-
vorgerufen werden, wie Lachen und Weinen.
Alle unsere Thränen, Seufzer, Schreie und Jauchzer
sind Reaktionen, die auf Reize zu erfolgen pflegen. Auf
Reize, die von aussen an uns herantreten und wie kleine
Feinde den Organismus aus seiner Ruhe aufstören. Um
ein einfachstes Beispiel anzuführen: wenn uns etwas ins
Auge gekommen ist, so fängt es an zu thränen. In diesem
Falle ist die Reaktion eine natürliche und zweckentspre-
chende; denn unsere Thränen haben die Bestimmung, den
Augapfel zu reinigen und die Mücke oder was uns sonst
belästigt wieder hinwegzuspülen, wie man bei Häfen die
Schleusen öffnet, um Versandungen wegzuspülen. Bekannt-
lich weint der Mensch in geringem Masse beständig, indem
fortwährend Thränen abgesondert werden, um die Ober-
hautschüppchen von der Bindehaut und Hornhaut wegzu-
spülen und die letztere durchsichtig zu erhalten.
Aber die Erfahrung lehrt, dass eine reale Ursache nicht
immer vorzuliegen braucht, um die Reaktion auszulösen:
oft genügt die blosse Vorstellung der Störung. Man erzählt
von einem Schüler Boerhaves, der alle Krankheiten der
Klinik selbst bekam und die Medizin an den Nagel hängen
musste, weil er einen solchen praktischen Kursus nicht
aushalten konnte. Wir alle haben etwas von diesem Stu-
denten, denn unsere Einbildungskraft wirkt Wunder, wir
schlagen uns mit Himgespinnsten und Phantasiebildem
herum. Die Furcht erbleicht lange vor der Schlacht*) und
*) Sie thut auch noch etwas anderes, wie alle Soldaten wissen. Bei
grossem Schrecken erschlaffen die Schliessmuskeln des Afters, es erfolgen
unwillkürliche Entleerungen von Harn und schlechtbereiteten Fäkalstoffen , die
besonders übel riechen. Plutarch erzählt das von Aratus (Kapitel 29), Descuret
— 188 —
die Keuschheit errötet bei einem Wort. Nehmen wir an,
Heine habe im Traum geweint, weil ihm träumte, dass ihm
etwas ins Auge gekommen sei. Die Phantasie ist wahrlich
eine verhängiüsvoUe Gabe, die unsere Schmerzen verdoppelt
und verdreifacht, steigert und verlängert.
Was werden wir nun sagen, wenn dieselbe Maschine
nicht bloss auf die Vorstellung der natürlichen Störung,
sondern auch auf ganz und gar andere, allgemeine Ein-
griffe, auf schwere Verluste und Unglücksfälle in der alten
Weise reagiert, als ob sie nur lokale Schmerzen hätte?
Wenn unser Auge, sonst nur gewohnt, bei Anwesenheit
eines Stäubchens oder einer Mücke zu schmelzen, bei einer
Hiobspost überfliesst,
wie Arabiens Bäume thaun
von heilungskräffgem Balsam? —
Was werden wir sagen? — Dass es eine neue Gelegenheit
ist, sich zu verraten, sich kundzugeben, dem Beobachter
die innersten und unsichtbarsten Vorgänge zu erschliessen.
Unsere Thränen sind ein handgreiflicher Beweis för
die absolute Unfähigkeit des Menschen, in Sachen der
Psychologie über die nächstliegenden sinnlichen Eindrücke
hinauszukommen. Wir können sie Metaphern nennen, die
sich von Generation zu Generation forterben und gleich
wirklichen Metaphern nachgesprochen werden; aber sie
verraten doch weniger den Erfindungsgeist als die Furcht
des Organismus, sich in etwas Höheres hineinzudenken.
Die Thräne, nach dem Worte des Dichters
dem Menschenangesichte
So lang er lebt, ein köstliches Geschmeide,
In dessen feuchtem Wunderglanz sich gerne
Der Himmel spiegelt und der Glanz der Sterne,
vom Marschall Luxembourg (Medeäne des patsions^ Band 11. Seite 64), der
Simplicissimus (Ende des I. Buches) und Casanova (Memoiresy Tome III., Chapitre 3) von
sich selbst. Auch das Hermelin ergiesst in der Angst eine stinkende Feuchtig-
keit aus den Schwanzdrüsen. Daher der derbe Ausdruck für einen Feigling:
Hosenscheisser, Läuft das nicht auf eine Verteidigungsmassregel der Natur hinaus?
— 189 —
ist doch nur ein Tropus des in uns wirkenden Lebens-
geistes, der ein grosses, persönliches Leiden lokalisiert, weil
er es nicht anders fassen und fühlen kann. Man wende
nicht ein, dass das Weinen in Leid und Freude eine rein
mechanische Sache sei, weil der Thränenapparat durch
Nerven in so naher Beziehung mit dem Gehirne stehe,
dass durch Gemütseindrücke leicht eine vemvehrte Ab-
sonderung und ein Überlaufen der Thränen über die Augen-
ränder zustandekomme; warum würde denn da bei ande-
ren heftigen Gemütseindrücken nicht geweint? Nein, nein,
dahinter steckt eine naive Poesie. Von dem Geiste, der in
uns wohnt, der wohl im Traume Domen und Skorpione
daraus macht, wird der Schmerz gleichsam in ein Stäub-
chen übersetzt, das ins Auge gekommen ist: der Organis-
mus versucht es beinahe kindisch hinwegzuspülen. Ich
weiss nicht, ob es wahr ist, dass auch gewisse Tiere,
Hirsche, Seehunde und Delphine im Todeskampfe weinen
und ohne Laut, aber mit einer Thräne im Auge zusammen-
sinken: beim Homer weinen bekanntlich die unsterblichen,
von Weltschmerz ergriffenen Rosse des Achill. Das würde
nur beweisen, dass diese edlen, menschenfreundlichen Ge-
schöpfe auch unsere Sprache reden. Und wie merkwürdig!
Sobald der Schmerz zu gross, zu furchtbar und unerwartet
ist, versagt unsere Bildlichkeit und der Geist steht gleich-
sam eine Weile still: das Lachen ist uns nahe: wir ver-
mögen es nicht nach unserer Art zu fassen, wir könnens nicht
überwinden. Wenn wirs können, fliessen auch die Thränen.
Dieses Prinzip der psychologischen Metaphern, deren
Wahl von lokalen Nerveneinflüssen abhängen mag, ist für
dcLs Verständnis des organischen Haushalts von der höchsten
Wichtigkeit: auf ihm beruhen alle Naturlaute und Lebens-
äusserungen, die durch mehr als bloss physische Reize
hervorgerufen werden. Die physischen Reize liefern das
Tertium comparationis. Wie wir den Schmerz beim Weinen
in eine materielle Störung des Auges übersetzen, so sehen
wir ihn ein andermal unter dem Bilde einer drückenden
— 190 —
Last, ein drittes Mal unter dem Bilde eines Feindes, den
wir erweichen, ein viertes Mal unter dem Bilde eines dro-
henden Ungeheuers an, das wir verscheuchen wollen. Der
Mensch seufzt von Natur, wenn ihm ein wirklicher zentner-
schwerer Stein die Brust beklemmt und die Lunge am
Atmen hindert; er seufzt aber noch viel öfter aus Kummer
oder aus Liebesschmerz, der ihm toie ein Stein auf dem
Herzen liegt Der Mensch klagt und jammert von Natm-,
um einen grausamen Gregner zum Mitleid zu bewegen und
ihn durch die rührenden Laute umzustimmen; er klagt aber
auch am Sarge eines Toten, wo kein Gregner zu sehen ist,
indem er sich an das unerbittliche Schickssd wendet Der
homerische Krieger schreit, wenn er auf der Walstatt
vom Speer getroflFen wird — er will gleichsam den Feind
durch seinen lauten Schrei erschrecken und verjagen; aber
wir alle schreien auf, wenn uns eine furchtbare Nachricht
überrascht, als verfolgte uns Diomedes. Es ist dieselbe
Manier, mit der wir in der Freude und Verwunderung die
Hände zussunmenschlagen , weil wir ims des unverhofft
kommenden Wunders erwehren wollen. Weshalb steckt
ein Bauemkind, wenn es einen Fremden erblickt, seinen
Finger in den Mimd und verbirgt sich hinter der Schürze
seiner Mutter? Weshalb kratzt sich der Verlegene am
Kopfe oder mit dem Rücken der rechten Hand die Bart-
stoppeln gegen den Strich? Weshsdb räuspert er sich, wes-
halb kaut er an der Feder, weshalb dreht er sein Taschen-
tuch um und um? — Luther wischte, wenn er in Erörte-
rungen kam, wie der Japaner beim Grrusse, mit der Hand
über seine Knie, dieser Gestus war ihm eigen — Turgenjews
MeirkelofiF stiess bei derselben Gelegenheit den Zeigefing-er
vor sich hin. Überall die Tendenz, den unsinnlichen Reiz
zu versinnlichen, gleichsam verständlich zu machen und
nun dagegen zu reagieren: wie Schulmeister halten wir
uns an das Konkrete, um dem Abstrakten beizukommen.
Wie ein Vogel, dem die Flügel gebunden sind, fallt
die Seele immer wieder auf die Erde und in die- Sinnlich-
— 191 —
keit zurück. Wir möchten Gott und die Welt anklagen,
und wir weinen; wir möchten einen guten Einfall haben,
und wir kratzen uns am Kopfe; wir lesen die Knallerbsen,
und wir soUen und müssen lachen. Wir lachen nach einer
Bemerkung des Aristoteles nicht vor dem vierzigsten Tage
unseres Lebens; aber wenn wir es dann können, so thun
wir es nicht, ohne sozusagen einen Kitzel des Gedankens zu
empfinden — ein ebenso gewöhnliches wie lehrreiches Bei-
spiel psychologischer Übertragungen. Über unsere Achsel-
höhlen oder über die Fusssohlen läuft ein sonderbarer Reiz,
eine leicht hinstreichende Berührung, die, wechselweise her-
vorgebracht und unterbrochen, zwischen Sein und Nichtsein
gewissermassen schwankend, die Empfindungsnerven neckt
und das Zwerchfell erschüttert. Einen analogen Reiz ruft
im Verstand das Lächerliche hervor, indem es ihn fast
gleichzeitig auflichtet und niederdrückt und aus dem Ge-
fühl seiner Überlegenheit unversehens in das Gefühl seines
Nichts überspringen lässt. Sei es, dass die Natur durch
Zufall das Widersprechende verknüpft; sei es, dass der Witz
wie ein gewissenloser Priester jedes ihm vorkommende
Pärchen traut: immer sind wir für einen Augenblick die
Düpen des Spassmachers — aber unmittelbar darauf durch-
blitzt uns etwas wie unsere eigene Ungereimtheit — wir
yersuchens noch einmal und gehen abermals in die Falle,
dann besinnen wir uns wieder — so werfen wir unsem
Irrtum gleich einem Balle in die Höhe und fangen ihn
wieder auf, um ihn abermals auszuwerfen; bis wir dann,
gleichsam im Gehirn gekitzelt, zu lachen anfangen, halb
über die eigene, halb über die fi-emde Dummheit — zu
lachen wie Lear oder wie Hannibal in ihrem gerechten
Schmerze. Nur muss uns hierbei die Wahrheit aufgehen
wie ein Licht; darum lachen wir nicht, wenn wir in dem
alten Kasten der Schule langsame und regelrechte Fort-
schritte auf der Strasse der Erkenntnis machen, aber wohl,
wenn wir uns des Abends mit den Gästen im Schaukel-
stuhle wiegen, die Geister, die Wortspiele, die guten Witze,
N
1
— 192 —
die Puns und die Quibbles wie Raketen aufeinanderplatzen
und die Nasenflügel sich heftig bewegen, weil alles Schel-
merei treibt
Vielleicht dass man da auch einmal die psychologischen
Metaphern des Menschen zum Lachen fände. Er gleicht
dem Papierdrachen, der nur soweit steigt, als der Bindfaden
in der Hand des spielenden Knaben reicht; er ist wie ein
Fisch, der sich höchstens auf einen Augenblick über den
Spiegel des Wassers emporzuschnellen und den wahren
Himmel und die wahre Erde im Fluge zu sehen vermag,
aber gleich wieder untertaucht;
Er scheint mir, mit Verlaub von Ew. Gnaden,
Wie eine der langbeinigen Cicaden,
Die immer fliegt und fliegend springt
Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt! —
Es ist das alte Liedchen von den Sinnen, von sinnlichen
Reizen, von sinnlichen Erfahrungen, von sinnlichen Thätig-
keiten, das kein Wort für die Seele hat.
Wer darf sagen, er glaube an keine Seele? Sie ver-
birgt sich wie ein Künstler hinter ihrem Werk! Aber
spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr.
— 193 —
III. Der Kuss.
Wie Lude sich die Weltsprache denkt — er kann sich auf ShiJcespeare berufen
— nachdem wir gesehen haben, dass die natürlichen Mienen und Geberden auf
bestimmte Reize hin erfolgen, müssen wir nach dem Grunde fragen, der uns
treibt, diese Reize hervorzubringen — dieser Grund ist das Gefühl, das uns eine
Person einflösst — jedes Gefühl hat wieder seine spezifischen Geberden, zum
Beispiel die Liebe den Kuss — das Präludium des Beischlafs — die geschlecht-
liche Liebe ist egoistisch und hat wenig von der wahren Liebe, die selbstlos
und nur auf das Wohl des andern bedacht ist — der Kuss ein Vorschmack
und eine Probe des Beischlafs, und wie dieser ein egoistisches Vergnügen —
der Küssende küsst sich gleichsam selber, wie Philine, die Kusshändchen austeilt
— Übertragung des Liebeskusses auf Freunde und Verwandte — der Kuss von
dem Mimd auf untergeordnete Teile übertragen — seit den ältesten Zeiten grüsste
man die Gestirne durch einen Kuss auf die eigene Hand — die Kusshand bei
der Adoratio der Römer — den Göttern und Kaisern werden die Knie, die
Füsse, die Kleider, die Schuhe geküsst — die drei Stufen des Kusses: der
Liebeskuss der geschlechtlichen Liebe, der der Ekel; der Kuss der wahren
Liebe, der der Hass; der Kuss der Hochachtung, der der Stolz und die Ver-
achtung entgegengesetzt ist — alle drei Stufen in Christus vereinigt — eine
vierte Stufe: das Küssen der Verstorbenen.
In einem Witzblatte war neulich zu sehen, tvie Lude
sich die Weltsprache denkt, mit der man sich Überall mündlich
verständigen kann: er küsst die Kellnerin. Lude kann sich
wegen dieser Auffassung auf Shakespeare berufen, der
ganz denselben Gedanken Edmund Mortimer in den Mund
legt: er kann kein Welsch und versteht Glendowers Tochter
nicht, während Lady Mortimer umgekehrt kein Englisch
kann und Mortimer nicht versteht; da tröstet er sich damit,
dass er ja ihren Kuss und sie den seinigen verstehe, und dies
doch eine gefühlte Unterredung sei (König Heinrich der Vierte. Erster
Teil, ni, i). Auch ist ja der Gedanke recht natürlich, der
Kuss ein Weltwort, das überall gebraucht wird, einer un-
umwundenen Liebeserklärung gleich; für lieben und küssen
hat die griechische Sprache nur Ein Wort (cpilelv). Denn
ich mu^s dir sagen, Sancho, falls du €S noch nicht weisst, dass
die Handlungen und Geberden der Liebenden untrügliche Boten
sind, welche Nachricht geben von allem, ' was im Innersten ihrer
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 13
— 194 —
Seele vorgeht (Don Quixote II, lo). Solche Liebeszeichen machen
nennt der Spanier Kokosnüsse machen ßacei' cocos), vielleicht
wie wir sagen Lebkuchen austeilen oder Süssholz raspeln; und
so wird auch Nannerl die süsse Kokosnuss, die sie von Lude
auf den rosigen Mund bekam, nicht missverstanden haben.
Ja, wenns nur ein Kuss auf die Stime oder aufs Haar ge-
wesen wäre! Aber Nannerl weiss, dass so nur Freundschaft
und ruhige Zuneigung und Mutterliebe küsst; die Liebe
begnügt sich damit nicht. Seht doch, die Sprachkenntnisse,
die sich da entpuppen! — Nur kommt uns dieser Dol-
metscher des Gefühls ein wenig unvermittelt — wir sind
nicht recht im Bilde — nehmen wir den Faden der Unter-
suchung wieder auf.
Wenn uns die Frau Gräfin die Hand reicht, so werden
wir sie an unsere Lippen führen; wenn wir aber dabei in
allzugrosser Zärtlichkeit zugreifen und ihr die langen, zarten
Finger zusammendrücken, so schreit sie wie Aphrodite, da
ihr Diomedes die Hand zersticht. Wenn die Mutter des
Achilles nebelgleich aus den Tiefen des Meeres auftaucht,
sich zu ihrem kummervollen Sohne setzt und ihn streichelt,
gleichsam um ihm den Gram hinwegzustreicheln, wie ein
unordentliches Haar: so macht sich das gepresste Herz in
tiefen Seufzern und in strömenden Thränen Luft. Wenn
der lüsterne Knecht die Bäurin unter den Achselhöhlen
kitzelt, so lacht das verbuhlte Weib. Wenn wir die Dame
unseres Herzens geistreich unterhalten, gute Witze machen,
komische Gesichter schneiden, so lacht sie wiederum, weil
wir sie geistig kitzeln. Ganz recht, das haben wir im
Vorigen gelernt; aber wir werden jetzt gewahr, dass wir
die Mienen und Geberden erst von einer Seite kennen.
Wir wissen, dass einer schreit, wenn er getreten wird;
lacht, wenn er gekitzelt wird — auch das wissen wir, dass
dergleichen Reaktionen schon auf die blosse Vorstellung
des Reizes und in übertragenem Sinn erfolgen. Aber,
was treibt denn auf der andern Seite uns, zu drücken und
zu treten, zu streicheln und zu kitzeln, zu herzen und zu
I
j
— 195 —
küssen? Der Grund, eine andere Person sanft oder unsanft
zu berühren, dass der Mund verzogen und die ganze Skala
der Naturlaute abgesungen wird? — Der Grund ist das
GefuW, das uns diese Person einflösst und das sie ihrerseits
nicht durch einen vorübergehenden Eingriff, sondern durch
die Wirkung ihrer gesamten Gegenwart in uns hervorruft,
das Gefühl der Liebe und des Hasses, der Furcht und des
Vertrauens; welche Gefühle nun abermals ihre spezifischen,
sprechenden Geberden auszulösen pflegen, wie die Liebe
den Kuss.
Wer erschöpft die vielfältige Narrentheidung der Ver-
liebten? Ihr Äugeln und Händedrücken, ihr Hätschen und
Tätscheln, ihr Patschen und Klatschen, ihr Kitzeln und
Kritzeln, ihr Fingern und Umarmen, ihr Hin- und Her-
wiegen, ihr Aufeinanderhocken und -bocken, ihr wollüstiges
Beissen und das endlose Präludium des seligen Augenblicks,
wo sich die Engel, um nicht neidisch zu werden, ihre
Flügel vor die himmelreinen Augen halten? — Denn was
ist der kurze Sinn des Spiels der edlen Minne? — Der
Beischlaf; das ganze Liebesgetändel ist nur ein Ansatz
zu diesem wichtigen Naturakt — immer hitziger, immer
dringender wird die geschlechtliche Näherung, immer un-
widerstehlicher der Trieb, sich zu vereinigen, immer deut-
licher der Zweck der, man möchte sagen, qualvollen Pan-
tomime, die nur auf einer grausamen Begierde wie auf
brennendem Durst beruht; ist derselbe endlich erreicht, so
wird das Ballett für eine Weile suspendiert, bis es wieder
von vorne anfängt. Ist das Liebe? — Schwerlich; denn
keiner von beiden Teilen will eigentlich dem andern etwas
zuliebe thun — am ersten thuen sie noch der Natur etwas
zuliebe, welche die Art erhalten will; aber persönlich liegt
doch nur die Absicht vor, mit Hilfe des anderen die eigene
wahnsinnige Brunst zu löschen: wenigstens gilt dies für
den Mann, der die Frau nur liebkost, damit sie ihn ge-
währen lasse — wie das Kind der Mutter schmeichelt, um
einen Leckerbissen zu bekommen. Beim Weibe ist der
13*
— 196 —
Geschlechtstrieb in der Regel minder heftig, und es kann
wohl vorkommen, dass es sich nur aus Gefälligkeit, daneben
aus Schwäche, gelegentlich aus Berechnung hingibt Die
geschlechtliche Liebe, die vorzugsweise Liebe genannt
wird, hat davon gerade am allerwenigsten; das Weib, wel-
ches der Mann als solches liebt, ist für ihn nur ein kost-
bares Werkzeug, einen Naturtrieb, für ihn einen völlig
egoistischen Trieb, zu befriedigen.
General Ollendorf, der Komtesse Laura auf die Schulter
küsst, wird von ihr mit dem Fächer ins Gesicht geschlagen;
jener Enthusiast, der Mrs. Bellemy angesichts des Hauses
auf den Nacken küsste, erhielt gar eine Ohrfeige. Da
hatten sie's; denn die echte Liebe ist schüchtern: der wahr-
hafte Verehrer scheut sich, den letzten Saum des Gewandes
zu berühren, das seinen Engel umgibt: Monsieur, sagte
der berühmte französische Schauspieler Lekain zu einem
Debütanten, der im Feuer der Leidenschaft seine Prinzessin
beim Arm ergriff, Monsieur, si vems voulez paraitre passionne,
ayez Vair de craindre de toucher la rohe de celle que vous aimez!
— Das macht, dass es sich bei dieser Rolle noch um die
erste, zarte, unaufgebrochene Blüte der Liebe handelt, die
zu beleidigen, zu kompromittieren fürchtet; dass hier noch
die wahre Liebe ist, mit der die Geschlechtsliebe bisweilen
anfängt, ja die auch ab und zu, das soll nicht geleugnet
werden, neben der geschlechtlichen Liebe wie eine himm-
lische Schwester hergeht, obgleich sich die beiden Schwe-
stern eigentlich nicht vertragen. Die wahre Liebe ist selbst-
los, wie Mutterliebe, nur auf das Wohl des andern, auf
eigenen Vorteil aber gar nicht bedacht, im Gegenteil im-
stande, sich für den geliebten Gegenstand zu opfern; der
echte Liebhaber setzt den Ruf seiner Dame über Gewinnst
und Wollust, und wenn er den Minnesold begehrt, so ist
es ihm noch weniger um den sinnlichen Hochgenuss, als
um das höchste Liebesunterpfand zu thun, das ihm von der
Geliebten gegeben werden kann. Die Geschlechtsliebe nährt
eine Selbstsucht, wie sie aufs beste ist; sie ist wohl auch
— 197 —
auf das Wohl des andern Teils bedacht, aber in keinem
besseren Sinne, als wie man auf das Wohl eines schönen
Reitpferdes, das man ja auch streichelt und auf die Seiten
klatscht, auf die gnte Erhaltung irgend eines nützlichen
Gegenstandes bedacht ist: man freut sich seiner wie ein
Türke seines Harems, der Verlust schmerzt uns nur um
jenes Gliedes willen, das nach Salomos Sprüchen zu den
drei unersättlichen Dingen gehört (XXX, 15).
Und der Kuss? Er verkündet den heiligen Coitus, wie
Bethlehem der Komet, doch gehört er nicht eigentlich zu
dem Präludium, das wir oben geschildert haben, denn er
ist nicht sowohl eine Vorbereitung zum Beischlaf, als viel-
mehr ein Vorschmack und eine schüchterne Probe des
Beischlafs selbst,*) daher sich auch Brautleute mehr küssen
als Eheleute, die's nicht mehr nötig haben; und wie der
Beischlaf ein egoistisches Vergnügen. Oscula quae Venus
quinta parte sui nectaris imhuit. Dieser anmutige Vor-
läufer eines grösseren Augenblicks, dieser süsse Wechsel,
der auf zwei noch süssere Lippen gezogen wird, er wird
doch nur von jedem der beiden Beteiligten apart genossen,
so notwendig auch einer den anderen dazu braucht — sie
scheinen ineinander überzufliessen, sie beissen sich, aber wenn
man genauer hinsieht, so kommen doch die beiden feurigen
Lebensströme, die sich im Kuss entgegeneilen, über den
Damm der Lippen nicht hinaus, sondern müssen, am Rande
derselben angekommen, wiederumkehren und in entgegen-
gesetzter Richtung abwärts fluten. Eins ist nur im andern
sich bewusst, und doch sind beide, wie zwei Elektrizitäts-
leiter, isoliert; der verliebte Knabe, der mit seiner Gnädigen
Frau im Rausche seiner Liebe von vom und von hinten
schön thut, der sie nicht bloss auf den Mund, der ihr Hals
und Nacken, Brust und Arme, Augen und Ohren, Taschen-
tuch und Fächer küsst, der seiner Venus Kallipygos am
*) Bei der sogar gelegentlich in raffinierter Weise die Zunge zu Hilfe
genommen wird, was die Griechen xaTay).(OTTll^€iv nannten.
— 198 —
liebsten ihr unsterbliches Teil ableckte — der die Fischart-
sche Regel gewissenhaft befolget:
Rucken aus Brabant, Hand von Cöln,
Den Ars aus Schwaben küsst ihr Geselln —
er küsst sich fortwährend selbst — wie Philine hundert
Kusshände austeilt, die wirkliche Küsse vertreten sollen,
und doch nichts anderes küsst, als die Spitzen der eigenen
Finger.
Aber ein KjLisshändchen kann selbst zum Ausdruck
einer reineren Liebe werden. Es wird zugeworfen, so oft
man in der Lage ist, einen wirklichen Kuss nicht geben zu
können; also zum Beispiel auch den Göttern und den er-
j
habenen Himmelskörpern. Seit den ältesten Zeiten grüsste
man die Sonne, den Mond und die Gestirne mit einem
Kuss auf die eigene Hand: habe ich jemals meine Hand ge-
küsst, fragt Hiob, dem dies eine heidnische Sitte ist, im
27. Verse des XXXI. Kapitels, wenn ich die liehe Sonne oder
den Vollmond ansah? — Diese Ehre erwiesen die Babylonier,
Phönizier und Hebräer Baal; auch die alten Römer führten
die rechte Hand zum Munde, wenn sie bei einem Tempel
vorüberkamen. Bei der eigentlichen Anbetung oder Ado-
ratio"^) streckten sie die rechte Hand nach dem Götterbilde
aus, küssten die Hand und warfen die Kusshand leicht
vorwärts geneigt und mit halbgebogenem Knie der Statue
zu, worauf sie sich um und um drehten, während bei der
Oratio oder dem Gebet die Hände einfach zusammengelegt
und nach den Göttern ausgestreckt wurden, die natürliche,
schon von Homer erwähnte Bittgeberde: wir MenschenMfder
alle, sagt Aristoteles, strecken unsere Hände gen Himmel aus,
wenn wir heten (De Mundo vi). Und zwar wird in diesem Fall
*) Altere Etymologen haben sogar das Wort adorare auf die obligate
Kusshand zurückgeführt und gemeint, es heisse eigentlich: (die Hand) twn
Mtmde führen, (manum) ad os admovere. Dies ist irrig : orare hängt allerdings
mit OS, wie jurare mit jus zusammen, bedeutet aber sprechen, dann besonders
öffentlich sprechen (oratio, orator), und in religiösem Sinne %u den Göttern spre-
chen, beten (adorare, exorare).
— 199 —
die Kusshand gewiss nicht den Kuss auf den Mund, sondern
etwa den Fusskuss, das demütige Küssen des Gewandes,
der Schuhe, ja des Bodens, auf dem die Gottheit steht, be-
deutet haben, sintemal man auch in der Kaiserzeit, als die
Sitte einriss, die römischen Kaiser wie Götter zu odorieren,
vor ihnen niederfiel und ihnen Füsse imd Knie küsste.
Der Kuss ist zunächst eine Sache, die zwischen Mann
und Weib ausgemacht wird; indem man sothane Geberde
bei Freunden und Verwandten beiderlei Geschlechts wieder-
holt, ohne an etwa Geschlechtliches zu denken, wird der
Kuss zum Ausdruck der Liebe und Freundschaft über-
haupt; indem man sie endlich auf Körperteile überträgt,
die zum Liebesgenuss gar nicht dienen, weil man sich der
Liebe des Geküssten gar nicht wert erachtet und sich dem-
gemäss an indifferente, ja untergeordnete Glieder desselben
wendet, wird der Kuss zum Zeichen der Hochachtung und
der Demut, die zu allermeist für den Verkehr des Menschen
mit seinem Gott massgebend ist. Das Wort Beligion be-
deutet den frommen Skrupel, die ehrfurchtsvolle Scheu vor
der Gottheit. Beligio est, quae superioris cujusdam naturae,
quam divinam vocant, curam caerimoniamque affert (Cicero). Ein
höheres, ein allmächtiges Wesen waltet über uns, bald
schrecklich und bald gnädig, aber immer als ein König
von unerreichbarer Majestät. Wenn wir uns jemand gegen-
über klein fühlen, so ist es der Gottheit gegenüber; wenn
uns ein Gedanke unwillkürlich zu Boden drückt, so ist es
der Gedanke an die Gottheit Unwillkürlich falten wir die
Hände: es ist die Geberde des Wehrlosen, der den Sieger
um Gnade fleht. Moses, da Jehova mit ihm redet, verhüllt
sein Angesicht; er zieht seine Schuhe aus, denn der Ort,
da er aufsteht, ist ein heiliges Land. Er steht, er beugt
sein Knie, er wirft sich nieder und berührt mit dem Kopf
die Erde, eine orientalische Sitte, die auch in der Bibel
vorkommt (i. Könige xviii, 42): noch heute beten die Juden
stehend, auch die alten Griechen und Römer standen beim
Gebet und erhoben beide Hände flach gen Himmel, wie
— 200 —
ein Redner; die ersten Christen standen ebenfalls, breiteten
aber die Arme aus, um die Kreuzesform nachzuahmen.
Wir alle schwören stehend und erheben die rechte Hand:
ich erhöh meine Hand ist ebensoviel, wie ich schtour im Alten
Testament. Und bei aller Ehrfurcht küsst der Mensch
seinen Gott, wenn auch furchtsam und im Staube — beim
Sonnenaufgang wirft er dem ewigen Lichte eine Kusshand
zu — und beim Ausbruch des Gewitters, bei krachenden
Donnerschlägen spricht er:
Wenn der uralte
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
Sengende Blitze
Über die Erde sät,
Küss' ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust
Goethe, Grenzen der Menschheit.
Damach lassen sich also beim Kusse gleichsam drei
Stufen unterscheiden: auf jeder derselben verdolmetscht er
ein spezifisches Gefühl, dem jedesmal ein anderes Gefühl
mit anderen Geberden gegenübersteht. Die erste Stufe,
die natürliche Grundlage und Quelle aller Küsse, ist der
geschlechtliche Liebeskuss, diese Anticipation des Bei-
schlafs. Er entspringt jener unerklärlichen, natürlichen
Sympathie, die man im engeren Sinne Liebe nennt und
der eine ebenso unerklärliche Antipathie, der geschlechtliche
Widerwille entgegengesetzt ist; denselben Mann, der hier
Feuer und Flamme ist, überkommt wohl dort ein derartiger
Ekel, dass er ausspeit, als ob er sich übergeben müsste.
Die zweite Stufe ist der Kuss der wahren, uneigen-
nützigen Liebe, die wir oben von der sinnlichen Liebe
abgesondert haben und die am reinsten in der Mutterliebe
und in der Freundschaft zutage tritt. Dieser Liebe, die den
geliebten Gegenstand um seiner selbst willen zu erhalten
— 201 —
strebt, und die an ganz anderen Früchten als an Küssen
zu erkennen ist, steht der Hass entgegen, der darauf aus-
geht, den Todfeind zu vernichten — wäre der Mensch nicht
durch Gesetze und Herkommen gebunden, so würde er ihn
in der That vernichten, vergiften, verderben, zertreten,
morden oder morden lassen: Tyrannen und alle, die sich
kein Gewissen daraus machen, haben dies oft genug gethan;
und wenn es ihnen nicht gelang, so suchen sie den Un-
glücklichen wenigstens mit Blicken zu durchbohren, mit
Worten zu erdolchen, mit Ohrfeigen zu traktieren, sie
ziehen nur die natürliche Konsequenz des tödlichen Ge-
fühles. Nur weil diese Konsequenz so häufig nicht gezogen,
der glühende Hass zurückgedrängt und auf Umwegen be-
ftiedigt werden muss, entsteht jene düstere Miene, jene
Bleichheit, jene allgemeine Magerkeit, die verhaltene Lei-
denschaften charakterisiert, die Wange gelb und grün, des gif-
tigen Neides sichtharliche Strafe; denn die eigentlichen Geber-
den des Hasses sind die Thaten; von andern Beziehungen,
von einer Bildlichkeit, einer Analogie zwischen dem Gefühl
und seinen Äusserungen entdecke ich ebensowenig eine
Spur, wie bei der Liebe. Les Haines sont si longues et si opi-
niätres, sagt Labruy^re, qtie le plus grand signe de mort dans
un komme malade, c'est la reconcüiation. Dann reicht man sich
die Hand, und es folgt der Versöhnungskuss. Endlich die
dritte Stufe ist der hochachtungsvolle Kuss, der gar
nicht auf den Mund, sondern auf die Hand und den Fuss,
wenn nicht, wie bei dem Teufel, auf den Hintern gegeben
wird — die Hochachtung, die sich ängstlich zusammen-
nimmt, die, wie Machiavelli bei der Lektüre der alten
Klassiker, Feierkleider anzieht, die sich fireiwillig verkleinert
und erniedrigt, auf die Knie fällt und sich in den tiefsten
aller Stäube wirft, reicht nicht bis zu den Lippen ihres
Gottes, sie küsst den Saum des Kleides; ihr steht die Ver-
achtung und der Stolz entgegen, der sich in die Brust
wirft wie ein Adler, wenn er mit kühn blitzendem Auge,
gesträubten Nackenfedern und halb gelüfteten Schwingen
— 202 —
auf seiner Beute steht und sein Siegesgeschrei ausstösst;
der überall voran und durch die mittlere Thüre geht; der
dem vornehmsten Mann den Rücken kehrt, und lebt er
mit ihm zusammen, keine Rücksicht nimmt, sich vor ihm
gehen lässt, ja, sich vor ihm, wie der Römer vor seinem
Sklaven entblössen würde, denn er ist ihm Luft.
Wollen wir eine Person, die alle diese drei Stufen -in
sich vereinigt, so nehmen wir Christus, des Menschen und
Gottes Sohn. Tausend fromme Nonnen und heilige Katha-
rinen hat es gegeben, denen Christus ihr himmlischer Bräu-
tigam gewesen ist und die im Traum oder in der Ekstase
von ihm besucht, umarmt und geküsst worden sind, ein
Liebeskuss voll wollüstigen Verlangens und voll sinnlicher
Glut, wenn irgend einer sonst. Den Kuss der Freundschaft
und der ruhigen Zuneigung hat Christus bei Lebzeiten
empfangen und gegeben, das beweist der Judaskuss, der, so
falsch er war, dennoch die treue Liebe des Jüngers be-
weisen sollte, sonst hätte er ja gar keinen Sinn gehabt
Endlich dem Erlöser, dem Sohn Gottes küsste bereits
Maria Magdalena die Füsse, als sie dieselben salbte (Lucä
VII, 38); und diese Ehre wird dem Heiland von seiner Ge-
meinde bis auf den heutigen Tag in seinen Bildern er-
wiesen: dem Michelangelo'schen Christus in Santa Maria
sopra Minerva zu Rom sind die Zehen ganz abgeküsst, so
gut wie der alten Statue des Apostels Petrus in der Peters-
kirche.
In der alten Kirche wurden, wie dies noch heute bei
den griechischen Katholiken üblich ist, die Toten zum Ab-
schied und zum relevTalog danaofibg geküsst. Man könnte
das eine letzte und vierte Stufe nennen: der Kuss der
Liebe auf bleiche Lippen, die nimmermehr erwarmen —
das geht noch über den demütigen Kuss hinaus, den wir
einem höheren Wesen auf seinen Pantoffel geben, der aber
doch empfunden und angenommen wird. Hu! Du schiebst
Deine Brote in einen kalten Backofen! — sagte der Schatten
Melissa's zu ihrem Gemahl, Periander von Korinth, als sie
— 203 —
ihm in dem Totenorakel am Acheron in der Landschaft
Thesprotia erschien. Er hatte der Leiche des geliebten,
in der Eifersucht ermordeten Weibes ehelich beigewohnt
(Herodot V, 92, 7).
VI. Die Selbstbeherrschung.
Die diplomatische Miene des Tiberius, die unveränderte Miene des Marc Aurel
— die Apathie der Stoiker — die alten Germanen sinken lachend in die Arme
des Todes, die Indianer singen am Marterpfahle lustige Lieder — wir kaufen
das Lachen und bestellen die Heiterkeit: die Sandwichmänner in Paris — im
Dreissigjährigen Kriege lacht der Hauptmann nur am Sonntag, der Weltum-
segler Cook lacht nur Sonnabend abends — Krokodilsthränen — die Welt ein
grosses Schauspielhaus, die ganze Natur auf den Kopf gestellt — die Gewalt,
welche wir über unsere Mienen und Geberden haben, äussert sich bald in nega-
tiver, bald in positiver Weise, jenachdem wir sie unterdrücken oder reproduzieren
— das Reich Monomotapa niest — Unterschied zwischen dem falschen Geberden-
spiel in der (xesellschaft imd dem Spiel des Mimen im Theater — die Frauen
überschauspielem Adrienne Lecouvreur und Rachel F61ix — die Menschen wollen
beobachtet werden, thuen aber so als ob sie nicht beobachtet werden wollten —
wenn die Absicht, eine künstlich reproduzierte Miene sehen zu lassen, einge-
standen wird, entsteht eine höhere Form der Sprache ohne Worte — Schluss
des ersten Buches.
Denn wenn mein änssres Thun je offenbart
Des Herzens angeborne Art und Neigung
In Haltung und Geberde, dann alsbald
Will ich mein Herz an meinem Ärmel tragen
Als Frass fttr Kiüh'n. Ich bin nicht, was ich bin! —
Jago in Sbakenpeares Othello (I| 1).
Tacitus kennzeichnet die künstliche, verstellte, diploma-
tische Miene des Tiberius mit dem treffenden Ausdruck:
Vidtus jussus, Miene auf Kommando. Der Kaiser hatte
seine Gesichtszüge in seiner Gewalt, er beherrschte sie wie
die Römer, sie mussten gleichsam nach seiner Pfeife tanzen.
Dieser gekrönte Heuchler war das Muster eines Diplo-
maten der alten Schule, die es als ein Standesprivilegium
betrachtete, zu lügen und zu täuschen und mit ihren Ab-
sichten hinterm Berg zu halten — Diplomaten sind immer
Meister in der Kunst gewesen sich selber zu beherrschen)
— 204 —
erst neuerdings sehen sie ein, dass sich auch mit Offenheit
und Freimut etwas erreichen lässt. Aber auch der Nicht-
diplomat strebt darnach, seine Mienen und seine Geberden
in seiner Gewalt zu haben: darauf beruhte die sogenannte
Apathie der Stoiker, ihre Leidenschaftslosigkeit und Un-
empfindlichkeit, kraft deren sie sich nicht bloss von den
natürlichen Trieben und Gefühlen, sondern auch von den
natürlichen Zeichen derselben emanzipieren wollten; wenn
es wahr ist, was Julius Capitolinus von einem andern rö-
mischen Kaiser, dem trefflichen Marc Aurel erzählt — dass
er seine Miene niemals verzogen habe, weder in der Freude
noch im Schmerz: erat tantae tranquiUitatis , ut vuUum nwm-
quam mutaverit moerore vel gaudio: so verdankte er diese un-
störbare Ruhe seiner stoischen Philosophie. Und selbst
unter uncivilisierten Völkern finden sich Spuren einer wil-
den Tapferkeit, die, weil der Natiu" zuwider und nur aus
Trotz angenommen, immerhin als eine Art Heuchelei be-
zeichnet werden muss. Die homerischen Krieger haben
noch geschrieen und geweint; aber von den alten Dänen
heisst es, dass sie einen Krieger ehrten, der den Tod nicht
fürchtete, sondern ihn lachend kommen sah. Der nordische
Högni lacht, als man ihm das Herz ausschneidet; lachend
stirbt Ragnar Lodbrok, der mit Schrecken in den Mönchs-
chroniken genannte Wikingerkönig, in Britannien den Tod
unter Schlangen. Auch von den amerikanischen Indianern
wird erzählt, dass sie, von Kindesbeinen an gewöhnt,
Schmerzen lautlos zu ertragen, am Marterpfahle unter den
ausgesuchtesten Qualen schauerlich lustige Lieder sangen,
des grausamen Feindes spottend. Endlich in unseren Zeiten,
wo die Sitten milder geworden sind, sinken wir zwar nicht
mehr lachend in die Arme des Todes, wie die Helden
Odins, dafür wird die Natur in anderer Weise gemeistert
und abgerichtet — man kauft das Lachen, man bestellt
die Heiterkeit, um Reklame damit zu machen; und es fällt
mir eben eine Gruppe Sandwichmänner ein, die man im
letzten Oktober auf den pariser Boulevards sehen konnte.
— 205 —
Ein Sandwichmann ist ein armer Teufel, der mit je einer
Anzeigetafel auf der Brust und auf dem Rücken wie ein
belegtes Butterbrot durch die Strassen zieht; seine Heimat
London. An einem schönen sonnigen Herbstsonntag-
nachmittag des vorigen Jahres bemerkte man nun einen
Zug von etwa fünfzig solcher Sandwichmänner in Paris,
Sie boten nicht den gewohnten Anblick trübselig hinschlei-
chender, stumpfer Kopfhänger, sondern schienen allesamt
von einer unbändigen Lustigkeit erfasst zu sein. Jeder
hielt ein Blatt in der Hand, in dem er las oder zu lesen
vorgab, und drückte auf die manftigfaltigste Weise das
grösste Ergötzen aus. Der eine blieb alle paar Schritte
stehen, warf den Kopf zurück und hielt sich die Seiten
vor Lachen, der andere krümmte sich von einem lautlosen
Gelächter geschüttelt, und schlug sich mit der Hand immerzu
klatschend auf die Schenkel, der dritte machte Luftsprünge
und hob beide Hände wie ausser sich in die Höhe, und so,
mit beständiger Abwechselung, die ganze Reihe der Fünfzig
entlang. Was bedeutete das? Waren die Leute plötzlich
verrückt geworden? Hatten sie Lachgas geatmet? Nein.
Die Sache war viel einfacher. Wie ein Blick auf ihre An-
zeigetafel lehrte, waren sie dafür bezahlt, die Aufmerksam-
keit des Publikums auf ein neues Witzblatt zu lenken, und
ihre Auftraggeber hatten den Einfall gehabt, die grossartig
erheiternde Wirkung ihrer Zeitung durch Sandwichmänner
mimisch darstellen zu lassen.
O, Schauspielhaus, Schauspielhaus! Wo jedermann seine
Rolle spielt und die Zuschauer selber bestochen sind.
Klatschen sie doch in die Hände, pfeifen sie doch, drehen
und winden sie sich doch, als wären sie — nicht bezahlt! —
Jedes Amt, jeder Tag hat nicht bloss seine eigne Plage,
sondern auch seine eigene Miene — im Dreissigjährigen
Kriege sollte der Hauptmann nach einem alten Sprichwort
die Woche hindurch sauer sehn und die Kriegsleute nicht
eher anlachen, als am Sonntag, wenn man im Felde predigte
— vielleicht ist diese Regel daran schuld, dass Wallenstein
— 206 —
selbst so wenig redete und so selten lachte. Man kann ihn
mit Cook vergleichen, der während seiner Reise um die
Welt nur einmal gesungen und gepfiffen haben soll und
den man nur Sonnabend abends lächeln sah, wenn die
Matrosen, die dann frei hatten, sich zutranken und riefen:
Saturday Night! —
Süsse Stimme der Natur, holdlächelnde Aphrodite, wo
bist du hin? — Unter uns lächelt ja niemand mehr für sich:
wir leben nicht um zu leben, wir leben um gesehen zu
werden; und gesehen zu werden, wie es uns eben ziemt
Es ziemt uns aber, entzückt zu scheinen, wenn wir vor
Langerweile bersten; gleichgültig zu scheinen, wenn wir im
Innern triumphieren; zufrieden zu scheinen, wenn wir Tau-
sende verspielen; und nicht zu mucksen wie Talleyrand,
wenn uns jemand von hinten Fusstritte versetzt. Das
Lächeln von heute ist ein Gesellschaftslächeln, das Gold
der Natur entwertet, es kursiert nur noch falsche Münze;
und gehen wir mit dem Herzog in den Ardenner Wald;
setzen wir uns unter die bemoosten Eichen, die Adler über-
leben, oder an die Ufer des alten Nils: nur Spottdrosseln
hört man kichern und Krokodile weinen. Es ist doch
charakteristisch, dass wir selbst den Tieren nicht mehr
trauen; dass wir eben vom Krokodile fabeln, es klage und
seufze, um die Vorübergehenden zu berücken, und es ver-
giesse, während es dieselben auffresse, heuchlerische Thränen.
Schon die alten Griechen kannten rä yt^onodelkov ddnQva,
Alles lügt auf dieser falschen Erde — die Zeit ist lange
vorüber, da man das volle Herz durch Freudenschreie und
Wehklagen erleichterte — selbst die uralte Sprache der
Thränen brauchen wir nur noch wie Talleyrand, um unsere
Gedanken zu verbergen, und unsere Küsse sind durch
Judas' Verrat vergiftet:
Deiner heiligen Zeichen, o Wahrheit, hat der Betrug sich
Angemasst, der Natur köstlichste Stimmen entweiht.
Die das bedürftige Herz in der Freude Drang sich erfindet;
Kaum gibt wahres Gefühl noch durch Verstummen sich kund.
Schiller, der Spaziergang,
— 207 —
Kaum durch Verstummen; im Gegenteil, dem Gefühl
Schweigen gebieten, ist eine erste Selbstbeherrschung. Wenn
wir die verschiedenen Formen derselben überblicken, so
finden wir, dass sich die Gewalt, die wir über unsere
Mienen und Geberden haben, in doppelter Weise äussert:
in negativer und in positiver Weise. Negativ ist
unsere Gewalt, sofern wir eine Geberde, die natürlicher-
weise zu erfolgen hätte, unterdrücken; positiv ist unsere
Gewalt, sofern wir eine Geberde, die keine Statt hat, will-
kürlich hervorbringen. Bekanntlich gilt es für einen Ver-
stoss gegen den guten Ton, in Gesellschaft, vollends bei
Tische, zu niesen und zu husten. Man wird sich also das
Niesen verhalten, selbst wenn der Kitzel krampfhaft werden
sollte, und damit eine negative Selbstbeherrschung be-
thätigen. Umgekehrt, aus dem afrikanischen Reiche Mono-
motapa, einer im XVII. Jahrhundert vielgenannten Neger-
konföderation, wird erzählt, dass, wenn der König nieste,
seine nächste Umgebung gleichfalls zu niesen gehalten
war; dass sich das Niesen vom Hof in die Residenz, von
der Residenz in die Provinz fortpflanzte und dass schliess-
lich das ganze Reich Monomotapa nieste. Das war posi-
tive Selbstbeherrschung.
Das eine wie das andere Mal spielt man die Natur;
doch darf man dieses falsche Spiel nicht ohne weiteres mit
dem Spiel des Mimen im Schauspielhaus verwechseln.
Freilich ist die Welt ein grosses Schauspielhaus; aber im
wirklichen Leben wird der Natur ungleich mehr zu nahe
getreten, als im Theater. Denn im Theater liegen doch,
nach der Bestimmung dieses Kunstinstituts, die Verhältnisse
so, dass wir eigentlich von einem Spiele und von darstellen-
den Künstlern gar nichts merken. Die Bretter bedeuten
die Welt, und die auftretenden Schauspieler nimmt die
Illusion des Publikums gläubig für die handelnden Personen.
Wenn Rachel Felix im Theätre Frangais Ädrienne Lecouvreur
spielt, so identifiziert sie sich mit ihrer Rolle, und je voll-
ständiger ihr das gelingt, um so weniger Kunst braucht
— 208 —
sie, denn sie gibt sich selbst und alle ihre Geberden gehen
ihr von Herzen. Wenn dagegen die Maintenon oder die
Pompadour am französischen Hofe unter ihrer eigenen
Firma intriguieren, so geben sie sich keinesweges selbst,
ihre Geberden gehen ihnen nicht nur nicht von Herzen,
sie widerstreben ihnen geradezu, schon ihr Geschlecht
bringt es mit sich, dass sie sich verstellen müssen. Die
Verstellung scheint für alle Frauen eine wahre Ehrenpflicht
zu sein, sie ist hauptsächlich an der Unergründlichkeit des
weiblichen Herzens schuld. Ja, die Frauen überschauspielem
die Lecouvreur und die Rachel, denn sie accomodieren sich
nicht bloss einer sympathischen Natur, sie verleugnen ihre
eigene Natur und verwandeln sich schnvirstracks in ihr
eignes Widerspiel. Aber wie merkwürdig! Auch das Spiel,
das die Menschen auf der grossen Weltbühne betreiben,
muss verdeckt bleiben, um nicht zwecklos zu sein. Auf
die Beobachtung ist gerechnet, aber es soll nicht den An-
schein haben, als ob man beobachtet werden wollte. Es
ist schon bewusste Sprache, und doch trägt sie noch die
Maske des Instinkts.
Aber diese Schauspielkunst, welche die Natur auf den
Kopf stellt, indem sie natürlich scheinen will und an sich
zu den geschilderten Lebensäusserungen nicht das geringste
neue Moment hinzuthut, ist ein grosses Mittel der Sprache
ohne Worte, sobald die Maske abgeworfen und die Ab-
sicht, gesehen zu werden, eingestanden wird. Sie kann
immer noch Lüge sein; aber der offenkundige Zweck erhebt
sie zu einer wirklichen Mitteilung. Natürliche Mienen und
Geberden künstlich vormachen, um seine Gesinnungen zu
zeigen, das ist die erste und hauptsächliche Form der ab-
sichtlichen Mitteilung, die einen besseren Ausdruck des Ge-
dankens noch nicht gefunden hat. Damit haben wir das
Ziel erreicht, das unserem ersten Buche gesteckt ist: ohne
Absicht der Mitteilung und ohne Gedankenaus-
tausch. Die Absicht der Mitteilung bezeichnet ein zweites
Buch und eine zweite Stufe.
Zweites Buch.
Mit Absicht der IVlitteilung, aber ohne Gedanl<enaustausch
Klein paul, Sprache ohne Worte. 14
Erstes Kapitel.
Ein Schritt vorwärts. Die Reveille.
Wachet anf! ruft ans die Stimme
Der Wächter sehr hoch auf der Zinne.
Pkili^^ Nicolai.
Der Stein der Weisen — es scheint, wir haben ein Pulver gefunden, das die
Kraft hat, die ganze Welt in Sprache zu verwandeln — warum die Weltsprache
noch keine rechte Sprache ist — der Zweck macht das Wesen der Thätigkeit
aus, die Absicht der Mitteilung ist es, was eigentlich Sprache macht — das
animalische Leben der Boden, in welchem die eigentliche Sprache keimt —
indessen der Gedanke, der mitgeteilt werden soll, ist vorerst noch nicht ent-
wickelt — es kann sich fugen, dass nur die Absicht der Mitteilung allein zum
Ausdruck kommt, der Gedanke im Hintergrunde bleibt — die Weckstinmien,
die Reveille in der Sprache — das Anklopfen — wie man in England klopfen
muss — diese Verständigimg eine Vorstufe des Verkehrs — ausgestellte Wachen
bei Gemsen, Aflfen, Kranichen — Unterhaltungen zwischen Insekten — der
Krokodilwächter — Krebs und Muschel — es fragt sich, inwieweit die Signale
der Tiere bewusst erfolgen — die Zeichen, welche sich die Menschen imter-
einander geben — der Pfiff des Odysseus und die Pfeifsprache auf Gomera —
die Trommelsprache in Kamerun — das Klatschen in der Diamantenwäscherei
-T das Zeichen wird konventionell und verschieden gestaltet, um seine Ausdrucks-
fähigkeit zu steigern — Kanonenschüsse, Glockengeläute, das Tamtam oder
Gonggong — die P'laggensprache — wie die Wenden zur Gemeindeversammlung
eingeladen werden, wie der oberösterreichische Bauer Gevatter bitten geht — der
Ceremonienmeister, der Droschkenkutscher, der Schutzmann, wie sie sich be-
merkbar machen — die Klingeljungen der BoUeschen Milchwagen, die seltsamen
Weckapparate der Hausierer — diese Reveille nur eine Vorstufe der Sprache —
wir können damit nur den schlafenden Verstand aufwecken.
Der Stein der Weisen war bekanntlich ein Pulver,
welches alle Körper in. Gold verwandelte. So scheint es,
14*
— 212 —
dass wir einen Stein der Weisen gefunden haben, welcher
die Kraft hat, die ganze Objektivität in Sprache zu ver-
wandeln. In der grossen und der kleinen Welt, im Makro-
kosmus und im Mikrokosmus, überall haben wir die goldnen
Adern einer schlummernden Vernunft und, was dasselbe
ist, einer Sprache ohne Worte angehauen. Und doch, fast
möchten wir mit den Adepten der Alchimie bekennen: den
Stein der Weisen haben wir gefunden, Gold zu machen ist
uns dennoch nicht gelungen. Ein goldähnliches Produkt
nichts weiter. Wir haben vieles sprechen lassen, eine rechte
Sprache ist es nicht geworden. Die Welt, welche die
Summe aller menschlichen Erkenntnis einschliesst , deren
Eindrücke uns zurechtzulegen das Ende alles Forschens
und alles Erkennens ist, sie kann wohl mit einem Chemi-
schen Laboratorium verglichen werden, in welchem sich
Millionen Studierende privatim in der qualitativen und in
der quantitativen Analyse üben: sie gleicht wohl einem
Lehrsaal, welcher selbst doziert: aber die Natur doziert doch
nur insofern, als sie eben die Basis jedweder Lehre dar-
stellt, sie selbst thut zu unserer Belehrung nichts hinzu.
Denn weder die Jehovahs Ruhm verkündigende Feste;
noch die faltenreiche Stime; noch die jedes Geheimnis aus-
schwatzende Geberde — nichts davon hat den Zweck uns
klüger zu machen, uns zu bessern und zu bekehren, sinte-
mal selbst wer die letztere künstlich nachmacht, um ge-
sehen zu werden, uns gern vom Gegenteil überzeugen
möchte. Verstehen wir diese Hieroglyphen zu entziffern,
ausgezeichnet; aber es ist keine andere Weisheit darin als
unsere Weisheit, sie sind blinde Wirkungen unvernünftiger
Gesetze, nicht selbstleuchtend wie Sonnen, sondern nur wie
Planeten das Licht zurückwerfend, das sie von uns em-
pfangen haben.
Das Rad der Welt rollt, rollt und rollt. Da ist kein
Gedanke, der es in Umdrehung versetzte; keine Seele, die
sich seiner als Symbol bediente, dem Menschengeschlechte
ewige Wahrheiten zu enthüllen. Oder sollten die Gestirne
— 213 —
in Wahrheit wundervollen Chiffren eines göttlichen Verstan-
des gleichen? Die Träume, die Gesichte wirklich Boten
Gottes sein, die den grossen Geschicken wie himmlische
Geister voranzuschreiten und die Menschen zu warnen
hätten? Diese schneebedeckten Alpen, diese grünenden
Wälder, diese kraftbegabten Organismen nur Evolutionen
der träumenden Weltseele darstellen, die zum Bewusstsein
ihrer selbst gelangen will? — Wir halten das für eine
schöne, aber freie Phantasie; wenn wir im vorigen Buche
wiederholt von einer Sprache Gottes, von göttlichen Sinn-
bildern und Vorzeichen, von der leisen Stimme eines in
unserer eigenen Brust wohnenden Gottes gesprochen haben,
so geschah das nur gleichnisweise, um dem Verständnis
des sinnigen Lesers, der die "'rein objektive Sprache der
Natur nicht recht begreifen kann, zu Hilfe zu kommen:
andernfalls wäre es ja gar keine Sprache ohne Absicht der
Mitteilung gewesen. Und die Absicht der Mitteilung ist
es doch, die eigentlich Sprache macht; fehlt die Absicht,
so können wir wohl für unsem Geist tausendfältige Nah-
rung finden, aber es ist niemand, der uns dieselbe reicht.
Ein mit Sinnen versehenes Gehirn empfängt die Ein-
drücke einer unbekannten Welt; es sichtet, vergleicht, ordnet
diese Bilder, und diese Anordnung nennen wir Gedanke.
Es will dann seine Gedanken einem anderen Wesen von
gleicher Beschaffienheit mitteilen, sucht die Mittel auf, um
eine derartige Mitteilung zu machen und sich Geist dem
Geist zu off^enbaren: diese Mitteilung nennen wir Sprache.
Die aliquid ut dtio simus. Solche Sprache mag dann an sich
selbst betrachtet eine Geberde, ein vernunftloses Bild, ein
Ding wie vorhin sein; ja strenggenommen ist die Sprache
in der That und in der Wahrheit niemals etwas anderes
als ein Stückchen nachgemachte Welt. Aber der Zweck
macht das Wesen der Thätigkeit aus und dieser adelt hier
ge Wissermassen die blosse Materie und erhebt sie in die
Sphäre des Verstandes — wie ein Edelstein zum Geschenke
wird, wenn man ihn von liebender Hand empfängt.
— 214 —
Kry stalle schiessen an, Pflanzenzellen wuchern, Tier-
leiber verbrennen im Sauerstoff der Luft — so weit reicht
die begriffene, nie begreifende Realität. Aber hier, im
Haushalt des animalischen Lebens blitzt der Gedanke wie
ein elektrischer Funke auf, und augenblicklich wird er zur
Flamme und um sich greifend, zündet er ein Licht an, das
die ganze Welt erleuchtet: Poca favüla , sagt Dante, poca
favüla gran fiamma seconda (Paradiso l. 34).
Indessen nur nicht so hitzig! — Wenn wir es zu etwas
bringen wollen, müssen wir klein anfangen. Wir sind über-
eingekommen, dass die Absicht, einen Gedanken mitzuteilen,
das sei, was eigentüch Sprache macht; wir haben sie nur
einem Wesen zugestanden, dem nach langer Finsternis das
Lichtlein der Erkenntnis aufgegangen ist und das, erstaunt
übet die plötzlich eintretende Helle, den Wunsch hat, einem
anderen Wesen ein solches Lichtlein gleichfalls aufzustecken.
Aber mit dem Gedanken sieht es noch windig aus: er ist
noch nicht entwickelt, er existiert sozusagen erst in nuce,
und ein regelrechter Gedankenaustausch steht noch im
weiten Felde. Ja, es kann sich fügen, dass zunächst nur
allein die Absicht der Mitteilung zum Ausdruck kommt,
der Gedanke aber, welcher mitgeteilt werden soll, sich wie
das bescheidene Veilchen nicht hervorwagt. Es hat einer
etwas zu sagen: was er zu sagen hat, gibt er gar nicht
von sich. Es ruft einer: Wachet auf! — wir spitzen schon
die Ohren — aber es bleibt still. Das sind die geistlichen
Weckstimmen, wie sie nicht bloss in der Wüste, sondern auch
bei uns zu Lande, ja an unsem eigenen Thüren den Tag
über hundertmal erschallen.
In der mündlichen Tradition der Franziskaner kommt
die Regel vor, dass ein Mönch beim Terminieren, w^enn er
an sieben Thüren vergeblich angeklopft habe, zuversicht-
lich an die achte klopfen solle, denn dort werde es ihm
nicht fehlen. Die Bettler hören also, wie sie's zu machen
haben — sie müssen nur immer wieder anklopfen, an acht
verschiedenen Thüren; vielleicht hülfe es auch, wenn sie
— 215 —
achtmal hintereinander an einer und derselben Thür an-
klopften. Aber warum flenn nur immer anklopfen, es han-
delt sich doch darum, die Leute anzusprechen? Natürlich,
aber man geht doch nicht sans fagon in ein fremdes Haus
hinein; man pflegt sich erst zu melden. Und wenn man
wollte, so könnte man nicht hinein: es muss erst aufge-
schlossen werden. Klopfet an, so wird euch aufgefhan. Klopfen
thuts freilich nicht; es dient nur dazu, den Bewohner auf-
merksam zu machen, dass jemand draussen ist — wer draussen
ist und was er will, geht aus dem Klopfen nicht hervor,
wenigstens bei uns, auf dem Kontinent nicht. In England
lässt sich allerdings schon aus der blossen Art des Klopfens
Verschiedenes entnehmen.
Dem Fremden, der zum erstenmal in London bei einer
befreundeten Familie einen Besuch macht, kann es vor-
kommen, dass er von der Dame des Hauses freundschaft-
lich belehrt wird, er habe nicht recht geklopft. Er habe
nur einmal geklopft, und daraus schliesse- man hier zu Lande,
dass ein Händler oder ein Diener draussen sei. Ein Gentle-
man und wer einen Besuch machen wolle, klopfe zweimal,
er bringe den kunstgerechten Double-Knock hervor, eigent-
lich keinen blossen Doppelklopfer, sondern zwei lange, durch
mehrere kurze Noten verbundene Schläge, was man musi-
kalisch etwa so ausdrücken könnte:
während der Bäcker dreimal klopfe, der Briefträger dagegen,
wenn er die Briefe in den Kasten geworfen habe, einen
Jambus, das heisst einen kurzen und einen langen Klopfer
mache {the Fostman's Knock), desgleichen der Telegraphen-
bote. Wo solche Signale hergebracht sind, hat man an
ihnen einen gewissen Anhalt, das ist keine Frage; auch
Hessen sie sich, wenn es darauf ankäme, noch weiter aus-
bilden. Nur enthalten sie durchaus nichts von der that-
sächlichen Mitteilung, die doch der Zweck des Kommens
— 216 —
ist. Sie beweisen nur, dass jemand da ist, der etwas sagen
will, dass der oder jener darauf^ wartet, eingelassen und
gehört zu werden — was er bringt, wird sich erst hemach
ergeben. Das Kllopfen entspricht nur dem Rufen des Fern-
sprechers, das die Aufmerksamkeit rege machen und den
Adressaten veranlassen soll, sein Ohr an den Apparat zu
legen; es soll nur das Bewusstsein vorbereiten und den
schlummernden Verstand aufwecken. Es ist eine Art Be-
veiUe,
Diese BeveiUe spielt eine grosse Rolle in der Sprache,
nicht bloss der Menschen, sondern auch der Tiere; ja, die
Sprache der letzteren besteht gewöhnlich nur in einer Re-
veille. Um es noch einmal zu wiederholen: eine eigentKche
Sprache, wenn man eine solche der deutlichen, aber unbe-
wussten Sprache, welche die Dinge und die Thatsachen
sprechen, entgegensetzt, entsteht erst mit der Absicht der
Mitteilung. Solche Absicht kann allein zum Ausdruck
kommen, ohne dass sich eine förmliche Mitteilung daran
schliesst, so dass die letztere zu erraten bleibt Eine der-
artige Verständigung ist gleichsam die Vorstufe des Ver-
kehrs, die beschritten zu haben unter Umständen, wenn es
sich um bekannte Dinge handelt, genügt, den anderen m
fait zu setzen und die immerhin das Aufblitzen des spre-
chenden Geistes anzeigt
Das Tier hat auch Vernunft,
das wissen wir, die wir die Gemsen jagen.
Die stellen klug, wo sie zur Weide gehn,
'ne Vorhut aus, die spitzt das Ohr und warnet
mit heller Pfeife, wenn der Jäger naht.
Die Sache hat ihre Richtigkeit, wenn auch dcis Wäch-
teramt nicht offiziell übertragen werden mag: bei jedem
gelagerten Rudel bemerkt man regelmässig eine oder
mehrere aufrecht stehende und um sich blickende Gemsen;
so wie diese etwas Verdächtiges gewahren, zeigen sie dies
durch ein auf weithin vernehmbares, mit Aufstampfen des
einen Vorderfusses verbundenes Pfeifen an, und das Rudel
— 217 —
ergreift, sobald es sich von der Thatsächlichkeit der Gefahr
überzeugt hat, nunmehr sofort die Flucht, wobei immer
eine, wahrscheinlich die älteste Geiss, die Führung über-
nimmt. Dergleichen Einrichtungen sind bei Tiergesell-
schaften gar nichts seltenes: auch eine Kranichherde stellt
regelmässig Wachen aus, denen die Sorge für die Gesamt-
heit obliegt, und wenn die Affen in Trupps durch den Ur-
wald ziehen, so befinden sich immer einzelne Affen im
Vortrab und im Nachtrab, sowie zu beiden Seiten; diese
stossen dann, wenn sie Gefahr merken, laute Schreie aus
und benachrichtigen das Hauptkorps. Bei den Menschen
nennt man das Alarm und Alarmsignale.
Hierher gehören vermutlich auch die Unterhaltungen,
die zwischen Insekten beobachtet worden sind und die,
stumm und lautlos, einigermassen an unsere Pantomimen
oder die Fingersprache der Taubstummen erinnern. Eine
Biene, eine Ameise eilt auf die andere zu, berührt sie mit
den Fühlhörnern und gibt ihr damit ein Zeichen, das diese
wiederum weitergibt. Was bedeutet dieses Zeichen? Wahr-
scheinlich auch nicht eine wirkliche Mitteilung, sondern
nur ein konventionelles Alarmsignal, das wie ein Lauffeuer
durch die Gesellschaft fliegt, denn sofort werden Mass-
regeln ergriffen. Man hat diese gegenseitige Alarmierung,
die der schnellen Verbreitung eines Extrablattes gleicht,
bei den Bienen immer bemerkt, wenn ein Weisel gestorben
ist; bei den Ameisen, wenn ein Krieg mit einem anderen
Volk in Sicht ist.
Ja, es kommt sogar der Fall vor, dass ein Tier einem
anderen, ganz verschiedenen Tiere Wächterdienste leistet,
wie das der sogenannte Krokodilwächter, ein hübscher und
gewandter Vogel, dem Krokodile thut. Plinius erzählt, er
warne das Krokodil vor dem Ichneumon, indem er herbei-
fliege und die Panzerechse teils durch seine Stimme, teils
durch Picken an der Schnauze aufwecke: die Freundschaft
zwischen ihm und dem Krokodil besteht wirklich, und das
Geschrei, welches der kluge Vogel beim Anblicke nicht
— 218 —
gerade des Ichneumons, aber irgend eines ihm fremdartig
oder gefährlich dünkenden Wesens oder Gegenstandes aus-
stösst, erweckt das schlafende Krokodil und veranlasst das-
selbe, sich in die sicheren Fluten zurückzuziehen. Analog
glaubten die Alten, diesmal aber irrigerweise, an ein Freund-
schaftsbündnis zwischen Krebs und Muschel. Die Steck-
muschel oder Pinne sollte in ihrer Mantelhöhle einen rund-
lichen Krebs beherbergen, den sie Finnoteres oder Pinno-
phylax, Pinnenwächter, nannten. Wenn die kleinen Fische,
von denen die Pinne lebt, angeschwommen kommen oder
wenn Gefahr zu befürchten ist, kneipt der mit guten Augen
begabte Krebs die Steckmuschel, damit sie ihre Schalen
schliesse; der Krebs, fügt Plinius hinzu, erhält dann für
seinen Dienst einen Teil der Beute. Also selbst die Krab-
ben, könnte man mit Schiller sagen, haben Vernunft, wenig-
stens in der Fabel.
Es ist nun allerdings schwer auszumachen, inwieweit
diese bald mit der Stimme, bald mit einem Bewegungs-
organ gegebenen Signale der Tiere bewusst, inwieweit sie
unbewusst, als unwillkürliche Reaktionen gegen den eigenen
Schreck, erfolgen, die von selbst zu Warnungen und Be-
nachrichtigungen werden. Die ausgestellte Gemsenvorhut
pfeift — hat man sie wirklich ausgestellt und weiss sie,
dass sie gleichsam ihre Pflicht thut, wenn sie pfeift?
Schwerlich. Wie klug sind die Hunde und wie viel geben
sie uns, ihren alten Freunden, durch Zeichen zu verstehen.
Der Hund scharrt an der Thür und bellt: er will herein-
gelassen werden. Der Hund schlägt an und weckt uns
mitten in der Nacht: ein Dieb schleicht sich in den Hof.
Wir fahren übers Meer und haben einen Neufundländer an
Bord: derselbe wittert das Land in grosser Entfernung und
gibt das durch Bellen zu erkennen. Ja, gibt zu erkennen!
Freilich verstehen wir den Hund, mag er scharren oder
bellen. Aber will er verstanden werden? Regt ihn nicht
der Anblick des Einbrechers, der Geruch des Landes plötz-
lich auf, dass er bellen muss, was dem Menschen dann zu
— 219 —
einem willkommenen Zeichen wird? Auf die Absicht, die
Absicht kommt es an! —
Indessen, es hiesse unsere eigene Sprache bedeutend
überschätzen, wenn wir glaubten, dass alles in ihr berech-
net und vorgesehen sei; das Unbewusste, Instinktive spielt
auch in den menschlichen Äusserungen, die ganz absicht-
lich scheinen, die allergrösste Rolle. Denn wie gesagt,
auch unser Leben ist voll von Zeichen, die keinen selb-
ständigen Inhalt haben, sondern die nur die Absicht be-
kunden, etwas zu sagen, und die dennoch verstanden
w^erden. Wir pfeifen, wir klatschen, wir räuspern uns, wir
pochen und kratzen an der Thüre wie der Hund — vor
ein paar Jahren war in den Zeitungen von einer hohen,
unglücklichen Persönlichkeit zu lesen, wie der Verkehr mit
den unentbehrlichsten Bediensteten bei verschlossenen
Thüren stattfand und wie der erhabene Herr durch Kratzen
an denselben zu erkennen gab, dass er den auf der anderen
Seite Sprechenden verstanden habe. Wie inhaltslos an
sich dergleichen Signale seien und wie eben nichts als die
Absicht in. ihnen zutage tritt, sieht man zum Beispiel an
dem Klopfen, das bei den verschiedensten Gelegenheiten
angewendet wird. Zwei Menschen haben ihr Bett an der-
selben Wand in zwei anstossenden Zimmern. Während sie
darin liegen, wird dem einen ein Glück gemeldet, was der
andere hört. Er bringt seinen Glückwunsch dar, indem er
klopft. Der Glückliche klopft w^ieder: er dankt. Wir
nennen das Sprache, weil die Zeichengeber wirklich wollen,
dass der andere höre und sich etwas aus dem Geräusch
entnehme; daher auch Homer im zehnten Buche der Ilisis,
wie Odysseus und Diomedes in das Lager der Trojaner
eingebrochen sind, der erstere die Pferde des Rhesus weg-
geführt hat und nun den Diomedes davon durch einen
Pfiff benachrichtigt, ausdrücklich dazusetzt, er habe mit
diesem Pfiff gesprochen (QoiCrjae Tticpavaiaov II. X, 502). Der
Premierlieutenant a. D. Quedenfeldt, der im vorigen Jahre
(1887), in der letzten Sitzung der Berliner Anthropologischen
— 220 —
Gesellschaft einen Vortrag über die Ffeifspracke auf der
Insel Gomera hielt, hätte sich auf diesen homerischen Vers
berufen können. Die Insel Gomera, eine der Kanarischen
Inseln, ist von tiefen Schluchten durchfurcht, in welchen
schöne, an Wasserfällen reiche Bäche rauschen; daher Leute,
die sich ganz nahe sind, um zu einander zu kommen und
mit einander sprechen zu können, oft stundenweite Umwege
machen müssen. So bedienen sie sich zur Verständigung
gellender Pfiffe, aus denen sich eine besondere Sprache
entwickelt hat. Schon in einer (Anfang des XV. Jahr-
hunderts von französischen Geistlichen geschriebenen) Histoire
de la dScouverte des Canaries findet sich ein Hinweis auf die
Pfeifsprache, indem von den Bewohnern Gomeras gesagt
wird, sie sprächen mit den Lippen, als hätten sie keine Zunge,
In Wahrheit geschieht das Pfeifen mit den Lippen und der
Zunge; einzelne bedienen sich dabei, wie es auch bei uns
geschieht, eines oder zweier Finger. Namentlich beim Volke
ist dieses Sühar articulado sehr entwickelt. Als Quedenfeldt
mit seinem Führer auf einem Ausflug begriffen war, tönte
ihm aus der Feme ein Pfiff entgegen, den der. Führer be-
antwortete; gefragt, was das bedeute, erklärte letzterer, er
habe auf die Anfrage, mit wem er gehe, geantwortet: mit
einem Engländer, Mit dieser Pfeifsprache kann man die Trom-
melsprache der Eingeborenen in Kamerun vergleichen, die
man unlängst in den Zoologischen Gärten zu hören Ge-
legenheit hatte; beiden Kundgebungen wird man in ihrer
jetzigen Ausbildung die Bezeichnung von Sprachen kaum
versagen können, wenn sie gleich aus reinen, bedeutungs-
losen Weckstimmen 'hervorgegangen sind; während man
ein andermal sogar den Charakter der Weckstimme in
Frage stellen muss. Es gibt genug Fälle, wo man bei den
Menschen, wie bei den Tieren an der klaren Absicht zwei-
feln und an den Instinkt appellieren kann; natürlich darf
man das nur, solange die Zeichen noch nicht durch den
Gebrauch geheiligt, sondern noch ganz ursprünglich und so
herzlich sind wie ein Lockton oder eine Interjektion.
— 221 —
Wir stehen in einer ostindischen Diamanten Wäscherei:
sobald ein Neger einen Diamanten findet, klatscht er in
die Hände. Welch ein natürliches Signal! — der Ausdruck
der Freude, einen so kostbaren Stein entdeckt zu haben.
Aber was der Neger zunächst, so sehr er sich auch eben
dadurch verriet, dennoch halb unwillkürlich that, das thut
er jetzt absichtlich, weil er sonst von dem Aufseher ge-
prügelt wird, weil das Klatschen als konventionelles Zeichen
des Fundes eingeführt worden ist; er soll es sagen, wenn
er einen Diamanten hat, und er sagt es wirklich.
Viele solcher Signale, die, wie das Anklopfen, an sich
selbst noch nicht die geringste Mitteilung enthalten und
nur dazu dienen, die Aufmerksamkeit zu erregen, sind durch
den Gebrauch zu wirklichen Meldungen geworden, die
ihren Zweck nur deshalb erfüllen, weil sie herkömmlicher-
weise zur Anzeige eines bestimmten Ereignisses verwendet
werden; und wie das Anklopfen in England je nach seiner
eigentümlichen Art eine gewisse Aufklärung über die
klopfende Persönlichkeit in sich schliesst, so mag auch die
konventionelle Annonce wieder verschieden gestaltet werden,
um ihre Ausdrucksfähigkeit zu steigern; zum Beispiel bei
den Vorposten im Kriege. Auf diesem Wege wird aus
einem Pfiff die ebenerwähnte Pfeifsprache, aus einem Trom-
melwirbel die Trommelsprache geworden sein; und analog
Hesse sich von einer Kanonensprache, einer Glockensprache,
einer Flaggensprache reden. Die Flaggen und Fernsignale des
internationalen Signalbuchs ermöglichen eine grosse Zahl ver-
schiedener Mitteilungen, gleichviel, welche Sprache geredet
wird; aber schon zu Lande dienen Fahnen zu den kompli-
ziertesten Meldungen. Bei der Entbindung der Königin von
Spanien erfuhr man die Zeichen, durch welche Madrid von
dem Geschlecht des Infanten unterrichtet zu werden pflegt
Ist dasselbe männlich und der zukünftige König des Lan-
des geboren worden, so wird auf der Punta del Diamante
genannten Spitze des Schlosses die spanische Flagge auf-
gezogen und es erfolgt eine Salve von 24 Kanonenschüssen.
- 222 -
Ist es weiblich, so wird eine weisse Fahne aufgezogen und
eine Salve von 15 Schüssen abgefeuert. Erfolgt die Ent-
bindung nachts , so wird am Fuss der Fahnenstange
je nach dem Geschlecht eine rotgelbe oder eine weisse
Laterne angebracht. Die Fahnen und die Laternen erinnern
an die beim Eisenbahn- und Marinedienst gebräuchlichen
farbigen Signale; bleiben wir einmal bei den Kanonen-
schüssen stehen. Ein Kanonenschuss an sich ist nichts —
er sagt uns nichts — wir horchen auf und fragen: was ist
los? — denn niemand kann das erraten. Aber es ist aus-
gemacht, dass geschossen wird, wenn ein Infant geboren
wird; wie anderwärts eine Kanone gelöst wird, wenn der
Kaiser kommt oder wenn die Sonne durch den Meridian
des Ortes geht, das heisst, wenn es Mittag ist; und so gilt
uns das nichtssagende Signal für eine thatsächliche Anzeige,
die durch ihre besondere Modifikation noch ausführlicher
wird. Mit dem Läuten der Glocken ist es gerade so. Ob
der Glockenstrang einfach angezogen, ob die Glocke beim
Sturmläuten mit dem Hammer einseitig angeschlagen wird
— ob zur Kirche oder beim Einzug. des Kaisers geläutet
wird: alles beruht auf Übereinkvvnft. Der Glockenton an
sich ist stumm, ein tönendes Erz und eine klingende Schelle,
der Gedanke kommt erst, wenn der Herr Pastor predigt
Tamtam nennen die Inder, Gonggong die Chinesen ein In-
strument, das, mit einem hölzernen Klöppel geschlagen, einen
dröhnenden Klang gibt; in englischen Familien und in
einzelnen Hotels bedient man sich desselben vielfach zum
Zusammenrufen, zum Beispiel, wenn angerichtet ist. Der
Fremde, der mit dieser Sitte unbekannt ist, hört nur das
Gonggong dröhnen und ahnt höchstens, was der Ton be-
deuten soll, ohne es zu wissen: er muss fragen. Bei den
Wenden in der Oberlausitz hiess es vor dreissig Jahren:
Der Hammer geht herum; das heisst, es wurde vom Dorf-
schulzen ein hölzerner Hammer herumgeschickt und damit
an das Hofthor geschlagen, um die Bewohner zu einer
Gemeindeversammlung, einer sogenannten Hromada, einzu-
— 223 —
laden. Dieser Hammer hiess Hejka und war ursprünglich
ein Kieferholzhaken; und zwar schickte ihn der Dorfschulze
gewöhnlich im Dorfe rechts herum; war aber eine Leiche,
so wurde er abgeschält und links herumgeschickt. Man
kann damit vergleichen, dass bei den Jagden auf der
Schorfhaide die Treiber zum Zeichen, dass sich jagdbare
Hirsche in dem Jagen befinden, mit langen geschälten
Stöcken bewaffnet werden. Und mit den oben angeführten
spanischen Usancen mag man den Brauch der Bauern in
Oberösterreich vergleichen, wonach einer, der Gevatter
bitten geht, während er seinen Spruch hersagt, das rechte
Knie beugt, wenn es ein Knabe, das linke, wenn es ein
Mädchen ist. Was sich die Menschen alles für Grimassen
ausdenken, um sich ein paar Worte zu ersparen, ist fireilich
wunderbar; es ist als ob sie gar keine Sprache hätten,
weder eine Laut- noch eine Geberdensprache. Es ist als
ob sie immer nur auf dem Standpunkt der Tiere ständen,
sprechen wollend und nicht könnend, mühsam einander an-
stossend, ob sie wohl endlich erraten möchten, unfähig,
herauszubringen was sie meinen.
Im gewöhnlichen Vejrkehr begnügen wir uns erst recht
mit Klopfern und mit Schnipsen ohne Kommentar. Der
preussische Landtag wird eröffnet und der Kaiser erwartet.
Nachdem der Ceremonienmeister mit seinem Stabe drei
Stösse auf das Parquet gethan, erscheint Seine Majestät im
Rahmen der Eingangsthüre. Es ist eine Abendunterhaltung
im Weissen Saale des königlichen Schlosses: sowohl wenn
der Kaiser als wenn die Kaiserin kommt, klopft der Cere-
monienmeister oder der Hofmarschall mit seinem Stabe
auf. Will König Richard IL bei Shakespeare den Zwei-
kampf suspendieren? Er wirft seinen Stab hinunter. Will
ein londoner Schutzmann, dass Halt gemacht werden soll?
Er hebt seinen Stab in die Höhe. Will auf einer londoner
Strasse in einer Reihe von Wagen der vorderste Kutscher
stehen bleiben, so hebt er die Peitsche in die Höhe, wel-
ches Zeichen weitergegeben wird. Will uns in London
— 224 —
ein Cäbman eine Fahrt anbieten, so hebt er den rechten
Arm in die Höhe; in Neapel bedeutet man mit dieser Geste
einen Vorübergehenden stehen zu bleiben. Aber man hüte
sich, in diesen Beweg^ungen etwa plastische Greberden und
im eigentlichen Sinne ausdrucksvolle Zeichen zu erblicken:
sie sind in einer Umgebung, wo vielleicht das gesprochene
Wort unhörbar verhallen würde, nur Mittel sich bemerkbar
zu machen und auf die Thatsache, dass man etwas zu sagen
habe, hinzuweisen, aber von den Adressaten unschwer zu
einem wirklichen Befehle zu ergänzen. Der Ceremonien-
meister, welcher mit seinem Stabe aufklopft, sollte eigent-
lich dazusetzen: Macht euch fertig, der Kaiser kommt! — der
Droschkenkutscher, der seinen Arm in die Höhe hebt:
Wollen Sie mit mir fahren, ich hin frei! — und jeder so ein
Sätzchen; aber unser Verstand ist so gross, dass wir dessen
nicht bedürfen.
Wenn wir im Restaurant den Kellner zitieren wollen,
so klopfen wir mit dem Biergleis oder mit dem Deckel des-
selben oder wir machen: Pst! — im Orient klatscht man
dem Kellner; die Alten schnipsten dem Sklaven, indem
sie mit den Fingern schnellten: diese Geste, Crepitus ge-
nannt, brauchen auch wir, um dienende Greister und Hunde
herbeizurufen. Jedes Instrument, jedes Mittel, Spektakel zu
machen, wird ergriffen, wenn unsere eigenen Hände und
Füsse nicht durchdringen. Vor hundert Jahren wurde die
Wiener Stadtpost in der Art betrieben, dass Boten mit
einer Klapper, ähnlich einer Ratsche, durch die Strassen
zogen und klapperten. Hörte man die Klapperpost draussen,
so warf man ihr die zu expedierenden Briefe vom Fenster
aus zu oder hiess den Boten zu sich in die Wohnung
kommen. Ja, man braucht nur in Berlin auf die Bolleschen
Milch wagen zu achten, wie sie von einem Kllin geljungen
begleitet werden, der den Kunden die Ankunft derselben
durch Klingeln meldet*) — man braucht nur in Leipzig
*) Bolle, eigentlicli Bolle, aus einer französischen Refugi^s- Familie,
- 225 —
auf die Strasse zu sehen und zu hören, wie die Hausierer,
die nicht immer ihre Ware ausrufen und die Äppel, Äppel,
Äppel, die Heedelberrn, die warmen weecken Brätzeln oder Sallat
Sallat Radüüschen beim Namen nennen, tausend Weckapparate
und die seltsamsten Mittel, sich bemerklich zu machen, in
ihren Händen haben ; der Holzmann bläst auf einem Feuer-
rohre, der Kohlenmann benutzt ein Timbre, ja, ein Mann,
der mit einem Hundefuhrwerk herumging und, wenn ich
nicht irre, mit Bettstroh handelte, führte eine Maschine aus
Holz mit eisernen Schwengeln, ganz ähnlich derjenigen, die
im kaiserlichen Harem zu Konstantinopel gebraucht wird,
um das Aufstehen, das Schlafengehen und die Mahlzeiten
anzuzeigen. Alle diese Freihändler schlagen gleichsam un-
seren Sinnen Reveille, und diese Reveille ist, wie wir oben
sagten: eine Vorstufe der Sprache.
Nur eine Vorstufe. Mag nun getrommelt oder ge-
pfifiFen, angepocht oder mit Kanonen geschossen werden,
die wahre verständliche Mitteilung steht noch aus, und nur
auf Grund besonderer Übereinkunft kann allenfalls dcis un-
artikulierte Geräusch statt einer solchen dienen; um einen
schon gebrauchten Vergleich zu wiederholen: wenn es
im Telegraphenbureau klingelt, so wird der Beamte auf-
merksam gemacht, aber die Depesche folgt erst nach. Ver-
liert der Empfänger die Depesche oder kann er sie nicht
erraten, so mag es klingeln so viel es will, das hilft
nichts, die Neuigkeit entgeht ihm. Im Gegenteil, er ist
nur neugierig gemacht. Die Reveille an sich gleicht einer
tauben Nuss.
Ist es Dir nicht schon vorgekommen, lieber Leser, dass
Du Deine Freundin oder einen Bruder in Gesellschaft
unter dem Tische leise mit dem Fusse gestossen hast, um
zu erinnern, um zu warnen, aber nicht verstanden worden
bist? — Da Telemach in der Nacht von der Athene die
war der erste, der von der berliner Polizei am Ausgang der siebziger Jahre das
Privilegium erhielt, auf den Strassen zu klingeln.
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 15
-. 22« —
Weisung bekommen hat, Lakedämon zu verlassen, stösst
er seinen Grefährten auch mit dem Fusse, nämlich mit der
Ferse (Xd^) an, um ihn zu wecken, dann sagt er ihm, er
solle anspaimen:
Odyssee XV, 46 £
^EyQio, Tviiog vU! ruft Nestor (Hias X, 158) dem Mo-
medes zu, nachdem er ihn gleichfalls mit der Ferse ge-
stossen hat! Aufgewacht, aufgewacht! — Ja, was können
wir mit unserer Reveille mehr als den schlafenden Ver-
stand aufvirecken?
•«V
Zweites Kapitel.
Offizielle Wiederholung natürlicher
Geberden.
L Die Beredsamkeit des IMarmors.
Die Marmorstatue des Philosophen Condillac — Statuen Typen der Kälte und
Empfindungslosigkeit — sich in eine Statue verwandeln heisst zur Leiche werden
— die Elfenbeinstatue Pygmalions macht eine Ausnahme hiervon — die grie-
chische Bildhauerkunst hat eine Entwickelung durchgemacht, die an das all-
mähliche Auftauen und Erwarmen der schönen Galatea erinnert — versteinerte
Geberden: der Zeus des Phidias, der trunkene Satyr, Harpokrates, Narciss —
Vergleich zwischen Statuen und den Denkmälern Verstorbener — die ersteren
beleben sich allmählich mit dem Fortschreiten der Kunst und fangen an zu
reden — der Wunderglaube des Volkes verleiht den Statuen häufig eine phäno-
menale Beweglichkeit imd schreibt ihnen die Geberden lebender Wesen zu —
die klingenden Statuen auf dem Kapitol, das wiehernde Pferd des heiligen Georg
in Konstantinopel — Don Juan und der Steinerne Gast — aber die Statuen
leben tmd sprechen schon als solche — wir selbst gleichen Marmorstatuen , die
mit Geberden sprechen — Unterschied zwischen unserer Geberdensprache und
der Beredsamkeit des Marmors — die gesprächigen Statuen gleichen Modellen,
an denen wir uns die Sprache ohne Worte deutlich machen, wie sich das Volk
die Weisheit gelehrter Männer an bronzenen Köpfen deutlich macht — jeder-
mann stellt die beste Bildsäule von sich dar — die neunte Statue in dem Mär>
chen aus Tausendundeine Nacht.
Um die Entstehung unserer Vorstellungen zu zeigen
und die sinnliche Wahrnehmung als die Quelle aller
menschlichen Erkenntnis zu erweisen, machte bekanntlich
der französische Philosoph Condillac die Fiktion einer Mar-
io*
— 228 -^
morstatue, der nach einander die einzelnen Sinne gegeben
werden. Zunächst verleiht er ihr den Geruchssinn, worauf
er die Freuden und Leiden, die Wünsche, die abstrakten
Begriffe eines so beschränkten Wesens beschreibt. Dann
bekommt sie den Tastsinn, den Geschmack, das Grehör,
endlich das Gesicht — mit jedem Sinne wird das Seelen-
leben der Statue vollkommener und reicher, bis sie zuguter-
letzt alle ihre Sensationen in der Idee des Ich zusammen-
fasst. Die Fiktion ist geistreich und überaus treffend,
sintemal dem Menschen nichts mehr gleicht als eine Mar-
morstatue und doch die Empfindung bei ihr auf dem Null-
punkt steht.
Statuen sind geläufige und abgebrauchte Typen der
Kälte, der Härte und der Stummheit. Sie steht da wie me
Statue, Er ist zur Büdsävle geworden , wie (in der Schluss-
szene des ersten Aktes des Barbiers von Sevilla durch den
ruhigen Abzug der Wache) der Doktor Bartolo. Es ist ein
schöner Bildstock. Ja, fast möchte man sagen, Statuen sind
Typen des Todes und als solche geradezu dem Leben ent-
gegengesetzt Sich urplötzlich und wirklich in eine Statue
verwandeln ist soviel wie plötzlich zur Leiche werden. Vrd
Lots Weih sähe hinter sich und ward zur Salzsäule, heisst es
I. Mose XIX, 26. Die Königin Niobe, die in ihrem unge-
heuren Schmerze keine Thränen und keine Worte findet,
starr und unbeweglich auf einem Flecke steht, gleicht
einer Statue; da sie aber ein Gott auf dem Berge Sipylus
thatsächlich in eine Statue verwandelt erlöst er sie vom
Leben. Der florentiner Bildhauer Donatello hat zwei präch-
tige, sprechende Marmorstatuen geschaffen, den David oder
den sogenannten Zuccone, will sagen, den Kahlkopfe am
Glockenturm und den Evangelisten Marcus an Orsanmichele.
Beide sind so sprechend, dass man sich wundert, warum
sie den Mund nicht aufthun. Zu dem Zuccone soll Dona-
tello selber gesagt haben: FaveUa! So rede doch! — den
Evangelisten firagte Michelangelo: Marco, percM non mi parli?
Marcus, warum sprichst du nicht zu mir? — Aber Marmor-
— 229 —
Statuen reden und fühlen nimmer. Wenn Diogenes auf
dem äusseren Topftnarkt spazieren ging, pflegte er die da-
selbst aufgestellten Bildsäulen um ein Almosen anzusprechen:
er wollte, so sagte er, lernen, tvie man abschlägt. Und als
die gefeierte Phryne in dem tugendhaften Philosophen
Xenokrates ihren Meister gefunden hatte, bemerkte sie auf-
gebracht, sie komme nicht von einem Manne, sondern von einer
BildsätUe, Von einer Bildsäule, der Condillac ihre fünf Sinne
noch nicht gegeben hatte, der namentlich d£LS abging, was
man den sechsten Sinn nennt. Was sage ich, Condillac?
Der standhafte Philosoph strafte vielmehr eine Statue der
griechischen Sage Lügen, die das gerade Widerspiel von
ihm war: die Elfenbeinstatue des Königs Pygmalion, die
unter dessen glühenden Umarmungen belebt, ja, thatsäch-
lich in Fleisch und Blut verwandelt ward. Cela echaufferait
du marhre! — Aber die schöne Galatea, wie man die Geliebte
Pygmalions getauft hat, ist wiederum für viele Gebilde
typisch.
Die griechische Bildhauerkunst selbst hat eine Ent-
wicklung durchgemacht, die an das allmähliche Auftauen
und Erwarmen dieser Fig^ur erinnert. In der ersten Periode
Starrheit; in der zweiten erhabene Ruhe; in der dritten
Pathos und Leidenschaft. Wie die schöne Galatea fangen
die Statuen des Altertums nach und nach an zu fühlen und
zu leben, und ihr Leben und ihr Gefühl in ausdrucksvollen
Bewegungen zu äussern, die von den Künstlern festgehalten
werden. Mächtige Geberden, Dolmetscherinnen des ver-
borgenen Gedankens, erschüttern die ebenmässige Gestalt
— selbst der Zeus des Phidias, das Weltwunder, war gleich-
sam eine versteinerte Geberde, denn der Vater der Götter
und Menschen war nicht passiv dargestellt, er schien sein
majestätisches Haupt zu neigen, dass die Haarmassen vor-
wärts fielen, diese Auffassung wird durch die Erzählung
Strabos, wonach Phidias seinem Neffen Panänus als die
Quelle seiner Inspiration die bekannten homerischen Verse
nannte, nur bestätigt.
— 230 —
Sprach's und huldvoll nickte mit beiden Brauen Kronion;
Wallend fiel das ambrosische Haar dem ewigen Vater
Über die hohe Stirn; es erbebte der ganze Olympos.
Ilias I, 528 ff.
Je mehr Virtuosität die bildende Kunst gewann, um
so vollständiger schmolz, wenn ich mich so ausdrücken darf,
der Körper unter ihren Händen, um so leichter liess sie die
Gestalten in seelenvollen Zügen, in Geberden und Mienen
sprechen; zumal die menschlichen Gestalten, zu deren sterb-
licher Natur sich eine solche Unruhe besser schickte, als
zur Majestät der Olympier. Harpokrates, der als Gott des
Stillschweigens den Zeigefinger der rechten Hand auf seine
Lippen legt*); der Redner, der den Arm ausstreckt, um
Schweigen zu gebieten; der betende Knabe, der beide Hände
gen Himmel erhebt; der Fechter, der den Finger in die
Höhe hebt und sich für besiegt erklärt; der Zuschauer, der
den Daumen nach unten wendet und den Befehl zur Ertei-
lung des Todesstosses gibt; Narciss, der auf das Echo lauscht
und mit den Fingern nach der Gegend hinweist, woher die
Töne kommen; der trunkene Satyr, der der Welt ein
Schnippchen schlägt — sie alle sind ja Figuren, die gleichsam
leben, im Steine sprechend und ausdrucksvoll im Tode; der
Künstler, der sie schuf und ein ganzes Dasein in einen
einzigen prägnanten Moment zusammenpresste, musste eben
diesen Moment so wählen, dass er möglichst viel sagte und
dem Beschauer möglichst viel zu denken gab.
Wenn wir auf einen Friedhof, in ein Pantheon oder
eine Westminster- Abtei gehen und die gesetzten Denkmäler
mustern, so begegnen wir einer dreifachen Auffassung.
Bald sind die Toten schlummernd, von Todesnacht um-
fangen dargestellt; das war die altchristliche Manier. Bald
wachen sie, befinden sich aber in einem Zustande ernster
Ruhe; dieses Motiv zogen die alten Griechen und Römer
*) Harpokrates, Solin des Osiris und der Isis, war identisch mit Horus,
nämlich Horus als Kind. Er wurde deshalb auch als Kind dargestellt; als
solches steckte er nach Art der Säuglinge den Finger in den Mund. Erst philo-
sophierende Griechen nahmen diese kindische Geberde für ein Gebot zu schweigen.
— 231 —
vor. Bald wiederum hat man sie abgebildet, wie sie im
Leben waren, so dass sie auf uns zuzukommen und mit
uns reden zu wollen scheinen; solche Monumente herrschen
in der neueren Zeit vor. Diese drei Formen, in denen uns
die Verstorbenen auf den Friedhöfen erscheinen, sind auch
die Formen, in denen die Kunst das Leben porträtiert.
Ihre Erstlingswerke blicken uns leblos und glanzlos an wie
eine Leiche. Allgemach werden die Toten auferweckt, sie
beginnen langsam zu leben und zu atmen, aber sie ver-
harren noch regungslos in ihrer Stellung, sie gleichen einem
Wesen, das nicht stumm ist, aber schweigt. Endlich stehen
sie auf und wandeln. Wie? Die Bildsäulen stehen auf?
So wäre denn nicht jede Statue ein Typus der Kälte, der
Stummheit und der Unempfindlichkeit? Gewiss nicht; und
wenn Condillac eine Marmorstatue belebt, so darf er sich
höchstens etwa den Apollo von Tenea oder sonst ein alter-
tümliches Werk aussuchen, das in seiner maskenhaften
Starrheit allerdings einer Bildsäule ähnlicher ist, als einem
Menschen.
Dass die Statuen gleich dem Töchterlein Jairi aufstehen
und wandeln, wäre zwar nichts Seltenes, wenn es nach der
Sage ginge, welche gern Abgötterei treibt und die Ab-
bilder lebender Wesen mit den lebenden Wesen selbst ver-
wechselt. Im Mittelalter erzählte man sich von den Mira-
hüien der Stadt Rom. Das erste war, d£LSS auf dem Kapitol
oder auf dem Kolosseum eherne Statuen der römischen
Provinzen standen, in ihrer Mitte Roma mit einem goldenen
Apfel in der Hand. Sobald sich eine Provinz im Reich
empörte, läutete ihr Stamdbild in Rom ein Glöckchen und
kehrte der Roma den Rücken zu. Avis au lecteur. Tali arte,
setzt der Grrammatiker Ugxitio hinzu, Bomani Trojani mundum
subjugäbant Er hätte statt der Bomani Trojani auch sagen
können: Bomani Byzantini; denn aus Konstantinopel wird
von Nicephorus Gregoras ein analoges Miräbüe erzählt.
In dem kaiserlichen Palaste zu Konstantinopel befand sich
— 232 -
•
seit dem Jahre 1227 ein Gemälde, welches den heiligen
Georg zu Pferde darstellte. Dieses Pferd pflegte laut zu
wiehern, so oft ein Feind die Stadt mit Erfolg zu be-
rennen drohte. Aber überall hat der Wunderglaube des
Volkes den Statuen eine phänomenale Beweglichkeit ver-
liehen, namentlich den Heiligenstatuen, die bald reden,
bald weinen, bald mit dem Finger drohen, bald ausweichen
mussten, wenn eine Kugel geflogen kam : dem heiligen
Januarius in Neapel juckt es in allen Gliedern, ja, eine
seiner Statuen in Pozzuoli bekam sogar einmal die Pest.
Und anderseits heftet sich der Volkswitz mit Vorliebe
an die steinernen Männer, die in der Stadt herumstehen —
es ist schrecklich, was man den achtundzwanzig Bildsäulen
nachgesagt hat, welche das Geländer der Prager Karls-
brücke krönen — der berliner Schusterjunge kann sich nicht
entbrechen, den Freiherm von Stein zu bewundern, weil
er die Hand vorstreckt und sagt: es trippelt schon — und
dem Grafen von Brandenburg die Worte in den Mund zu
legen: mag der Dreck auch fusshoch liegen, mit die Stebbel komme
ich dorch. Immerhin ist das ein Leben, welches den Statuen
nur geliehen wird, indem man für den Augenblick vergessen
will, dass man tote Bildsäulen vor sich hat; es ist ein von
den Originalen erborgtes Leben — ein Leben, an welchem
das steinerne Bild allerdings auf kurze Momente Teil hat,
das aber in dieser Fülle nur Eine Statue besitzt: der Mensch.
Man kennt den Don Juan des Antonio de Zamora, der
eigentlich eine Nachahmung eines Stückes von Tirso de
Molina ist. In Sevilla, einer der üppigsten Städte der ein-
stigen Weltmonarchie, hat ein Edeln>ann aus dem Ge-
schlechte Tenorio die Tochter des Gouverneurs Komtur
UUoa entführt und den alten Herrn im Zweikampf erstochen.
Der Ermordete wird im Franziskanerkloster in der Familien-
gruft beigesetzt, das Denkmal ist ein Reiterstandbild. Don
Juan, dessen Familie hier gleichfalls eine Kapelle hat,
kommt in das Kloster und in einer übermütigen Laune
lädt er den Komtur zu sich auf die Calle de San Leandro.
— 233 —
Der steinerne Mann nickt, wie oben Zeus genickt hat, nur
dass er wirklich den Kopf bewegt: er nimmt die Einladung
an und stellt sich ein: er reicht Don Juan die eiskalte
Hand: er fuhrt ihn an den Ort der ewigen Verdammnis.
Wer hätte den Herrn Gomendador, den Convidado de Piedra,
der in Sevilla noch gezeigt wird, nicht im Opemhause ge-
sehen? Der Augenblick, in welchem sich das Haupt des
steinernen Reiters regt und das erste Zeichen eines ge-
heimen Verständnisses erfolgt, ist ein sehr merkwürdiger
— wir schaudern, wie wir im Zampa schaudern, da die
Marmorbraut den Ring angesteckt bekommt und zukrampft.
Warum erschrecken wir nicht über uns selbst? Denn
wir sind auch steinerne Gäste und unheimliche Pantomimen.
Belebten Bildsäulen gleich, sprechen wir, ohne den Mund
aufzuthun, eine leise, wunderbare Sprache — kein Geräusch,
keine unheilige Stimme stört unsere geisterhafte Unter-
haltung — nur der stumme Gruss, nur der schweigende
Händedruck geht vielsagend hin und her, ein leuchtender
Blick, ein blitzartiger Fingerzeig genügt, die Situation zu
klären, Fragen werden gestellt und Antworten erteilt, in-
dem eine Wimper zuckt: tausiend edle, bildsame Menschen-
leiber gaukeln wie Traumgestalten durcheinander und ver-
körpern ihre heimlichsten Gedanken einen ganzen langen
Tag mit angeborener Plastik; und wenn es Abend wird,
so faltet sich die wandelnde Statue zusammen, ruht von
ihrem Tanze aus und wird, was die Schlafende Äriadne ist,
ein Ebenbild des Todes.
Ich weiss wohl, dass im gemeinen Leben neben dieser
stummen und geisterhaften Unterhaltung die Lautsprache
hergeht, wie ein Tambour neben der Kompagnie. Aber es
wird g^t sein, den Trommelschlag einmal ganz wegzu-
denken, uns gleichsam auf eine stille Insel zu flüchten, wo
nicht mit Worten, sondern nur mit Geberden gesprochen
wird, und zu dem Ende die Menschen für einen Augenblick
als Statuen anzusehen, die sich gleichsam selber formen,
die den unerschöpflichen Bildnergeist in ihrem Innern
— 234 —
tragen und die als solche auf die Sprache ohne Worte
ausschliesslich angewiesen sind. Zwischen Statuen und
Menschen ist, solange die letzteren schweigen, der Theorie
nach kein anderer Unterschied als der, welcher bei Be-
wegungen hervortritt; in der Ruhe gleichen sie sich durch-
aus. Aber sobald es sich um eine lebendige Bewegung
handelt, wird man inne, wie der Marmorstatue die Freiheit
mangelt. Der Mensch führt die ganze Bewegung vom
ersten bis zum letzten Momente aus und durchläuft alle
Stadien derselben ; die Statue ist an einen einzigen be-
stimmten Moment gebunden. Der Mensch, der eine Ge-
berde macht, verwandelt sich in eine ganze Reihe von
Statuen, nämlich in so viel einzelne Statuen, als die Greberde
Momente hat; die Statue stellt nur einen dieser Momente
dar, die übrigen werden vom Beschauer hinzugedacht. Aber
in diesem einen Momente gleichen sich Statuen und Men-
schen wieder ebenso vollkommen wie in der Ruhe.
Wir können daher wohl von einer Beredsamkeit des
Marmors reden, wenn wir die schöne Fähigkeit des Men-
schen, in Mienen und Geberden zu sprechen, bezeichnen
wollen, indem der Marmor diese Fähigkeit gleichfalls und
reiner zu besitzen scheint als wir. Zwar erfolgen unsere
Geberden vollkommener und mit einer grösseren Ausführ-
lichkeit, aber sie werden bei uns fortwährend von Lauten
unterbrochen und mit tönenden Phrasen ergänzt, gleichsam
mit einem Accompagnement versehen, während eine Ver-
sammlung von Marmorbildem , wie ein Klub des Still-
schweigens, jedwede Rede ausschliesst, so dass ihre Ge-
berden sauber und isoliert auftreten. Und wenn dieselben
gleichzeitig, der Beschränktheit des Elementes wegen, kurz
und prägnant sein müssen, erscheinen sie nicht als um so
viel bessere rhetorische Leistungen? Sie geben von unseren
Bewegungen nie mehr als die Quintessenz und erreichen
doch dasselbe, weil sie alles Charakteristische enthalten.
Es versteht sich, dass diese Beredsamkeit nur die natür-
lichen, allgemein menschlichen und allgemein verständlichen
— 235 —
Geberden braucht, nicht solche, die in bestimmten Gesell-
schaftskreisen, zum Beispiel in Taubstummenanstalten, aus-
gebildet und von ihnen vereinbart worden sind, denn daraus
würde der gewöhnliche Zuschauer nicht klug. Und ander-
seits versteht es sich, da es sich um Beredsamkeit handelt,
dass hier nur bewusste Geberden in Frage kommen, welche
eine Mitteilung beabsichtigen, wenn sie gleich die Mitteilung
in keine Satzform bringen. Beredt ist der menschliche
Organismus in allen seinen Mienen, ja sogar schon in den
Zügen des Angesichts und in den Formen des Skelettes,
die alle etwas verraten. Aber beredt im engeren Sinne
wird er erst, wenn er etwas verraten will und er zu dem
Ende die natürlichen Äusserungen reproduziert.
Wild und regellos macht der Naturmensch seinen
Empfindungen Luft, blindlings folgt er den Impulsen des
mächtigen Genius, der ihn wie einen Besessenen durch-
waltet und bald in die Höhe, bald in die Tiefe schleudert.
Auf alles, was ihm vorkommt, hat er eine Antwort, die
mit Natumotwenigkeit erfolgt, sei es, dass er sich vor
seinem Gotte niederwirft, sei es, dass er dem besiegten
Feinde den Fuss auf den Nacken setzt, sei es, dass er den
Freund ans Herz drückt, sei es, dass er vor einem Verräter
ausspeit — das ist seine instinktive imd unüberlegte Bered-
samkeit, auf die bald eine künstlichere folgt. Denn all-
mählich wird er inne, wie gnt diese Äusserungen von allen
Menschen verstanden werden, wie jedermann auf seine Ge-
berden achtet und Schlüsse daraus zieht, und wie er selbst
bei anderen darauf achtet. Er geht also nun systematischer
vor und unterdrückt seine Geberden, wenn sie ihm schaden
können; umgekehrt wiederholt er sie geflissentlich, ohne
dass er von der Natur dazu getrieben wird, wenn er das
für vorteilhaft erachtet. Der Schauspieler auf der Strasse
handelt ganz konsequent und die Berechnung, die er an-
stellt, entbehrt nicht eines gewissen Scharfsinns. Er fühlt
nichts und würde, wenn es nach der Natur ginge, kalt
bleiben wie ein Stein. Aber die Erfahrung lehrt, dass auf
— 236 —
ein gewisses Gefühl eine gewisse Geberde als Reaktion
erfolgt, und es liegt dem Manne daran, andere an sein Ge-
fühl glauben zu machen. Er bringt also die Wirkung her-
vor, damit es so aussehe, als ob die Ursache existiere.
Und indem diese Reproduktion ausdrücklich an die Adresse
des Zuschauers gerichtet wird, entsteht eine absichtliche
Mitteilung, wie sie der Kulturmensch alle Tage macht
Zu derartigen Mitteilungen werden vorzugsweise solche
Geberden benutzt, die plastisch hervortreten und im Auge
einen ausgesprochenen Eindruck hinterlassen — das ist der
Grrund, weshalb sie nicht nur im Steine nachgeahmt, sondern
auch oft geradezu den Statuen selber zugeschrieben worden
sind. Durch nichts können wir doch die Verehrung, die
wir für jemand haben, und die Unterwürfigkeit unter seinen
Willen deutlicher machen, als indem wir uns faktisch vor
ihm verkleinem, den Hut abnehmen und uns verneigen,
und deshalb ist diese Geberde unser stehender Gruss ge-
worden; in China verneigt sich das Volk neunmal vor einem
Mandarinen und der Mandarin neunmal vor seinem Kaiser.
Und abermals, weil diese Geberde so deutlich, so plastisch
ist, hat sie Phidias nicht verschmäht, als er seinen Zeus
modellierte — sie bedeutet hier nicht minder eine Art Unter-
würfigkeit, nur nicht im allgemeinen, sondern in dem beson-
deren Falle des Gewährens und des Erhörens einer Bitte,
was nur scheinbar entgegengesetzt ist; denn der Herr, der
dem Diener einen Wunsch erfüllt und ihm eine Zusage
macht, ordnet sich dem Willen des Dieners gleichfalls unter.
Endlich wird dieselbe Geberde von der Sage dem Komtur
von Sevilla zugeschrieben. Gepriesen sei die Beredsamkeit
des Marmors! Sie ist den tiefsten Bass wert! —
Als der scharfsinnige Junker Don Quixote von der
Mancha zu Barcelona im Hause des Don Antonio Moreno
war, machte sich dieser einen Scherz mit ihm. Er führte
ihn in ein abgelegenes Gemach, in welchem ein Tisch von
— 237 —
Jaspis stand. Auf dem Tische war eine bronzene Büste
aufgestellt, die wie das Brustbild eines alten römischen
Kaisers aussah. Diesen Kopf hatte ein Zauberer gemacht:
er antwortete auf alle Fragen, die man ihm ins Ohr sagte.
Bei einer Probe sprach er in der That und gab nicht nur
Don Quixote und seinem Schildknappen, sondern allen An-
wesenden die merkwürdigsten Aufschlüsse. Es war das
Abenteuer mit dem verzauberten Kopfe, la Äventura de la
üabeza Encantada,
Cervantes hat die sinnreiche Vorrichtung, vermöge
deren die Antworten erfolgten, selbst beschrieben; die
Sache war, dass das Mittelalter an die Existenz solcher
allwissenden Köpfe wirklich glaubte. Nicht weniger als
fünf könnte man namhaft machen, denen in verschiedenen
Ländern Zauberkraft zugeschrieben ward und die nicht
bloss Kunstwerke gewöhnlicher Hexenmeister waren. Nein,
durch den Besitz derartiger Köpfe suchte sich das Volk
das erstaunliche Wissen einzelner Gelehrter zu erklären.
Der kenntnisreiche Albertus Magnus zu Köln fabrizierte
im Xni. Jahrhundert einen irdenen Kopf, der sprechen und
die Miene verändern konnte: er hatte Albert dreissig Jahre
Arbeit gekostet und schliesslich zerbrach ihn sein Schüler,
der heilige Thomas von Aquino, in tausend Stücke. Ger-
bert, der Lehrer Ottos ÜL, nachmals Papst Sylvester IL,
hatte dagegen schon im X. Jahrhundert ein sprechendes
Haupt von Erz gemacht; und ebenso beseiss der englische
Mönch Roger Bacon, der Doctor Mirabilis, im XIII. Jahr-
hundert zu Oxford sein Brazen Head. Ja, von dem letzteren
hat sich bis auf den heutigen Tag die Nase erhalten —
jene eherne Nase, welche man am Thorweg eines Ox-
forder College sieht und nach welcher dasselbe Brazenose
CoUege heisst. Man nimmt an, dass hier ursprünglich ein
Brasenhus oder Brazing Htmse, das heisst ein Brauhaus, ge-
standen habe und dass Brazenose eine Umdeutung des alten
Wortes sei, doch kommt der Name Brazenose Hall für das
einstige KoUegiatgebäude schon in einer Urkunde von
— 238 —
A. D. 1278, der Zeit Roger Bacons, vor; und das Zusam-
mentreffen mit der Sage von dem Brazen Head scheint mir
um so mehr zu beachten , als die Formen Brasenhus und
Brazing House nichts als Hypothesen sind.*)
Aber wie seltsam und ungeschickt ist doch der Ge-
dankengang des Volkes, das solche Märchen erfindet! Es
sieht einen grossen Mann, der in der Natur unendlichem
Geheimnis liest und der, wie man zu sagen pflegt, einen
guten Kopf hat — lieber als ihm den ausgezeichneten Kopf
zu lassen, schreibt es ihm die Verfertigung eines bronzenen
Kopfes zu, der für ihn denkt und ihm das Vergangene und
Zukünftige offenbart! Denn es ist doch gar kein Zweifel,
dass der bronzene Kopf des Roger Bacon im Grunde sein
eigener Kopf ist, der nur gewissermassen vom Rumpfe ge-
trennt und wie eine wunderbare Maschine vor ihn auf den
Tisch gestellt wird.
Wie daran kein Zweifel ist, dass Götzen und Heiligen-
bilder nur einzelne Personen sind, in welche das Original
zerlegt wird. Das menschliche Begriffsvermögen ist so
schwach und der Anschauungen so bedürftig, dass es seinen
Gott verdoppeln und verdreifachen muss, um das Wesen
desselben zu erfassen — es wird uns leichter, die Eigen-
schaften eines Wesens zu erkennen, wenn wir sie gleichsam
abstrahieren und auf Bilder desselben Wesens übertagen —
worauf dann diese Bilder eine Macht über uns gewinnen,
dass wir schier vergessen, woher sie genommen sind. Und
doch ist jedes Bild, und gehörte es zu den Acheropitis,
noch schattenhafter als der Mensch, der doch selbst nur
der Traum eines Schattens ist.
Wenn wir darüber recht nachdenken, so kommen wir
zu dem Schluss, dass die gesprächigen Statuen, an denen
*) Das Haupt des Orpheus, welches der Sage nach nebst seiner Leier von
den Wogen zu den Küsten von Lesbos getragen wurde und hier das blutige
Ende des Cyrus unter den Massageten vorausgesagt haben soll, war kein künst-
liches, sondern das natürliche Haupt des mythischen Sängers, vielleicht wie das
des heiligen Januarius in einer kostbaren Büste eingeschlossen.
— 239 —
wir die Beredsamkeit des Marmors studieren wollten, nur
Modellen gleichen, die ein Zeichenlehrer seinen Schülern
vorlegt; und dass wir uns an ihnen die Sprache ohne Worte
deutlich machen, wie sich das Volk die Weisheit eines
Mönches an einetn bronzenen Kopfe deutlich macht. Mo-
delle sind vorzügliche Lehrmittel, ja, als solche vielleicht
instruktiver als die Natur selbst, aber doch nur Proben und
Beispiele der Natur. So mögen wir an den Statuen sehen,
was die Menschen für Geberden machen, sie lehren das
vortrefflich, sie eignen sich in ihrer steinernen Ruhe viel
besser zu Demonstrationen als lebendige Individuen. Aber
auf die letzteren kommt es an: die Bildsäule ist ja nur eine
Drahtpuppe, die sich anstellt und geberdet, bückt und auf-
richtet, wie es ihr der Mensch vormacht, der sie innerlich
regiert — ihre Beredsamkeit wie die Aarons, der für Moses
zum Volke spricht, aber dem sein Bruder Moses alle Worte
in den Mund legt.
Jedermann stellt offenbar selbst die beste Bildsäule
von sich dar, was denjenigen zum Tröste gesagt sein mag,
denen noch keine gesetzt worden ist und die deshalb ge-
legentlich bei ihren nächtlichen Spaziergängen ein leeres
Piedestal besteigen.
Kennst Du, lieber Leser, die Geschichte des Prinzen Zeyn
Älasnam, der Zierde der Bildsäulen aus Tausendundeine
Nacht? — In der alten Stadt Basra, dem Athen des Orients,
war ein junger König, dem hatte sein Vater acht diaman-
tene Bildsäulen hinterlassen, jede einzelne von unschätz-
barem Werte. Diese acht Bildsäulen standen in einem
unterirdischen Gemach auf goldenen Fussgestellen. Aber
es gab noch ein. neuntes Fussgestell, ebenfalls von gedie-
genem Golde, auf dem lag nur ein Stück Atlas mit der
Inschrift: 0, mein lieher Sohn! Diese acht Bildsäulen zu erwerben
hat mir viel Mühe gemacht, und sie sind sehr schön. Aber Du
musst vjissen, dass es noch eine neunte auf der Welt gibt, welche
sie übertrifft , Sie allein ist mehr wert, als tausend solche, une
Du hier siehst. Willst Du Dich in ihren Besitz setzen, so mache
— 240 —
Dich auf und gehe in die Stadt Kairo. Der König Hess sichs
gesagt sein, er reiste nach Kairo und fand dort einen alten
Sklaven seines Vaters, Namens Mobarek, der ihn unter
mannigfachen Abenteuern auf eine Insel zu einem mäch-
tigen Geiste brachte. Der Schutzgeist des königlichen
Hauses empfing sie gnädig: er war es, der dem verstorbe-
nen König die acht Bildsäulen, eine nach der anderen,
geschenkt und seinem Sohn die neunte, ungleich schönere,
zu geben versprochen hatte. Nun gab er Zeyn Alasnam
auf, ihm eine fünfzehnjährige Jungfrau zu bringen, die noch
von keinem Manne wisse und überdies ausgezeichnet schön
sei; sie zu erkennen, sollte ein Spiegel dienen. Der König
zog denn abermals mit dem alten Sklaven aus, die Jung-
frau ausfindig zu machen imd fand endlich nach langem
Suchen in Bagdad eine, wie sie sein sollte, die er am
liebsten selber behalten hätte, die er aber standhaft genug
war, dem Geist zu überliefern. Dieser war zufrieden und
befahl dem König Zeyn nach Basra zurückzureisen, in dem
unterirdischen Gemache werde er jetzt die neunte Bildsäule
finden. Und richtig, als er zu Hause war und mit seiner
Mutter hinunterging, stand die neunte Bildsäule auf dem
neunten Fussgestelle — es war das schöne Mädchen, das
er mit schwerem Herzen dem Geist überlassen hatte.
Mein König, sprach die Jungfrau zu dem überraschten
Jüngling, Du erwartetest etwas Kostbareres zu sehen, als mich,
und bereust jetzt ohne Zweifel, dass Du Dir so viele Mühe gegeben
ha^st .... wollen wir abwarten, was der König Zeyn Alas-
nam erwiderte oder wollen wir die Antwort für ihn geben?
Wer liesse nicht ein Pio-Clementinisches Museum für die
holde, zitternde und schamhaft errötende Beredsamkeit der
neunten Statue? —
241
II. Plastische Zeichen der Gesinnungen.
Die systematische Darstellung — Zeichen der Liebe: der Kuss, die Umarmung
und der Händedruck — letzterer aus dem Handschlag hervorgegangen — Hand
in Hand — im Mittelalter reichte der Ritter der Dame nicht den Arm, sondern
die Hand — der Nasenkuss der Fidschiinsulaner — Zeichen der Verehrung —
sie laufen auf eine Selbsterniedrigung hinaus — Grade der letzteren : die Nieder-
werfung, das Niederknien, die Verneigung, das Hut abnehmen, das Ausziehen der
Schuhe, das Ausweichen und Platzmachen — wir verfolgen diese Geberden
durch Altertum, Mittelalter und Neuzeit — Beispiele aus der Bibel, historische
Belege, Beobachtungen, die auf Reisen gesammelt sind — Stellungen beim
Gebet — die Adoratio und die IlQogscvvTjCig — Abraham und die drei Engel
— Herzog Rollo und Karl der Einfaltige — der Selam der Türken — Zeichen
der Dankbarkeit: sie fallen vielfach mit den Geberden der Liebe und Ver-
ehrung zusammen — Zeichen des Beifalls: das Klatschen — die Nachsicht:
durch die Finger sehen — Zeichen des Missfallens: sie sehen den Zeichen des
Beifalls oft sehr ähnlich — der Zorn: die Ohrfeige — der Verweis: die Nase
— Zeichen des Spottes: der Storch, das Eselbohren, das Herausstrecken der
Zunge, Homer machen. Rübchen schaben, eine lange Nase machen, ein Schnipp-
chen schlagen — Zeichen der Verachtung: das Ausspeien, das Entblössen des
Gesässes, das Bieten der Feige, das Ausstrecken des Mittelfingers — die Feige
ein Bild der Gebärmutter, die Geberde ein Bild des Coitus.
Nach dieser Exkursion in das Reich der Marmorstatuen,
welche uns auf die angeborene Beredsamkeit des leben-
digen Menschenbildes nur vorbereiten sollte, indem sie uns
dieselbe im Spiegel der Bildhauerkunst zeigte: schreiten
wir jetzt zu einer systematischen Übersicht über die plasti-
schen Zeichen, welche sich die Menschen untereinander von
ihrer jeweiligen guten oder schlechten Gesinnung geben,
und über die bewussten Reproduktionen der natürlichen
Geberden, sofern dieselben eingestandenermassen an die
Adresse des Beobachters gerichtet sind. Wir ordnen die-
selben nach den Gefühlen, denen sie entspringen und die
dadurch, aufrichtig oder nicht, zum Ausdruck gebracht
werden sollen — die Aufrichtigkeit ist am gewissesten,
wenn es sich um feindselige Kundgebungen handelt, hier
wird nicht geheuchelt, wie nur allzuhäufig bei den
A. Zeichen der Liebe geheuchelt wird. Wenn wir einem
Freunde die Hand schütteln, wenn wir ihn beim Wie-
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 16
— 242 —
dersehen küssen und umarmen, streicheln und an uns
drücken, so kommt uns das wohl von Herzen und wir
folgen einem natürlichen Impulse. Aber es wird doch
dabei bezweckt, ihm einen offiziellen Liebesbeweis zu
geben, und der Fall ist ja nicht selten, dass der Beweis
noch beibehalten wird, wenn die Liebe schon erkaltet
ist, ihre Fortdauer gleichwohl durch diese ihre natür-
lichen Äusserungen annonciert werden soll —
in welcher Rücksicht,
obgleich ich ihn wie Höllenqualen hasse,
weil mich die gegenwärtge Lage zwingt,
ich aufziehn muss der Liebe Flaggt und Zeichen.
Jago in Shakespeares Othello (I, i).
So zog schon Judas der Liebe Flagge und Zeichen
auf, als er seinen Meister küsste. Der (a) Kuss, und
zwar der eigentliche Kuss oder der Kuss auf den Mund,
wie ihn die Umarmung, das Embrassement der Franzosen,
mit sich bringt,*) ist immer das vornehmste offizielle
Zeichen der Liebe, respektive der Versöhnung gewesen
und geblieben, er stellt daher auch eine Hauptform der
freundschaftlichen Begrüssung dar. Vergessen Sie mcW,
zu mir auf einen Kaffee und a%kf einen Kuss zu k<miiiim,
schrieb Klopstock an Gleim unterm 1 6. Juni 1750. Weil
der Kuss indessen den bekannten geschlechtlichen Bri-
geschmack hat und von rechtswegen nur am Platze ist,
wenn Amor und Psyche zusammenkommen, so sollten
Männer untereinander und Frauen untereinander spar-
samer mit ihren Küssen sein, als sie es in vielen Län-
dern sind; und die englische Sitte nachahmen, wonach
*) Die Umarmung oder Umhalsung allein, französisch Accolade, ist im
Mittelalter gleichfalls eine offizielle Ceremonie gewesen. Wenn ein Junker in
einen Ritterorden aufgenommen ward, umarmte ihn der Grossmeister des Ordens
oder wer sonst den Ritterschlag erteilt hatte, feierlich, indem er ihm seine Arme
um den Hals (a col) legte. Später wurde Accolade auch für den Akt des Ritter-
schlages selbst gebraucht.
— 243 —
sich nur die nächsten Angrehörigen mit einem Kuss be-
grüssen. Auf mehreren Insebi Polynesiens, den Gesell-
schafts-, den Freundschafts-, den Fidschiinseln küssen
sich die Bewohner nicht mit den Lippen, sondern mit
den Nasenspitzen, welche letzteren dadurch ganz abge-
stumpft werden: auch die Lappen drücken, wenn sie
sich begrüssen, die Nasen fest aneinander: wenn sie's
nicht lassen mögen, können Personen einerlei Geschlech-
tes auch das nachahmen.
Das wäre freilich eine allzufreie, dichterische Er-
weiterung des Begriffs, wollte man, so oft sich zwei
Personen mit den entsprechenden Körperteilen berühren,
von einem Kusse reden: dann würden sich auch die Leute
küssen, wenn sie sich herzen, wenn sie sich liebhaben,
das heisst, die Wangen, die Schenkel, die Knie anein-
anderdrücken , und wenn sie sich die Hände reichen.
Bei dem geistlichen Dichter Spee bedeutet allerdings
Bäcklein wirklich soviel wie Kuss, entsprechend dem
Ausdruck Mäulchen, doch weiss man nicht recht, was er
eigentlich damit meint. Aber alle diese zärtlichen Duale,
welche nach Analogie des Kusses in Szene gesetzt
werden, sind gleich ihm und nächst ihm hergebrachte
Beweise der Liebe und Freundschaft Sein Händedfitck
und ach, sein Kuss! — — Zumal der (b) Händedruck,
der nicht seitlich auf die Finger, sondern vermittels
des Daumens auf den Rücken der Mittelhand wirken
und von einem kräftigen Stoss nach unten begleitet
sein soll (englisch to shake hands toith). Die Sitte, sich
beim Kommen und Gehen die rechte Hand zu drücken,
ist uralt; iv ö' aga ol g)v xblqLj gleichsam ikre Hände ver-
wuchsen miteinander, liest man häufig bei Homer, und
schon bei den alten Römern waren, wie man aus antiken
Medaillen sieht, zwei verschlungene Hände (dextrae)
Symbole der Gastfreundschaft und der Eintracht. Es
gibt wohl Leute, die ihre Briefe zu schliessen belieben:
wU herzlichem Oruss und deutschem Handschlag Ihr ergehener
16*
— 244 —
N. N. Dazu wäre zweierlei zu bemerken. Erstens, dass
man sich nicht bloss in Deutschland, sondern in ganz
Europa die Hand zum Abschied gibt, sintemal auch der
Franzose seine Briefe schliesst: je vous serre la main und
der Italiener: vi stringo la mano, oder ricevete una stretta
dl mano; den Händedruck nennen die Franzosen: une
poignee de main. Überall gilt Heines Wort: wem zwei
von einander scheiden, so geben sie sich die Hand, Zweitens,
dass Handschlag etwas anderes ist als Händedruck,
nämlich nicht ein Zeichen der Freundschaft, sondern die
altherkömmliche Bekräftigung eines Versprechens, eines
Gelübdes, eines Ehe Verlöbnisses, die man auch einfach
als Handtreue bezeichnet; noch heute werden bei der
Reichstagswahl Protokollführer und Beisitzer von dem
Wahlvorsteher mittels Handschlags an Eides Statt ver-
pflichtet, und beim Handel, namentlich auf" Viehmärkten,
kommt der Handschlag als Zeichen des erfolg^ten Ver-
tragsabschlusses häufig vor. Allerdings gehen beide
Geberden, Handschlag und Händedruck, vielfach inein-
ander über, denn nicht nur, dass der Handschlag ge-
legentlich für einen Gruss, auch der Händedruck wird
wieder gelegentlich im Sinne eines Gelöbnisses ge-
nommen;
wann einst fromme Herzen deutsch sich finden,
ohne Eide, mit dem Händedruck
werden sie hier Treue binden,
sagt der alte Arndt in seinen Gedichten. Aber gerade
die Amdtschen Verse leiten uns vielleicht zu einer rich-
tigen Auffassung des Verhältnisses, in welchem die bei-
den Gesten zu einander stehen. Der iniiige Zusammen-
hang beider leuchtet ja ein, und es ist sehr wahrschein-
lich, dass der Handschlag als Gelöbnis das Ursprüngliche
darstellt, der Händedruck als Zeichen der Liebe das
Sekundäre, der Gruss aus dem Versprechen hervorge-
gangen ist Zuerst hat man sich die Hand darauf ge-
geben, dass man etwsis thun, etwas leisten, etwas kaufen
\
— 245 —
wolle, dass ein Geschäft abgeschlossen sei; dann hat
man sich durch den Handschlag zu Schutz und Trutz
verbündet, sich ewige Freundschaft und ewige Treue
versprochen, sich verheiratet und verlobt: bei Huldigun-
gen nach Lehnrecht faltete der Mann die Hände und
der Herr nahm sie zwischen die seinigen, und einer Dame
seine Hand anbieten ist ja gerade soviel wie um sie freien
und sie zur Ehe hegehren. Endlich reicht man sich die
Hand zum Grusse, indem man die Versicherung bei
jeder Gelegenheit erneut: toir wollen Freundschaft halten.
Der Händedruck ist ein Handschlag, nur durch die all-
zuhäufige Wiederholung abgeschwächt und verblasst —
ein heiliges Versprechen, das zum Grusse erhoben wird
— nicht sowohl ein Zeichen der Liebe selbst, als viel-
mehr ein Liebesschwur. Und dieser feierliche Liebes-
schwur, diese, wie es formelhaft genannt wird, hand-
gehende Treue scheint zwar allen Nationen und allen
Zeiten bekannt gewesen zu sein. Aber zu einer stehen-
den Form der Begrüssung mögen sie erst die Deutschen
benutzt und als solche in den romanischen Ländern
Mode gemacht haben, denn ein Gruss durch Handgeben
wird meines Wissens weder in der Bibel, noch im rö-
mischen Altertum erwähnt*) Noch heute begrüssen sich
ja die Türken und die Araber nicht mit einem Hand-
schlag; Hand in Hand gehen habe ich junge Musel-
männer zum Beispiel in Kairo, in dem Esbekiye-Garten
oft gesehen. Wenn bei uns ein Pärchen Hand in Hand
geht, so denkt man, es sind Geschwister oder Liebes-
leute: wie Friedrich Wilhelm Gotter in seinen Gedichten
sagt:
*) Manum dare heisst: einem die Hand reichen, um ihn zu führen; wohl
auch: sich ergeben oder für überwunden erklären. Dexteram ferre war soviel
wie Handschlag leisten. Manum conserere, dem homerischen (pvvcu iv XElQecoi
scheinbar so ähnlich, bedeutet doch etwas ganz anderes, nämlich: handgemein
werden. In der Bibel kommt allerdings der Händedruck als Gruss nicht vor,
doch der Handschlag als Gelöbnis wird erwähnt: Sprüche XVII, i8.
— 246 —
die frühe sich verloren hatten,
begegnen sich im Abendschatten
und gehen Hand in Hand zur Ruh.
Vor Jahrhunderten konnte es auch blosse Höflich-
keit sein, dass der Ritter die Dame bei der Hand nahm.
Im Mittelalter und noch lange nach dem Mittelalter
reichte der Herr der Dame nicht den Arm, sondern die
Hand, wenn er sie zu Tische oder zum Tanze führte;
das Fassen unter den Arm galt für bäuerisch. Ich
möchte auch sagen, dass ein Hand-in-Hand ein anmuti-
tigeres, gleichsam vornehmeres Bild gewährt als ein
Arm-in-Arm.
B. Zeichen der Verehrung. Da man, wie die Welt läuft,
noch häufiger seine Hochachtung darzuthun hat als seine
Liebe; da das Gefühl der Demut nicht bloss für den
Umgang mit den Menschen, sondern auch für den täg-
lichen Verkehr mit dem höchsten Wesen bestimmend
ist: so sind die Zeichen der Verehrung unter allen osten-
tativen Geberden vielleicht die wichtigsten und am meisten
ausgebildeten. Soviele ihrer aber auch sein mögen, alle
laufen sie auf ein imd dasselbe Prinzip hinaus, das nur
bald mehr, bald minder vollständig durchgeführt wird:
das Prinzip der Selbsterniedrigung. Die Komplimente
aller Sorten, von dem freundlichen Kopfnicken des Euro-
päers bis herab zu dem demütigen Grusse des Japaners,
der seine Sandalen auszieht und die rechte Hand in den
linken Ermel steckt, als worauf er die Arme langsam
an den Knien herabgleiten lässt und in ängstlichem Tone
ausruft: Augh! Äughf Füge mir kein Leid zu! — sind nur ver-
schiedene Grade einer einzigen Grundgeberde, mit der man
sich selbst erniedrigt und den anderen erhöht. Wer den
ersten Buckel machte, sagt ein geistreicher Schriftsteller, dem
die furchtsame Geberde des Japaners vorgeschwebt haben
mag, muss sich vor einem Schlag ins Gesicht gefürchtet hohen
Er muss wenigstens, können wir hinzufügen, die Über-
macht eines Wesens empfunden haben, das ihn allenfalls
— 247 —
schlagen konnte: denn vor einem solchen beugen wir
uns unwillkürlich, es ist, als ob einer, der uns in seiner
Gewalt hat, auch leiblich grösser wäre, es ist, als dürften
wir nicht so gross sein, wenn wir es etwa sind. Die
Majestät hat etwas Niederdrückendes, wir kriechen in
uns zusammen, wir fühlen uns wie Zwerge einem Riesen
gegenüber — bei wenigen Begriffen schmeckt die ur-
sprüngliche sinnliche Anschauung so vor, wie bei den
Begriffen Hoch und Niedrig. Daher denn die Selbst-
verkleinerung, welche diesen Eindruck mit Bewusstsein
widergibt und die Unterwürfigkeit, die Ergebung in den
fremden Willen sprechend malt. Tigranes, erzählt Plu-
tarch in seinem Lehen des LucMtis, Tigranes hatte immer
vier Könige als Trabanten bei sich, die, während er ritt,
in kurzen Hemden nebenherliefen und wenn er auf
seinem Throne sass und Audienz erteilte, mit gekreuzten
Armen, nicht unähnlich den Statuen gefangener Barba-
ren, tiefgebückt um ihn standen, indem diese Haltung toie
eine die Knechtschaft auszudrücken y Lehen und Person der
Willkür des Herrn preiszugeben schien (XXI, lo). Wenn ich
in China bin und auf einem Pferde sitze und einem
gleichfalls reitenden Mandarin begegne, so werde ich
absitzen — wenn ich in Rom bin und in einer Droschke
fahre und dem Heiligen Vater begegne, so werde ich
aus dem Wagen springen — ja, hiermit noch nicht zu-
frieden, werde ich als guter Katholik dem Papste zu
Füssen fallen und ihm den Pantoffel küssen. Da haben
wir noch in unserer Zeit und in Europa jenen höchsten
Grad der Selbsterniedrigung, der im Orient von jeher
üblich und die älteste Form der Begrüssung gewesen ist.
a) Die Niederwerfung. Als der heilige Bernhard A.D.
1 1 1 3 mit dreissig Gresinnungsgenossen nach Citeaux
zog, um in den Cisterzienserorden zu treten, warf sich
die heilige Schar an der Pforte des Klosters vor dem
Abt Stephan auf die Erde und flehte unter Thränen
um Aufnahme. Wenn heutzutage ein Reisender in
- 248 —
Frankreich der Grossen Trappe einen Besuch abstattet,
wird er umgekehrt von den Mönchen gleich einem
Gott bewillkommt: sie werfen sich die Länge lang
vor ihm auf den Boden. Sie folgen hierbei dem Bei-
spiel Abrahams (i. Buch Mose XVIII, I— 16). Als der Pa-
triarch im Haine Mamre vor der Thür seiner Hütte
sass, erschien ihm der Herr in Menschengestalt, be-
gleitet von zwei Engeln, den Dienern seines Zornes
gegen Sodom. Wie Abraham die drei Männer er-
blickte, lief er ihnen entgegen und bückte sich nieder
auf die Erde, das heisst, er fiel auf seine Knie und
neigte dann seinen Körper tiefer und tiefer, bis er
mit der Stirn den Boden berührte. Diese Art der
demütigen Verehrung war in der That beim Gottes-
dienste wie beim Götzendienste Regel; doch darf man
zweifeln, ob Abraham seinen Freund Jehovah gleich
erkannt hat. Zwar die griechischen Maler, und mit
ihnen Rafael, haben, im Einklang mit den Worten der
Liturgie, die drei Gäste des Abraham für die heilige
Dreieinigkeit selbst genommen; doch glaube ich kaum,
dass Abraham die drei göttlichen Personen selbst zu
bewirten sich vermass. Wenigstens beweist dcis seine
Begrüssung nicht — die Niederwerfung war auch im
Verkehr mit den Menschen obligat und die her-
kömmliche Form, Gäste zu empfangen, Königen Ehr-
furcht zu bezeigen. Gleichstehende seiner besonderen
Hochachtung zu versichern; gelegentlich wurde sie
dreimal und siebenmal wiederholt. Dazu kam meist
das Umfassen der Knie imd der Füsse und das Küssen
des Bodens, auf welchem der Gewaltige stand, wohl
auch das Küssen der Füsse selbst. Diese Sitte herrschte
noch zur Zeit Christi, wie man nicht nur aus den zahl-
reichen Fällen, in welchen sie gegen die Person des
Erlösers selbst beobachtet wurde, sondern auch aus
der Parabel von dem Unbarmherzigen Knechte sieht
{Evangelium Matthäi XVIII, 26). Selbst der Hauptmann
- 249 —
Cornelius machte dem Apostel Petrus keine geringere
Reverenz, doch wollte sie Petrus nicht annehmen,
weil er auch ein Mensch sei, umsoweniger, als der
Römer die Niederwerfung nicht gewohnt war {Apostel-
geschichte X, 25).
Während nämlich der fussfällige Gruss nicht bloss
bei den Hebräern, sondern auch bei den Babyloniem,
den Persem und im ganzen Osten vorkam, wussten
die freien Griechen und die stolzen Römer in der
guten Zeit nichts von einer Demütigung, die etwas
Sklavisches hatte, nicht einmal den Göttern gegen-
über: den ersteren, welche sie ÜQogzvvrjaig nannten —
noch heute klingt dieses griechische Wort in den
Proscinemi der römischen Katakomben wieder, man
nennt so die Gebete und Anrufungen, welche die
Pilger auf dem Wege zu berühmten Grüften in die
Wände gekritzelt haben — fiel dieselbe namentlich
am persischen Hofe auf. Als die beiden edlen Spar-
taner Sperthias und Bulis im Jahre 485 v. Chr. nach
Susa reisten, um sich dem König Xerxes vorzustellen,
und die Garden sie zwingen wollten, sich vor der
Majestät in den tiefsten aller Stäube zu werfen, sägten
sie, die noch dazu für ein Verbrechen ihrer Vaterstadt
bestraft werden sollten, trotzdem unerschrocken, wie
die Protestanten im römischen Vatikan: sie würden das
nie thun, denn sie beteten keinen Menschen an {ov ydg og>i
€v v6^(^ elvav avd-QWTtov Ttqoo'KvveBiv. Herodot Vll, 136).
Alexander der Grosse, der in Asien ein asiatischer
Despot ward, wollte auch die IlQogytvvrjaig einführen,
die er von den Makedonien! selber forderte, stiess
aber bei denselben auf heftigen Widerstand, der Philo-
soph Kallisthenes eiferte laut gegen diese Schmach.
Analog verlangten nachmals auch die römischen
Kaiser die orientalische Ädoratio: auch vor ihnen
musste man sich auf die Erde werfen und ihnen
Füsse und Knie küssen; und zwar war es Diokletian,
— 250 —
der A. D. 290 statt der Salutatio die Ädaratio einfiihrte
und damit die kaiserliche Herrschaft dem orientalischen
Despotismus näherte. Wenn ein Unterthan nach end-
losen Schwierigkeiten zur geheiligten Person des
Kaisers zugelassen ward, musste er, welches auch sein
Rang sein mochte, niederfallen, den Fusskuss leisten
und nach persischer Manier die Gottheit seines Hemi
und Meisters anbeten. Diese Sitte erhielt sich im
Oströmischen Reiche bis zum letzten Ende der grie-
chischen Monarchie. Ausgenommen die Sonntage, an
welchen man sie aus Bigotterie erliess, wurde die
demütige Reverenz von allen gefordert, die Audienz
erhielten, von gekrönten Häuptern und von Gesandten
unabhängiger Staaten, von den Gesandten der Kalifen,
der Könige von Italien und Frankreich und der rö-
misch-deutschen Kaiser. A. D. 968 ^oirde Liutprand,
ein Italiener aus longobardischem Geschlecht, Bischof
von Cremona, von Kaiser Otto I. nach Konstantinopel
gesandt, um beim Kaiser Nicephorus für Otto 11. um
die Prinzessin Theophania zu werben. Er vergab dem
Freiheitssinn des Germanen und der Würde seines
kaiserlichen Herrn nichts, dennoch konnte er sich den
despotischen Zumutungen, welche die Etikette bei
seiner ersten Audienz stellte, nicht entziehen. Als er
sich dem Throne näherte, wirbelten die Vögel des
goldnen Baumes ihre Noten, dazu brüllten die beiden
goldnen Löwen. Mit seinen beiden Begleitern ward
Liutprand angewiesen, sich zu beugen und niederzu-
fallen: dreimal berührten sie den Boden mit der Stirne.
Er stand auf, mittlerweile war der Thron durch eine
Maschinerie bis zur Decke gehoben worden, die kai-
serliche Figur erschien in neuem Glänze, ein majestä-
tisches Schweigen schloss die Erscheinung ab. Die
Beherrscher der alten Reiche vererbten ihren An-
spruch wieder den römischen Päpsten und den deut-
schen Kaisem, ja, noch viel kleineren Potentaten.
— 251 —
Als der nordische Seekönig Rollo A. D. 911 Karl
dem Einfältigen von Frankreich für die Abtretung
der Normandie den Lehnseid leistete, sollte er dem
König den Fuss küssen; der stolze Herzog weigerte
sich und rief die englischen Worte: Ne se hi Godf
Nimmer hei Gott! — woraus angeblich der Ausdruck
bigott entstanden ist. Schon schien der Abbruch der
Verhandlungen unvermeidlich, als einige Hofleute
dem Herzog die Hände nahmen und sie mit Gewalt
in die Hände des Königs legten, zu mehr war er
nicht zu bewegen, er schlug an sein Schwert und
wiederholte: Ne se hi Godf — Wie die Franzosen
sahen, dass nichts mit ihm auszurichten sei, wandten sie
sich an einen seiner Offiziere, der sollte die Ceremonie
zu Ende bringen; aber der, nicht minder stolz als der
Herzog, nahm den Fuss des Königs und zog ihn,
ohne sich zu bücken, bis an seinen Mund hinauf, so
dass er den ganzen Mann vom Stuhle zog und sich
der Monarch auf die Erde setzte. Jetzt wäre die
Sache beinahe ernst geworden, aber die Hofleute
wussten wohl, dass Karl nicht bloss einfältig, sondern
auch schwach war, und es blieb ihnen nichts übrig
als gute Miene zum bösen Spiele zu machen.
Unsre Kaiser wären keine Germanen gewesen,
wenn sie dieses Gefühl nicht zu würdigen verstanden
hätten, sie duldeten den Fusskuss mehr als dass sie ihn
gerne sahen, ja, Maximilian I. und Karl V. protestierten
förmlich dagegen, die zweifelhafte Ehre den römischen
Päpsten überlassend, welche sie seit Gregor VII. (A.
D. 1077) als ihr Privilegium betrachteten, ja, eben von
den Kaisem selber erwiesen haben wollten. Wirklich
haben die deutschen Kaiser den Päpsten nicht bloss
den Pantoffel geküsst, sondern auch wie Reitknechte
den Steigbügel gehalten, zuerst Kaiser Lothar III. dem
Papst Innocenz IL zu Lüttich, A. D. 1130, sodann
Friedrich Barbarossa dem Papst Hadrian IV. zu Sutri
— 252 —
A. D. 1155 und dem Papst Alexander III. zu Venedig
nach der Niederlage bei Legnano, A. D. 1177. Heut-
zutage wird der Fusskuss fürstlichen Personen vom
Papste meist erlassen, während ihn der gemeine
Katholik nach wie vor zu leisten hat Weltlichen
Grossen küsst man in unsem Kreisen höchstens die
Hand oder nach polnischer Art die Schultern oder,
kindliche Schauer treu in der Brust , den letzten Smm
des Kleides, wie es die Böhmen thun.
Bei den slavischen Nationen kann man die alte
Sklaverei noch heute beobachten. Der Russe wirft
sich zu den Füssen seines Väterchens nieder, um-
klammert dessen Knie und küsst sie; der Pole ver-
neigt sich bis zur Erde oder wirft sich ebenfalls dem
Herrn zu Füssen. Desgleichen bei andern, fernen,
halb- oder unkultivierten Völkern. Die Abessinier
fallen bei der Begrüssung auf die Knie und küssen
die Erde. Auf der Insel Ceylon legt man in gewöhn-
lichen Fällen die flache Hand an die Stirn und ver-
beugt sich tief dabei; vor einem Vorgesetzten aber
wirft man sich auf die Erde und spricht dessen Namen
und Titel wohl fiinfzigmal aus, während der erhabene
Herr gravitätisch vorüberschreitet und kaum mit dem
Kopfe nickt. Ein andermal wird die Niederwerfung nur
angedeutet, indem der Grüssende Erde und Stime mit
der Hand berührt, so zum Beispiel in Bengalen. Die
Bewohner der Marianneninseln dagegen malen sie
womöglich noch widerlicher aus — sie lassen sich
gleichsam treten; das heisst, sie fassen den Herrn
beim Fuss und reiben sich mit dem Fusse das eigene
Angesicht,
b) Das Niederknien ohne Beugung des Oberkörpers,
jetzt die gewöhnliche Haltung beim Gebet, namentlich
beim Bussgebet und bei der Bitte um Verzeihung;
im Alten und im Neuen Testamente häufig erwähnt,
zum Beispiel bei Salomos Tempelweihe (2. Chronica vi, 13)
— 253 —
und bei Stephan! Steinigung (Apostelgeschichte vir, 59); von
den Aposteln geboten: dass in dem Namen Jesu sich
beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel, und auf
Erden, und unter der Erde sind (Philipper ii, 10). Von dem
frommen Apostel Jakobus dem Jüngeren berichtet
die Tradition, er sei Tag für Tag im Tempel gesehen
worden, wie er Gott auf den Knien um Vergebung
für sein Volk bat, sodass die Haut über der Knie-
scheibe hart wurde wie die Haut eines Kamels. Sonst
entsteht bei Personen, die viel knien, eine Wasser-
sucht des Schleimbeutels am Kniescheibenband (eng-
lisch House-maidS'knee, Scheuerfraüenknie).
Die Kniebeugung oder die Genufleocio wurde von
den ersten Christen als Symbol von Adams Fall
betrachtet, daher auch am Sonntag, dem Tag der
Auferstehung Christi, und in der Osterzeit unterlassen:
Die Dominica, sagt Tertullian in seinem Buche De Corona,
nefas dudmus de geniculis orare, eademque immunita/te a die
Paschae in Pentecosten usque gaudemus. Doch ist sie offen-
bar nur eine Milderung, ein Rest der Hauptgeberde,
der vollständigen Niederwerfung, und selbst dieser
Rest wird gewöhnlich nicht vollständig ausgeführt.
Daher finden wir die Kniebeugung nicht bloss bei
den Israeliten, sondern auch bei den Heiden, nicht
bloss in der Römisch-katholischen, sondern auch in der
Anglikanischen Kirche und nicht bloss Gott gegen-
über, sondern auch den Menschen. An den Stufen
des Jupitertempels auf dem Kapitol, in welchen als
dankopfernder Sieger einzuziehen ein fast übermensch-
liches Glück erschien, beugte der stolze Cäsar ehr-
furchtsvoll seine Knie, um so demütig hinaufzuklimmen,
genau so wie die Romfahrer noch heute die achtund-
zwanzig Marmorstufen der Treppe, die einst zur jeru-
salemer Landpflegerschaft führte und die der schmer-
zensreiche Erlöser hinaufgestiegen sein soll, gegen-
wärtig in Rom in der Nähe des Lateran, auf den
— 254 —
Knien zu ersteigen gehalten sind. Die Russen be-
trachten es für unschicklich, auf den Knien zu Gott
zu beten, und auch die modernen Juden beten nie
anders als stehend. Man erinnert sich noch an den
mehrjährigen, im bayrischen Landtage ausgefochtenen
Streit, welcher A. D. 1838 darüber entstand, ob auch
die protestantischen Soldaten die Knie zu beugen
hätten, wenn sie dem Sanctissimum auf der Strasse be-
gegneten, zum Beispiel bei der Fronleichnamsprozession.
Da Petrus auf Jesu Geheiss das Netz ausgeworfen
und eine grosse Menge Fische gefangen hatte, fiel
er, wie es im Evangelium heisst, dem Erlöser zu den
Knien und sprach: fiierr, gehe van mir hinaus, ich hin
ein sündiger Mensch (Lucä V, 8). Es kann niemand wun-
dernehmen, wenn die Kniebeugiing , wie die voll-
ständige Niederwerfung, gelegentlich auch mensch-
lichen Gröttem geleistet wird. Als Cortez in der Stadt
Mexiko ankam, wurde er von Montezuma als Herr,
von den Einwohnern als Gott empfangen: sie knieten
in den Strassen nieder, wenn ein spanischer Bedienter
vorüberkam. Ja, selbst in europäischen Ländern war
bis in die neuere Zeit hinein das Knien an der Tages-
ordnimg. Lit de justice hiess der erhabene Sitz, auf
welchem die alten Könige von Frankreich, umgeben
von ihren Baronen und Pairs, Gericht hielten. Wer
mit dem Könige sprach, war es nun ein Deputierter
des dritten Standes, war es ein Mitglied des Parla-
mentes, war es ein Gerichtsbeamter, ja der Kanzler
selbst, der that es, ein Knie auf der Erde. Auch die
stolzen Engländer näherten sich ihren Königen nicht
anders als kniend, und man erinnert sich der Szene
aus Shakespeares König Heinrich dem Ächten, wo sich
die gefallene Königin Katharina über einen Boten
entrüstet, der in der Eile eingetreten ist, ohne die
Knie zu beugen (IV, 2). Heutzutage kniet man nur
noch im höchsten Affekt und oft vor seinesgleichen
— 255 —
— auf den Knien bittet der Sohn der Mutter das
begangene Unrecht ab — auf den Knien, die Knie
des Mächtigen umfassend, bittet vielleicht die Schwe-
ster ihren Bruder, einem geliebten Manne das Leben
zu schenken — auf den Knien beschwört die Freundin
ihren Freund, nicht auf seinem Willen zu bestehen,
sie nicht unglücklich zu machen, nachzugeben. Und
je seltener die Geberde Menschen gegenüber ist, um
so tieferen Eindruck macht sie.
c) Die Verneigung, bald mehr, bald weniger tief, häufig
mit dem Kuss der Hand verbunden, das Kompliment
oder die B&verence par excellence*) Hier wird die Ge-
berde noch mehr abgeschwächt, gleichsam nur ange-
deutet — dass dies die auf die vorige folgende Stufe
ist, sieht man schon daraus, dass das weibliche Kom-
pliment, der sogenannte Knicks y noch in einer Knie-
beugung besteht. Aber diese Abschwächung ist, wie
aus Josephs Träumen, wo sich die Garben und die
*) Kompliment j italienisch CompHmento , französisch Cotnpüment, von dem
italienischen Zeitwort coinplire = (lat.) complcrey bedeutet eigentlich Erfüllung,
Vollendung; konkret das was eine Sache vollmacht und fertig macht, wie wir
sagen karnpleitierty gleichsam das Pünktchen aufs i. Das italienische Compimento
hat denselben Sinn, es kommt ebenfalls von dem lateinischen cotnplerey das sich
in compiere und compire verwandelte. Wenn man nun erwägt, dass im Italie-
nischen un uomo compito einen vollendeten Weltmann, französisch un hotnme
accofnpU; compitezza die vollendete Erziehung und Lebensart bezeichnet: so er-
scheint es als das natürlichste, auch complimento für die vollendete Höflichkeit
und weiter für diejenigen Geberden und Worte zu nehmen, in welchen sich
diese vollendete Höflichkeit erweist, das heisst für das einzelne Kotnplitnent» An
eine Erfüllung der gesellschaftlichen Pflichten, wie sie Webster, oder an eine
Komplettierung der Liebesbeweise, wie sie Nicolö Tommaseo meint, indem er
sagt: il complimento dovrebb* essere cofnpimento alle prove di cordialitä, ma so-
vente n*e il supplemento — wird meines Erachtens nicht gedacht. Littr^ Er-
klärung ist unklar. Im Französischen bedeutet Complitnent nicht eine Verbeugung,
sondern nur die höflichen Worte, die man bei besonderen Gelegenheiten an eine
Respektsperson mündlich oder brieflich richtet; die Verbeugung, wie sie der
Tanzmeister lehrt, heisst Reverefice, italienisch River enza, und es ist dies einer
der Fälle, wo die Deutschen ein französisches Wort in unangemessener Bedeu-
tung aufgenommen haben.
— 256 —
Sterne vor ihm neigen, hervorgeht, ebenso alt wie die
ausgeführte Niederwerfung. Man darf annehmen, dass
die letztere immer nur eine besonders feierliche Art
der Begrüssung gewesen ist, dass man sich dagegen
in gewöhnlichen Fällen nur verbeugte, wie das heute
noch allerorten und im Mbrgenlande selbst geschieht.
Der Staub ^ den du trittst ^ sei geküsst und auf mein Haupt
erhoben! — Mit diesem Selam verbeugt sich der An-
kömmling in der Türkei tief vor seinem Pascha, wäh-
rend die Rechte den Boden, dann Brust, Mund und
Stirn berührt — der Paspha schlägt beide Arme über-
einander, legt sie auf die Brust und bückt sich wieder
— der Ägypter streckt die Hand aus, legt sie auf
seine Brust und neigt den Kopf, auf den er, wenn er
besonders artig sein will, die ausgestreckte Hand legt,
nachdem er sie geküsst hat — die Hindu berühren
mit der rechten Hand die Stime und beugen den
Kopf — die höflichen Perser machen ihren Gästen
die ehrfurchtsvollsten Komplimente. Und so finden
wir das Neigen des Kopfes auch in Deutschland,
schon zur Zeit des Nibelungenliedes, wo sich Siegfried
vor Kriemhilde fleissig verneigt (v. Aventiure, 293) — fleissiger
noch, als es ein neuer Gesandter vor dem deutschen
Kaiser thut, denn er hat doch bei seinem Empfange
nur die drei Hofverbeugungen zu machen. Die erste,
nachdem er die Thürschwelle überschritten hat Die
zweite in der Mitte des Saales. Die dritte, wenn er
sich an den Kaiser wendet.
Die Selbsterniedrigung bei einer einfachen Ver-
neigung ist geringer als bei der Niederwerfung; das
Prinzip bleibt dasselbe. Fiesko! ruft Verrina, mein Geist
neigt sich vor dem deinigen — mein Knie kann es nicht! —
Es ist doch bezeichnend, dass es heisst, wenn einer
sich verbeugt: er muche einen Diener,
d) Das Hutabnehmen, der schwächste Grad, selbst
dieser oft genug nur angedeutet. Man hat gesagt, der-
— 257 —
selbe sei nur als eine mechanische Folge der Vemeigung
zu betrachten, indem dabei die Kopfbedeckung von
selbst abfalle: ich glaube das nicht; denn gerade in
den Zeiten, wo die Vemeigung am tiefsten ging,
findet sich von einer Entblössung des Hauptes keine
Spur, man beobachtet sie auf Bildwerken erst im
XV. Jahrhundert, zum stehenden Gruss wurde sie erst
im XVII. Jahrhundert. Und doch ist die Sitte, Hüte zu
tragen, in Europa ziemlich alt und wenigstens bei den
Römern nach dem Tode Neros ganz allgemein gewesen.
Eher Hesse sich hören, dass das Hutabnehmen nur eine
symbolische Bedeutung habe, indem der Hut bei den-
selben Römern ein Zeichen der Freiheit gewesen sei,
das die Sklaven bei ihrer Freilassung erhielten — wenn
ein Sklave freigelassen war, wurde ihm das Haupt
geschoren und ein weisser, ungefärbter Hut aufgesetzt.
Nach Cäsars Ermordung setzten Brutus und Cassius
den Pileus der Freigelassenen zwischen zwei Dolchen
auf Münzen, was die Republik der Vereinigten Nie-
derlande nach Abwerfung des spanischen Joches nach-
gemacht hat. In der französischen Revolution führten
bekanntlich die Jakobiner die Phrygische Mütze, weil
die Statue der Freiheit eine solche hatte. Den Hut
abnehmen wäre demnach soviel als sich der Freiheit
wiederum begeben. Doch ist es wohl das AUernatür-
lichste, das Hutabnehmen als eine Fortsetzung der
Hauptgeberde und als eine äusserliche Verkürzung
der Existenz aufzufassen, die man vor jedem Heiligen-
bilde und vor jedem Dominus Reverendus in Scene
setzt. Lord Byron nahm den Hut vor der Stadt
Florenz ab, als er zum ersten Mal auf die Piazza della
Sighoria trat; dies ist um so mehr anzuerkennen, als
der Engländer sonst den Hut fast nie beim Grusse
abnimmt, ihn auch an allen öffentlichen Orten, in
Läden, Restaurants, Museen, ja, selbst im Theater auf-
behält, wie der Jude in der Synagoge.
17
Kleinpaul, Sprache ohne Worte.
— 258 —
Der Chinese lässt zum Zeichen der Ehrfurcht
seinen Zopf, wenn derselbe aufgewickelt ist, über den
Rücken fallen.
e) Das Ausziehen der Schuhe. Aus der Bibel wissen
wir, dass es ein Zeichen der Ehrerbietung war, bei
der Annäherung an einen heiligen Ort oder eine
heilige Person die Schuhe abzulegen oder entsprechend
dem hebräischen Ausdruck abzuwerfen ih'Q}^)', daher der
TT
(2. Mose III, 5) Mose und der (josua V, 15) Josua gegebene
Befehl. Demgemäss sollen die Priester im Tempel
ihres Amtes barfuss gewaltet haben; ja die Talmu-
disten verboten es männiglich, in Schuhen durch den
Tempel zu gehen. Sothanes Zeichen der Ehrerbietung,
welches ein Pendant zu dem heidnischen Hutabnehmen
bildet, war nicht auf das Judentum beschränkt: wir finden
es im Altertum beim Dienst der Cybele in Rom, so-
wie (nach einem Gemälde aus Herculanum) bei dem
Dienst der Isis und überhaupt bei ägyptischen Priestern
wieder. In der Neuzeit legen bekanntlich die Moham-
medaner ihre Schuhe beim Betreten einer Moschee
und namentlich beim Betreten der Kaaba in Mekka
ab; ebenso thun es die Jeziden Mesopotamiens, wenn
sie das Grab ihres Patrons besuchen, und die Sama-
ritaner auf dem Gipfel des Bergs Garizim bei Sichern.
Auch die Gewohnheit der heutigen Ägypter, ihre
Schuhe abzulegen, wenn sie den mit Teppichen beleg-
ten lAwan betreten, scheint mehr auf einem Gefühl der
Ehrfurcht, als auf Reinlichkeitsliebe zu beruhen, denn
dieser Raum dient zum Beten. Übrigens war das öffent-
liche Barfussgehen im Altertum zugleich ein Zeichen von
Trauer und heftiger Bewegung, das uns hier nichts angeht.
f) Das Ausweichen und Platzmachen, im Gegen-
satz zu dem burschikosen Rempeln. Nicht gerade eine
Selbsterniedrigung, wohl aber ein freiwilliges Nach-
stehen und das Aufgeben eines Vorteils oder Rechts
zu gnnsten eines anderen.
— 259 —
C. Zeichen der Dankbarkeit. Ein Diener, der seinen
Herrn flehentlich um etwas bittet, wirft sich wohl vor
ihm nieder und umfasst seine Knie; ist er erhört worden,
so kniet er vielleicht abermals und küsst seinem Wohl-
thäter inbrünstig die Hände. Überhaupt wird man beob-
achten, dass sich die Geberden der Liebe und Verehrung,
die für den Umgang mit Menschen zunächst bestim-
mend sind, mit besonderer Deutlichkeit bei Bitten und
Danksagungen wiederholen, sintemal gewöhnliche Leute
ihre Vorgesetzten am sichersten lieben und verehren,
wenn sie von ihnen eine Wohlthat oder eine Gnade
empfangen haben, und umgekehrt die Hoffnung eine
solche zu empfangen, gemeiniglich Veranlassung wird,
Liebe und Verehrung zu erweisen. Deshalb sind die
meisten Grüsse zugleich Zeichen der Dankbarkeit. Wir
verneigen uns ebensogut, wenn wir einer vornehmen
Frau begegnen, als wenn wir an ihrem Tische sitzen
und sie uns fragt, ob sie uns noch ein Stück Braten
reichen soll; wir drücken einem Freunde nicht nur beim
Wiedersehen die Hand, sondern auch, wenn er uns
einen Dienst erwiesen hat, und der Maure legt seine
beiden Hände den Tag über wohl zwanzigmal kreuz-
w^eise über die Brust, ohne dass man weiss, will er uns
seiner Treue oder seiner Ergebenheit oder seiner Dank-
barkeit versichern.
Der verstorbene Prinz Friedrich Karl pflegte zu
danken, indem er die Hand aufs Herz legte — noch in
seinen letzten Augenblicken bediente er sich dieser sin-
nigen Geberde, da man ihm Papier und Blei gebracht
hatte, um an Seine Majestät zu schreiben. Er hatte sie
vielleicht von seiner orientalischen Reise mitgebracht,
denn auch der Araber legt die Hand auf die Brust,
wenn er uns Selam aleikum zuruft; endlich legt man auch
beim Schwüre die Hand aufs Herz, mit dieser Geberde
leisteten sonst die Frauen ihre Eide. In allen drei Fällen
soll auf den vermeintlichen Sitz der Seele hingewiesen
17*
— 260 —
werden: der Araber will sagen: mein Wunsch kommt mir
von Herzen; die schwörende Frau will sagen: meine Worte
und Gedanken stimmen Oberein; der Prinz will sagen: ich
werde den geleisteten Dienst flicht vergessen. Dank ist ja
etymologisch nichts anderes als Denken; wer dankt, denkt
an das Gute, das er empfangen hat, und fühlt sich dafär
verpflichtet, erst später folgt der Ausdruck dieses Ge-
fühls durch Worte und Handlungen. An sich ist die
Pantomime nur ein stummer Appell an die Gesinnung,
die leider nicht selbst gezeigt werden kann; von den
Umständen hängt es ab, ob der Zuschauer an die Treue
des Gedächtnisses oder an die Aufrichtigkeit des Wun-
sches oder an die Wahrheit der Aussage zu glauben
hat. Für den Dcink, wenn derselbe gleichsam das Gefühl
und die Gesinnung selbst ist, eignet sie sich allerdings
vorzugsweise, denn sie protestiert gegen jene Unab-
hängigkeit des Herzens, die Undankbarkeit genannt wird.
D. Zeichen des Beifalls , etwas lauter als die vorigen,
was sich daraus erklärt, dass sie durchgängig systema-
tisch wiederholte Freudenausbrüche sind. So vor allen
Dingen das Klatschen, das Claguer der Franzosen, das
Ftaudere der Römer, das im römischen Theater von dem
letzten Schauspieler ausdrücklich gefordert ward: Nunc,
spectatoreSf clare plaudite! — Es ist bekannt, dass dies die
letzten Worte des sterbenden Kaisers Augustus waren.
Die Erklärung ist leicht: zunächst klatscht man vor
Lust, wohl auch vor Verwunderung, um sich gleichsam
des Eindrucks zu erwehren, in die Hände; dann gibt
man damit ein offizielles Zeichen der Befriedigung. Aber
in der Freude strampelt man auch mit Händen und
Füssen; daher gibt das Publikum im Theater seinen
Beifall auch durch lebhaftes Pochen kund, namentlich
in England (beating with the feet), imd daher mögen auch
die Studenten das Kommen und Gehen beliebter Docen-
ten in den und aus dem Hörsaal, ja ihre Vorträge selbst
mit Trampeln begleiten.
— 261 —
Andere Beifallsbezeigungen scheinen einfache Ehren-
bezeigungen zu sein, denjenigen analog, die wir oben
als Zeichen der Verehrung namhaft machten. Ob man
sich selbst erniedrigt oder den Anderen erhöht, läuft
auf dasselbe hinaus; wenn also die Bulgaren im Mai
1886 Karawelow, den Führer der nationalen Partei, unter
begeistertem Hurra nach Landessitte mit ihren Fäusten
packten und in die Luft hoben, dass sein breitkrämpiger
Calabreser davonflog: so war das sogut und vielleicht
nur noch drastischer, als wenn sie sich vor Karawelow
niedergeworfen hätten. Wenn dagegen, wie es vorge-
kommen ist, die leipziger Studenten, von dem muntern,
schelmischen und naiven Spiel einer Hedwig Raäbe hin-
gerissen, am Schluss der Vorstellung, nachdem sie gehörig
geklatscht haben, den Wagen der Schauspielerin ausspan-
nen und ihn eigenhändig ins Hotel ziehen: so ist das
wiederum sogut, als ob sie Hedwig Raabe in den Him-
mel höben, denn sie machen sich selbst zu ihren Pferden.
Nur werden solche Ehren den Helden des Tags nicht ein
für allemal, sondern bloss bei einzelnen Gelegenheiten
erwiesen, wenn sie eben besonderes Wohlgefallen er-
regt und besonderen Dank verdient haben, und das ist
der Grund, warum wir die Zeichen des Beifalls, wie die
der Dankbarkeit, unter eignen Nummern bringen; der
Sache nach stimmen sie mit den vorigen Nummern so
ziemlich überein.
Ein geringerer Grad des Beifalls ist die Nachsicht,
bei der man etwas Unrechtes geschehen lässt, das man
verhindern könnte und das man wohl bemerkt, aber
wozu maji ein Auge zudrückt. Wir wollen freundlich
durch die Finger sehen^ verspricht Leonore von Este ihrem
Bruder, dem Herzog von Ferrara, da derselbe zu ver-
stehen gibt, er werde bei dem allgemeinen Geliebele
auch kein Kostverächter sein {Torquato Tasso I. 2). Was
will sie damit sagen? — Auch die Tochter Noahs, die
sogenannte Vergognosa di Pisa (auf dem Gemälde Benozzo
— 262 —
Gozzoli's im Campo Santo zu Pisa, welches die Trunken-
heit Noahs darstellt) hält sich die Finger vor die Augen,
indem sie nach der Scham ihres entblösst daliegenden
Vaters hinlugt; sie sieht im eigentlichen Sinne durch die
Finger, aber gewiss nicht im Sinne der Prinzessin Leo-
nore. Die Vergognosa ^\H[11 etwas sehen, sie heuchelt nur
Schamhaftigkeit. Die Prinzessin will im Gegenteil nichts
sehen, um nicht einschreiten zu müssen; wenn sie sich
die Finger vor die Augen hält, so thut sie es, um sich
am Sehen zu hindern und nicht ordentlich zu sehen; sie
könnte ebensogut die Augen schliessen (xarai^veiv) oder
wenigstens blinzeln (connivere) und wie wir oben sagten
ein Äuge zudrücken. Aber welche Komödie! Es wäre
doch viel einfacher, überhaupt nicht hinzusehen und die
Augen von vornherein abzuwenden ! Ja, aber durch diese
Komödie wird etwas erreicht. Das wird erreicht, dass
einerseits den Sündern gegenüber offiziell Straflosigkeit
zugesichert, anderseits den andern gegenüber die Parole
der Nicht-Intervention und des Gewährenlassens ausge-
geben wird. Wer gar nicht hinsieht, von dem kann
^man nicht wissen, wie er sich verhalten würde, falls er
sähe. Wer durch die Finger sieht, der sagt: Meinetwegen
könnt ihrs thunf Wir wollen euch nicht stören! —
E. Zeichen des Missfallens. Wenn die Zeichen des
Beifalls Freudenausbrüche sind, so entspringen die Zei-
chen des Missfallens einer lebhaften Ungeduld. Beide
können sich sehr ähnlich sehen und doch verschieden
sein. Dieselben Studenten, die ihren Professoren tram-
peln: scharren und pochen, wenn ein Fremder eintritt
oder ein Bursche, der im Verschiss ist; dasselbe Publikum,
das in einem londoner Theater beifällig pocht, wird in
Lissabon mit den Füssen scharren, mit den Stöcken auf-
klopfen und eine sogenannte Pateada machen, die ein
Zeichen der Missbilligung ist. Natürlich, man stampft
ja im Zorne mit den Füssen. Die alten Grriechen machten,
wenn ihnen ein Stück, ein Schauspieler oder Redner
— 263 —
missfiel, das, was sie in ihrer Sprache xkoiKeiv nannten
und was wohl ein dentaler, durch Anschlagen der Zunge
an die Alveolen der Oberzähne hervorgebrachter Schnalz-
laut war, wie die Engländer sagen a dental duck; auch
wir bringen denselben zu Hause in der Unzufriedenheit
hervor, und namentlich lieben ihn die Italiener, die
gleichzeitig mit dem rechten Zeigefinger eine abwehrende
Bewegung machen und damit nicht sowohl zu tadeln,
als vielmehr ein einfaches Dementi zu geben pflegen;
die Franzosen und Spanier haben dem Laut die vollere
Form Ta, Ta, Ta, Taf gegeben, sie wollen damit einen
Verirrten warnen und auf eine drohende Gefahr auf-
merksam machen. Gewisse Zeichen des Missfallens
dürften geradezu den Scheucherufen zu vergleichen sein,
die wir in dem Kapitel über Interjektionen kennen ge-
lernt haben. Wenn wir in einer Volksversammlung
zischen oder pfeifen, so klingt es, eis ob wir den Vor-
tragenden durch das Geräusch wie ein lästiges Tier, wie
eine Fliege vertreiben wollten. Die Schlangen geben
allerdings ihrem Zorne durch ein heiseres, langanhal-
tendes und nur auf Augenblicke unterbrochenes Zischen
Ausdruck, sie pfeifen wohl auch. Aber sollten wir von
den Schlangen zischen und pfeifen gelernt haben? —
Als Christus dem Hohenpriester nicht mit dem
Respekt antwortete, der ihm gebührte, gab ihm einer
der Umstehenden eine Ohrfeige oder, wie es Luther
edler ausdrückt, einen Backemtreich (Evangelium Johannis xvili,
22); wenn heutzutage einem Beamten, sagen wir dem
Friedensrichter Tosini in Florenz, etwas verwiesen wird,
so heisst es, er bekomme eine Nase, Man kennt das
Hebeische Rätsel:
Gott gibts im Mutterleib, ein andrer aufs Papier;
Das eine putzt oft uns, das andre putzen wir.
Aber was ist das für eine sonderbare Art Verweis, die
Nase? — Die Lexikographen haben wundersame Er-
- 264 -
klärungen. Sie leiten den Ausdruck von der angeblichen
Sitte her, dem Empfänger einer Rüge eine bunte Nase
von Pappe aufzusetzen — sie erinnern an die lange Nase,
mit welcher der Genaste abzieht, an das lange GesicM,
das er in seiner Beschämung mafht, wie die Franzosen
sagen: ü allonge le nez; die Nase wird ja, wie wir früher
einmal (auf Seite 113) selbst bemerkten, gar häufig für
das ganze Gesicht genommen. Indessen, dass ein Ver-
weis deshalb eine Nase genannt worden wäre, weil der
Empfänger darnach eine lange Nase machte, scheint
mir etwas weit hergeholt; und was die Pappnase anbe-
trifft — wer hätte sie denn dem Empfanger des Verweises
aufgesetzt? Doch nicht etwa derjenige, der den Verweis
erteilte? — Höchstens etwa das schadenfrohe Publikum,
das doch das zehntemal von dem Verweise gar nichts
weiss, auch keineswegs immer damit zufrieden ist. Das
Ganze würde nach der Schule schmecken, in welcher
auch Hörner und Eselsohren aufgesteckt werden, und
viel mehr dem Spotte über den Verweis als dem Ver-
weise selbst entsprechen. Wie viel natürlicher ist es
doch anzunehmen, dass die Sache. wie bei Christus ge-
wesen sei und dass derjenige, der jetzt eine Nase
schwarz auf weiss bekommt, ursprünglich faktisch eins
auf die Nase, einen Na^enstreich oder einen 'Nasenstüher
erhalten habe! — Ohrfeigen und Nasenstüber werden
als Strafen oft zusammengenannt. Ganz analog gibt der
Franzose einem eins auf die Na^se, wenn er ihn ausschelten
will: donnei^ sur le nez ä quelqu^un, einen ins Gesicht
schlagen, ist soviel wie le tancer,
F. Zeichen des Spottes. Der lateinische Dichter Persius
deutet in drei Hexametern die drei Geberden an, mit
denen sich die antiken Gassenjungen über die Menschen
hinter ihrem Rücken lustig machten. Die erste war der
Storch; die zweite das Eselhohren; die dritte das Heraus-
strecken der Zunge nach Art eines lechzenden apulischen
Hunds.
— 265 —
O lane, a tergo quem nulla ciconia pinsit,
Nee manus auriculas imitari mobilis albas
Nee linguae, quantum sitiat canis Appula, tantae!
(Satirae I, 58 ff.).
Der Storch oder die Ciconia bestand darin, dass man
den Zeigefinger wie den Hals eines Storches auflichtete
und krümmte ; diese Geberde , auf deutsch einem den
Storchschnäbel stechen, ist uns nicht mehr recht bekannt,
auch nicht mehr recht verständlich. Das Eselhohren war
eine Geberde des Mittelalters, darin bestehend, dass man
einem mit den Fingern Eselsohren deutete oder drehte
und, wie die Schwaben sagen, mit gabelförmig ausge-
streckten Fingern ein Gäheli machte; aber nicht mit dem
Hörner machen weiter unten zu verwechseln. Bei dem
Schiessen zu Coburg A.D. 1614 war oben auf der Spitze
der Zielstatt ein Männlein angebracht, welches nach
einem guten Schuss eine Fahne schwenkte, dem schlech-
ten Schützen höhnend einen Esel bohrte. Bei anderen
Freischiessen geschah es wohl, dass der Pritschenmeister,
wenn er die Preise verteilte, zuletzt den Unglücklichen
rief, der den weiten Schuss gethan hatte. Er hielt ihm
eine höhnende Anrede, doch, sagte er endlich, ich merke,
ihr seid ein guter Christ, ihr wollt anderen auch was Übrig
lassen. Darum, liehe Vexatoren, nehmt euch seiner an, pfeift
ihm einen hübschen Reihen vor, und bohrt ihr ihm Esels-
ohren, so seid anständig und thuts hinter seinem
Bücken! — Der Esel muss ja häufig herhalten, die
Menschen zu beschimpfen, nicht bloss in Worten, sondern
ganz eigentlich: der Kaiser droht, den Abt von St. Gal-
len auf einem Esel verkehrt, statt des Zaumes den Schwanz
in der Hand, durchs Land führen zu lassen; faule Schüler
mussten einen hölzernen Esel reiten, einen gemalten
Esel umhängen, papierne Eselsohren aufstecken, und
noch spät war der Eselritt eine Strafe für Soldaten.
Dass man das Nachmachen von Eselsohren mit den
Fingern gerade Eselbohren nennt, hat einen bildlichen
— 266 —
Sinn. Die Redensart entspricht der anderen: einem defi
Esel stechen oder den Gauch, das heis^ den Narren, stechen:
der Gehöhnte wird durch die Geberde wie mit einer
Nadel angestochen, dass der Esel herauskommt, wie der
Eiter aus einem Geschwür.
Die dritte Geberde, das Herausstrecken oder
Blecken der Zunge geht noch heute durch ganz
Europa (italienisch trarre la tingua, französisch tirer la
langue ä quelqu^un, spanisch sacar la lengua ä alguno). Man
kann sich verschiedenen Erklärungen zuneigen, eventuell
sogar einer obscönen: am ungezwungensten scheint mir
folgende zu sein. Das Ausreissen und Ausschneiden
der Zunge ist früher bei den Deutschen eine nicht allzu
seltene Strafe, namentlich für Verleumder und Verräter,
gewesen. Der Gassenjunge nun, der die Zunge heraus-
streckt, fordert gleichsam neckend die Strafe heraus, da
er sich aber in Sicherheit weiss, wird diese Herausforde-
rung zum Hohn. Schon im Alten Testament, bei den
Assyrern, Babyloniem und anderwärts, kommt diese
Strafe, die rkwaaorof/la, mittellateinisch Linguatio, das ist
ElingnatiOy vor: der König Antiochus befahl dem ältesten
unter den sieben Brüdern, die kein Schweinefleisch essen
wollten, die Zunge auszuschneiden {2. Mäkkabäer VII, 4);
Judas Maccabäus liess dem Nicanor die Zunge aus-
schneiden und den Vögeln geben {J2, Mäkkabäer XV, 33).
In Italien machen die Kinder Pfötchen zum Hohn:
sie nennen das far pepe, wörtlich Pfeffermachen, weil man
die Fingerspitzen zusammenliält, wie wenn man in die
Pfefferbüchse greift und Pfeffer nehmen ,will. Von Haus
aus macht das Kind sein Pfötchen, wenn es vom Schul-
meister mit dem Panter Schläge darauf bekommen soll.
Diese Geste wiederholt es nun spottweise, wenn es in
Sicherheit ist.
An diese Gesten schliessen sich noch folgende an:
a) Hörner machen, französisch faire les cornes ä quelqu^^''^,
italienisch far le corna. Die Geberde, die auch zur
— 267 —
Abwehr des Bösen Blickes dient, besteht darin, dass
man gegen einen, dem man trotzt, zum Beispiel gegen
den Lehrer, den Zeigefinger und den kleinen Finger
ausstreckt, während die drei übrigen Finger einge-
bogen werden. Man könnte glauben, es sei dies eine
Andeutung von Hörnern, wie vorhin von Eselsohren,
soviel wie: Du bist ein Bindvieh; wirklich werden ja
wohl auch Kindern, die nichts gelernt haben, Papier-
hömchen hinter die Ohren gesteckt, wie vorhin pa-
pieme Eselsohren (mettre des cornes ä un enfant). Doch
scheint es mir natürlicher, die Sache so zu erklären,
dass derjenige, welcher Hörner macht, die Homer
bietet, wie der zum Kampfe bereite Stier. Der Spanier
sagt estar de cuerno con alguno, um auszudrücken, dass
man schlecht mit jemand steht, ebenso der Ita-
liener: pigliare uno sulle corna. An das Aufsetzen von
Hörnern ist jedenfalls nicht zu denken,
b) Rübchen schaben, auch Möhrchen schaben, ein
Ausdruck der Schadenfreude, darin bestehend, dass
man den Zeigefinger der linken Hand mit dem der
rechten Hand wie ein Rübchen oder Möhrchen schabt,
wobei man dem Verspotteten zuruft: Ätsch I Ätsch! —
Dieses Ätsch erinnert an die Interjektion Autsch f, die
bei lebhaft empfundenem sinnlichen Schmerze ausge-
stossen wird; und die ganze Geberde scheint auch
wirklich den Schmerz oder Ärger malen zu sollen,
der am Herzen des Unglücklichen nagt, wie das
Messer an der Rübe oder wie die Feile am Metall.
Das letztere Bild brauchen die Kinder in Italien,
welche dieselbe Geberde haben, aber dabei rufen:
Lima, limal Vello, Vello! das heisst: Feile, Feile! Siehe
ihn, siehe ihn! — Lima, Feile, hat im Italienischen in
der That die Bedeutung einer verzehrenden Leiden-
schaft, ja sogar einer lästigen, gleich einer Feile wir-
kenden Person; dergleichen Übertragungen, die an
die psychologischen Metaphern von oben erinnern, stecken
• • * *
— 268 -
den Italienern und allen Menschen tief im Blute.
Man kennt den Ausdruck Tribulation für Plackerei,
Not und Drang-sal, lateinisch tribtUatio, italienisch tribo-
lazione. Er kommt von dem lateinischen TriMum,
worunter ein schwerer, hölzerner, unten mit eisernen
Stiften und spitzen Steinen versehener Dreschschlitten
verstanden ward; derselbe, der von Ochsen über das
ausgebreitete Getreide hin- und hergezogen wurde,
ist noch jetzt im Oriente vielfach in Gebrauch. Bei
uns selbst, wo das Getreide bisher gewöhnlich mit
dem Dreschflegel bearbeitet wurde, hat dreschen nicht
nur den Sinn von schlagen und durchprügeln, sondern
auch den von quälen und plagen angenommen: es hmn
wohl sein, sagt Goethe, dass der Mensch durch öffentliches
und häusliches Geschick zu Zeiten grässlich gedroschen wird,
allein das rücksichtslose Schicksal, wenn es die reichen Gar-
ben trifft, zerknittert nur das Stroh, die Körner aber spüren
nichts davon und springen luftig auf der Tenne hin und
wieder, unbekümmert, ob sie zur Mühle, ob sie zum Saatfdd
wandern. Das Wort Tribulum ist jedenfalls von terere,
reiben, herzuleiten, aus welchem Begriffe auch die
kirchlichen Ausdrücke Ättrition, Reue, und Kontriti<m,
Zerknirschung, gezogen sind — alles grobsinnliche
Bilder für die Betrübnis einer Seele.
c) Einem eine lange Nase machen, französisch faire
un pied de nez ä quelqv/un, die höhnende Geste, wobei
man die ausgespreitete Hand mit dem Daumen an die
Nasenspitze und den Daumen der andern Hand an
den kleinen Finger der ersten Hand anlegt. Viel-
leicht soll dadurch dem Verspotteten abermals die
lange Nase, mit der er hat abziehen müssen, seine
enttäuschte, verlängerte Miene vorgemacht werden
(vergleiche unter E. Nase als Verweis), Möglich aber
auch, dass es der Hohn eines Mannes ist, dem die
Nase hat abgeschnitten werden sollen, der sich aber
in Sicherheit weiss. Denn das Abschneiden der Nase
*r •
te •
tl
• ■ • •
— 269 —
war in früheren Zeiten, wie das Ausschneiden der
Zunge, eine nicht allzuseltene Leibesstrafe,
d) Einem ein Schnippchen schlagen, indem man mit
dem Daumen und dem Mittel- oder Zeigefinger
schnalzt, wie der trunkene Faun von Herkulanum im
Museum von Neapel, lateinisch digitis concrepare. Wir
haben die Geberde schon auf Seite 224 als einen
Weckruf kennen gelernt; hier ist sie ein Zeichen, dass
man sich aus jemand, respektive aus seinen Schelt-
worten nichts macht und dass man nicht mehr darum
gibt als diesen Schnalz, der völlig wertlos ist. In
diesem Sinne pfeift man auch auf die Welt, hustet man
auf die Welt — ich werde dir was hupten, sagt die
Jungemagd zu dem verliebten Knecht, der einen Kuss
von ihr haben möchte, und wenn du mir drohst, so gehe
ich darum keinen Schnips! — So war schon der letzte
König von Assyrien Sardanapal nach einer weitver-
breiteten Sage auf seinem Grabe zu Anchiale als ein
Mann abgebildet, der mit den Fingern schnipst und
ausruft: Iss wnd trink und mache dir gute Tage, aUes
übrige ist Schwindel und nicht soviel wert! Beliqtia ne
digitorum quidem crepitu digna sunt! —
Die Sprache ohne Worte ist reich an Wendungen,
die dem leidigen Spotte dienen. Sie bringt der bejahrten
Witwe, die sich wieder verheiratet, eine Katzenmusik,
sie treibt die gefallenen Mädchen ins Haberfeld, sie
streut ihnen am Hochzeitstage Häckerling, sie flicht der
Braut im Falle einer Unzucht anstatt des Myrtenkranzes
einen Strohkranz. Auch Christi Domenkrone war ein
Kranz mit der ironischen Bedeutung einer Königskrone:
und flochten eine Dornenkrone, und setzten sie auf sein Haupt,
und ein Bohr in seine rechte Hand, und beugten die Knie vor
ihm, und spotteten ihn, und sprachen: Oegrüsset seist du, der
Juden König! (Evangelium Matthäi XXVII, 29). Eine analoge
Szene ereignet sich in Shakespeares König Heinrich der
Sechste. Dritter Teil, WO die Königin Margareta dem ge-
— 270 —
fangenen Herzog von York eine papieme Krone auf-
setzt und die Lords sich tief vor ihm verneigen heisst
(I, 4). In Wilhelm von Kaulbachs Narrenhaus sieht man
einen Irren, der in seinem Grössen wahn eine papieme
Krone träg^; er ist ein Vorbild für alle Prätendenten,
die ihr Spiel verloren haben. Indessen mit dergleichen
Manifestationen gehen wir über die blossen Geberden
hinaus, sie gehören einem andern, reicheren Kreise von
Kundgebungen an, der uns erst im nächsten Kapitel
erschlossen werden wird.
G. Zeichen der Verachtung. Dieselben stehen mit den
Zeichen des Spottes in engem Zusammenhang und
mischen sich mit ihnen, sie sind nur noch kälter und
noch energischer. Die hauptsächlichsten dürften fol-
gende sein.
a) DasAnspeien. Nachdem die Kriegsknechte Jesu einen
Purpurmantel angelegt, Szepter und Krone gereicht
und ihn wie einen König gegrüsst hatten, spien sie
ihn an (Evangelium Matthäi XXVII, 30). Schon vorher hatten
ihn, wie Jesaias geweissagt, die Juden angespien
(XXVI, 67); das Anspeien ist überhaupt bei den Juden
ein gewöhnliches Zeichen der Verachtung. Gemäss
der sogenannten Leviratsehe musste, falls ein Mann
ohne Kinder starb, der Bruder des Verstorbenen die
Witwe ehelichen; weigerte er sich dessen, so hatte
die Witwe ihrem Schwager vor den Richtern mit der
rechten Hand oder mit den Zähnen den Schuh aus-
zuziehen und ihn anzuspucken, weil er seinen Verpflich-
tungen nicht nachkam (5. Mose xxv, 5—10). Diese Sitte
gilt noch heute bei den modernen Juden. Aber auch
die Christen haben diese schimpfliche Geberde — der
heilige Philippus Neri empfahl Seinen Schülern, hölli-
schen Visionen ins Angesicht zu speien und den
Teufel auszuschimpfen; man speit auf Dinge, auf Ge-
schenke, die verächtlich sind, und namentlich speit
— 271 —
man vor einem Manne aus, indem man die Geberde
mildert und nicht ganz ausfuhrt. Auch die ebener-
wähnte Witwe hat nach der Erklärung der Talmudisten
nur vor ihrem Schwager auf den Fussboden zu speien.
Im Grunde ist überhaupt das Ausspeien das Wesent-
liche, sintemal die ganze Geberde den heftigen Ekel
anschaulich machen soll, welchen die verachtete Person
und ihre Handlungsweise der schönen Seele einflösst.
Beim Gefühl des Ekels läuft einem unwillkürlich der
Speichel im Munde zusammen; es ist daher natürlich
ihn auszuwerfen. Diese natürliche Funktion wird zum
Zeichen der Verachtung absichtlich reproduziert,
b) Einem den Hintern weisen. Seit alter Zeit erweist
der gemeine Mann dem andern seine souveräne Ver-
achtung dadurch, dass er vor ihm den Hintern aufdeckt
und vielleicht dazusetzt: Lecken Sie mich im Ärsche! —
eine Aufforderung, deren Ausführung in rohen Zeiten
gelegentlich erzwungen worden ist. Wenn vorhin der
heilige Philippus Neri jungen Mädchen empfahl, den
Teufel anzuspeien, so wandte eine Protestantin, der
er in Gestalt einer Ratte über das Bett lief, ihren
Podex zum Bett heraus und spr^ach: Da, Teufel, hast
du einen Stah, wallfahrte damit nach Rom zu deinem Ab-
gotte und lass mich! — und ebenso machte es Luther
selbst: wenn der Teufel in der Nacht schädenfroh an
seinem Lager stand und ihn ängstigte, streckte er
seinen Allerwertesten zum Bett heraus; das half, denn
verächtliche Behandlung konnte der hochmütige Satan
nach seiner Meinung nicht vertragen. Fürst wie Bauer,
Kardinal und Gesandter boten in Luthers Zeit den
Arsch: es wird erzählt, dass der päpstliche Nuntius
Campani, der A.D. 147 1 in Deutschland war, um die
weltlichen Fürsten zu einem Kriegszuge gegen die
Türken zu veranlassen, aber unverrichteter Sache
wieder über die Alpen gehen musste, auf der Brenner-
strasse wütend seine Beinkleider herunterzog und.
— 272 —
Deutschland die beiden blanken Hinterbacken zukeh-
rend, rief:
aspice nudatas, barbara terra, nates! —
Die Geschichte des Mittelalters liefert mehr als
ein Beispiel, dass solche Schmach vorüberziehenden
Feinden von der Burgmauer herab angethan wurde,
man wolle nur die Autobiographie des Götz von Ber-
lichingen und die erste Ausgabe von Goethes Götz
von Berlichingen (1773. Seite 133) lesen; ja noch im
vorigen Jahrhundert, während des Österreichischen
Erbfolgekrieges, im Frühjahre 1744 bot der bekannte
österreichische Oberst Mentzel auf einer Rheininsel
der Festung Fort Louis den blossen Hinteren, was
ihm schlecht bekam; denn ein Vorposten nahm den
naiven Teil für eine willkommene Scheibe und traf
das Schwarze so genau, dass Mentzel Knall und Fall
niederstürzte.
Namentlich die Frauen lieben es, sich die Röcke
aufzuheben und dem Gegenstand ihres Zornes ihren
Allerrosensten zu weisen, was ihnen durch die Tracht
erleichtert wird. Wie jene Herzogin, deren Söhne
im Felde erschlagen worden waren, auf der Mauer
der Stadt stehend, ihr Klleid in die Höhe hob, den
verzweifelten Bürgern ihren Schooss zeigte und rief:
Hier ist die Form zu netten! — so werden die zartbe-
saiteten Geschöpfe mitunter zu energischen, ganz un-
glaublichen Demonstrationen der Leidenschaft hinge-
rissen. Calpumia, die letzte Gemahlin Cäsars, hob sich
auf der Rednerbühne auf, nachdem sie ihre Sache
fruchtlos verteidigt hatte, was die Veranlassung war,
dass seitdem die römischen Frauen nicht mehr vor
Gericht erscheinen durften (?) — Charlotte, Prinzessin
von Hessen und Gemahlin des Kurfürsten Karl Lud-
wig von der Pfalz, beschimpfte denselben auf dem
Reichstage zu Regensburg, wohin er sie mitgenom-
men, bei einer Jagd durch mutwillige Entblössung
— 273 —
ihres Leibes, wie Kayser in seinem Schauplatz von
Heidelberg erzählt — und als der Simplicissimus mit
seinem Herzbruder auf der Donau nach Wien fuhr,
machte er die Bemerkung, dass die Weibsbüder, so
an dem Strand wohnen, den Vorüherfahrenden, so ihnen
zuschreien, nicht mündlich , sondern schlechthin mit dem Be-
weistum selbst antworten. Vieler andern Fälle zu ge-
schweigen, denn es fallen mir eben noch drei Prinzes-
sinnen aus Menzels Geschichte der Deutschen ein, die
dasselbe einem alten Minister anzuthun sich nicht
entblödeten. Meines Erachtens hat die Geberde keinen
anderen Grund als den — dass das Gesäss als Sitz
des Afters ein verachteter Körperteil ist; auch die
sogenannten Schamglieder machen uns wohl nur des-
halb eine gewisse Schande, weil sie zugleich zur Aus-
scheidung des Harns dienen und in der Nähe des
Afters gelegen sind, sonst brauchte man sich ihrer
doch wahrlich nicht gerade zu schämen, wenn man
sie auch aus andern Rücksichten sorgfältig hütete
und verbärge. Man bedeckt also das Gesäss wie
einen Flecken, den man an sich hat. Jemand nun
diesen Flecken zeigen, ja, ihm denselben gar zum
Kusse darzureichen, ist eine Beleidigung, wie wenn
man einem Gaste Pferdeäpfel, Ziegenbohnen und Esels-
feigen vorsetzen wollte,
c) Das Bieten der Feige, mittellateinisch Ficham facere,
italienisch far la Fica, französisch faire la Figue, spa-
nisch hazer la Higa, auch im Böhmischen und Polni-
schen bekannt. Seit dem Mittelalter von Italien her
ins Volk gedrungen. Die Geste besteht darin, dass
man den Daumen zwischen den Zeigefinger und den
Mittelfinger steckt und zugleich die Faust ballt. Man
sagt daher auch: einem den Daumen stecken. Denkbar
wäre, dass man den Daumen neckend wiese wie
die Zunge, indem auch das Abhauen des Daumens
eine Strafe war. Lassen wir uns zunächst an eine
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 1°
V
— 274 —
Anekdote erinnern. Bemardino Corio und nach ihm
Rabelais erzählt, A. D. 1162 sei Beatrix, die Gemahlin
Kaiser Friedrich Rotbarts, in das unterjochte Mailand
gekommen und das Volk habe sich an ihr rächen
wollen , indem es die Kaiserin rücklings auf eine
Mauleselin setzte und so durch die Strassen der Stadt
führte ; worauf sich wieder der Kaiser an den Mai-
ländern also rächte: der Mauleselin wurde eine Feige
in die Mutterscheide gesteckt, und ein Mailänder nach
dem andern musste diese Feige mit den Zähnen her-
ausholen, sie dem Henker zeigen und sagen: Ecco la
ficaf und sie dann wieder auf dieselbe Weise, ohne
Beihilfe der Hände, hineinpraktizieren. Wer es nicht
that, wurde auf der Stelle gehängt. Manche zogen
in der That den Tod dieser Schmach vor, aber die
meisten machten das Kunststück. Dadurch soll die
Feige zu einer Geberde der Verachtung geworden
sein: man müsste sich etwa denken, dass der Daumen
die Feige, der Spalt die Mutterscheide der Eselin be-
deuten sollte. Die ganze Erzählimg wird von den
Historikern angezweifelt, aber selbst wenn sie wahr
wäre, würde sie wegen ihrer Sonderbarkeit vielmehr
auf eine bereits bekannte Bedeutung der Feige
schliessen lassen. Zweierlei kann man sich denken.
Erstens Barbarossa wollte die Mailänder gleichsam
Eselsmist verschlingen lassen, da derselbe mit Feigen
verglichen wird: dann aber würde die Feige der Ese-
lin in den After gesteckt worden sein. Zweitens, die
Feige wurde ebendeshalb der Eselin in die Scheide
gesteckt, weil Feige seit den ältesten Zeiten die weib-
liche Scham bedeutet. Schon das griechische avuov hat
diese Bedeutung, im Lateinischen weist ficetum darauf-
hin, selbst im Hebräischen teenah , vergleiche taanah;
notorisch aber ist die obscöne Bedeutung von Fka
im Italienischen, wo deswegen die Feige als Frucht
Fico genannt wird, während sonst die Obstbäume
— 275 —
männlich, die Früchte weiblich sind. Einerseits hat
die weibliche Gebärmutter, vergleiche Seite 28 und 99,
die Gestalt einer Feige, anderseits erscheint sie dem
Volke gleichsam nackt und unbedeckt, weil sie un-
mittelbar, ohne vorhergegangene Blüte hervorwächst.
Aus demselben Grunde heisst die Herbstzeitlose Fut
und Nackte Hure, weil sie scheinbar die Früchte vor
der Blüte entwickelt. Es ist gewiss nicht zufällig,
dass sich die ersten Eltern ihre Scham gerade mit
Feigenblättern bedeckten, und wahrscheinlich kommt
von dem italienischen Fica das deutsche Wort ficken
her. Man vergleiche, auch den Ausdruck Feigwarze,
das heisst zunächst: Warze an den (weiblichen) Geni-
talien. Die Geberde ist nun ofiFenbar ein Bild nicht
bloss der weiblichen Scham, sondern der weiblichen
Scham, in der das männliche Glied in Form des
Daumens steckt, das heisst der Begattung, ein Pendant
zum Lingam. Noch heute kann man die Feige gele-
gentlich in Restaurants und auf der Strasse beobachten^
wo sich Männer und Frauen mit ihr zu verstehen
geben, dass sie sich begatten wollen. Die Geberde
mag schon zu Barbarossas Zeiten bekannt gewesen
und auch Fica genannt worden sein, weil am Ende
das ewig Weibliche die Hauptsache dabei ist. Wer
aber einer Frau gegenüber dieses Zeichen macht, sagt
ihr damit, dass er sie als eine Hure ansehe. Eine
Hure ist aber wiederum ein verachtetes Wesen und
dadurch gewinnt die Geberde einen verächtlichen
Sinn. Hure ist ein böses Schimpfwort. Wird nun
vollends diese Geberde auf Männer übertragen, werden
sie gehurenzt, so ist es das ärgste Zeichen der Ver-
achtung, weil damit dem Manne gesagt wird, dass er
sich wie eine Frau brauchen lasse und dass er, wie
Jago sich ausdrückt, zum schmucken Weibe versündigt sei:
In Italien ist die Geberde auch Schutzmittel gegen
den Bösen Blick. Dante erwähnt die Geste Inferno
18*
— 276 —
XXV, 2: ein Dieb macht Feigen. Auf der Rocca
di Carmignano in Toscana sah man im XHI. Jahr-
hundert zwei Hände, welche Florenz die Feige
boten,
d) Das Ausstrecken des Mittelfingers, lateinisch m«-
diuim ostendere aigitum. Der Mittelfinger, auch der un-
züchtige Finger, ist ein Bild des aufgerichteten männ-
lichen Gliedes, welches hinwiederum der elfte Finger
heisst. OstendU digitum, sed impudicum Älconti Dasiog%e
Symmachoque (Martial vi, 70, 5). Der Sinn der Geberde
ist daher derselbe wie vorhin. Weim Grimm Wörter-
buch in, Spalte 1651 den vierten Finger als den namen-
losen oder unzüchtigen bezeichnet, so beruht das wohl
auf einem Missverständnis; eher dürfte noch dem
Daumen eine obscöne Bedeutung zuzusprechen sein.
Mnem den Daumen beissen, englisch to hite the thumb of
a person, das heisst den Daimien vor jemand in den
Mund stecken, war ebenfalls ein Zeichen der Verhöh-
nung imd sogiit wie eine Herausforderung zum Kampf
(vergleiche Shakespeare Bomeo und Julia I, i). Viel-
leicht sollte es zunächst eine Einladung sein, das zu
thun, was Martial feUare nermt.
Drittes Kapitel.
Die Beibringung von Thatsachen.
Athener! Was dieser sagte, thue ich.
Ein griechischer Banmeistar.
I. Rhetorische KunststUckchen.
Die lakonische Kürze, deren sich die Engländer in der Sprache befleissen —
sie sprechen oft gar nicht, sondern argumentieren mit Thatsachen, zum Beispiel
die Temperanzler — Fcicta loquuntur — faktische Beweise, die der Redner bei-
bringt — er lässt die Dinge reden, wie Cid mit seinem Degen redet — Edmund
Burke schleudert einen Dolch ins Parlament — dieser praktische Tropus ist ver-
fehlt — Burke hätte sich die Alten zum Muster nehmen sollen — Cato wirft
frische Feigen in den Senat — der Sack ist leer — Lebende und Tote werden
zu Zeilen angerufen: Hyperides und Phryne, Antonius und Cäsar — der Levit,
der Stücke seiner Frau an die zwölf Stämme Israels versendet — das sind
praktische Tropen und die gewaltigsten Redefiguren imter allen.
Wer in England reist, wird nicht ohne Wohlgefallen
die gedrungene Kürze bemerken, deren sich das praktische
Volk in seiner Sprache überall befleisst. Alle öfiFentlichen
Verordnungen, alle Plakate, alle Briefadressen sind in Tele-
grammstil abgefasst, jedes entbehrliche Wort bis auf Pro-
nomina und Verba ist weggelassen, oft ein ganzer Satz in
einen anderen gedrängt, und gleichsam als zu weitschweifig
rückgängig gemacht Trotz dieses Lakonismus, der auch
alle mündlichen Mitteilungen der Engländer charakterisiert,
versteht man die kernigen Ausdrücke recht gut, ja sie sind,
— 278 —
wie man denken kann, eindringlicher als Phrasen. Mitunter
ersparen sie sich auch die Worte überhaupt und fuhren
Dinge und Thatsachen ins Feld, auf welche sich die Zu-
schauer den Vers selber machen mögen. Wie erfinderisch
ist die Reklame, wenn es gilt, die VortreflFlichkeit von
Pearls Soap oder sonst einer neuen Seife durch Beibringung
von Thatsachen zu erweisen! Da wird ein Mohrenkind in
einer Wanne damit gewaschen und, man denke sich, ur-
plötzlich weiss gewaschen; nur das Gesicht bleibt schwarz,
weil es noch nicht eingeseift ist, schwarz wie die Tinten-
flecken an Lady Montagus Hand, die sie nicht ab-
wäscht, damit alle Welt sehe, dass sie eine Schriftstellerin
ist Oder wenn es gilt, die entsetzlichen Wirkungen des
Branntweins und den Segen des Wassertrinkens anschau-
lich zu machen, dass sie jeder mit Händen greifen kann.
Wir haben bereits auf Seite 97 eine Probe von der Pro-
paganda der Temperanzgesellschaften mitgeteilt; einer dieser
Vereine hielt vor kurzem seine Jahresversammlung ab. Um
den zahlreich erschienenen Mitgliedern und deren Gästen
die Folgen der Trunksucht und die Vorteile eines nüchter-
nen Lebenswandels zu Gemüte zu fahren, bediente man
sich diesmal der Reid'schen Verwandlungsbilder. Ein lebens-
grosses Gemälde zeigte einen gänzlich heruntergekommenen
Trunkenbold, dem es schwer wird, sich aufrecht zu erhalten.
Nachdem man das Bild mit Wasser abgewaschen hatte,
traten die Gestalt und die Züge eines bekannten Mässig-
keitsapostels in die Erscheinung. Ein anderes Bild zeigte
einen zerlumpten, dem Trünke ergebenen Mann, der aus
dem Pfandhause kommt und seinen mit zerrissenen Hosen
und defekter Jacke gekleideten Knaben misshandelt. Als
dasselbe mit Wasser abgewaschen worden war, erschien
ein anständig gekleideter Herr, welcher ein gutanzogenes,
lächelnd und heiter dreinschauendes Kind an der Hand
fuhrt. Von diesem Bilde, das kleiner als alle anderen war.
wurde eine Anzahl von Exemplaren an die Anwesenden
verteilt.
— 279 —
Aber mit blossen Bildern begnügen sich die praktischen
Engländer nicht; Dinge, Dinge, Dinge wollen sie. Nur
reden wüL ich Dolche, keine hraiichen, sagt Hamlet. Der eng-
lische Redner braucht sie. Vor einem Jahrhundert, A. D.
1790, trat der berühmte Staatsmann Edmund Burke, der
unversöhnliche Gegner des revolutionären Frankreich im
Parlament gegen die französische Bruderschaft und gegen
den Bruderkuss auf, den die Franzosen den Belgiern, den
Niederländern, den Savoyarden, dem linken Rheinufer und
aller Welt geben wollten. Timehat OcUlos et oscula ferentes!
Burke bewies, dass diese Bruderküsse Dolchstiche seien,
ja, in auflodernder Leidenschaft zog er einen wirklichen
Dolch aus seinem Busen, schwang ihn pathetisch über
seinem Haupte und rief: this is the hrotherly kiss, thtts they will
fratemize yaul Das ist der Bruderkuss, so wollen sie euch ver-
hrüdemf — worauf er die WafiFe in den Saal schleuderte.
Das Haus staunte ob dieser drastischen Illustration und
Richard Sheridan bemerkte: Bravo! Die Bhetorik ist durch
Sie um einen praktischen Tropus bereichert worden.
Nur dass mir hier einmal die englische Rhetorik und
ihre praktische Beweiskraft nicht recht gefallen: will. Wäre
ich wie Sheridan gewesen, ich hätte gerade diesen Tropus
keineswegs bewundert Er erscheint mir mehr neu als
glücklich. Warum? Weil er gar nichts beweist. Ja, wenn es
ein französischer, von Bruderblut geröteter Dolch gewesen
wäre! Wenn Edmund Burke selber mit seinem Dolche Hel-
denthaten verrichtet hätte, wie der Cid mit seinem Degen!
Mit dem Degen,
.mit ihm redet mein Gemahl,
sagt Dona Ximena. Aber so beschränkt sich die Wirkung
des affektierten Wurfes darauf, das Wort Dolch zu illustrie-
ren, und das ist gar nicht nötig, denn wie ein Dolch aus-
sieht, wissen alle. Wenn in Websters Wörterbuch neben
Bagger ein Dolch abgebildet ist, so dient dieses ideogra-
phische Zeichen zur Erklärung, die hier bei jedem, auch
dem bekanntesten Worte gefordert wird; die Abbildung
— 280 —
vertritt die Stelle eines hieroglyphischen Determinativs.
Aber das Wort Dolch will doch im englischen Parlament
niemand erklärt haben, es soll doch nur die Behauptung
erhärtet werden, dass die französischen Bruderküsse Dolch-
stiche seien. Und das hilft der prächtigste Dolch nicht
erhärten, dieser praktische Tropus hat keinen praktischen
Nutzen. Burke, Burke, was wolltest du mit dem Dolche,
sprich? — Er liegt ziemlich überflüssig im Saale herum.
Er ist nicht nur ein schwaches, sondern gar kein Argument
Freilich, es gibt wohl derartige Argumente und fak-
tische Beweise, die der Parlamentsredner mit Glück bei-
bringen kann, sintemal Facta loquunturi Aber Dinge sind
keine Fa^ta. Edmund Burke hat sich nicht recht über-
leget, worauf es bei dieser Methode ankommt: nicht auf
Dolche, sondern darauf, dass mit den Dolchen gestochen
worden, überhaupt etwas mit ihnen vorgegangen ist. Ei,
es ist nicht das erste Mal, dass ein Redner einen realen
Gegenstand zur Unterstützung seiner Behauptungen von
der Tribüne herab ins Haus geworfen hat. Der alte vier-
undachtzigjährige Cato war bekanntlich einer der Haupt-
anstifter des ^rfritten Punischen Krieges. Er war selbst in
Karthago gewesen und behauptete, Rom würde niemals
sicher sein, so lange als Karthago so mächtig, so feindselig
und so nahe wäre. Einmal zog er eine Handvoll frühreifer
Feigen unter seinem Gewand hervor und warf sie auf den
Boden des Senatsgebäudes. Die versammelten Väter staun-
ten über die Frische und Schönheit der Früchte: diese Feigen,
sagte Cato, sind vor nur drei Tagen in Karthago gepflückt
worden; so nahe ist der Feind an unseren Mauern! Tarn prope
a muris hdbemus hostem! — Und seit jener Zeit datiert sein
ewiges ceterum censeo, Carthaginem esse delendam. Die reifen
Feigen müssen gleich nach dem Abpflücken gegessen und
dürfen nicht viel mit den Fingern berührt werden, daher
die drastische Argumentation. Hehn meint, sie seien wohl
unreif gepflückt worden und durch Zeit und Drücken reif
geworden, eine ganz unberechtigte Annahme, die den Cato
— 281 -
als Lügner erscheinen lassen würde. Diese Greschichte,
welche ein Gegenstück zu der Fahrt des Züricher Breitopfs
nach Strassburg bildet, sticht sehr zu ihren Gunsten von
der Burke'schen Redewendung ab; denn Cato hat wirklich
etwas bewiesen.
Facta loquuntur! Wenn nicht viel gesprochen werden
soll, ist ein faktischer Beweis mitunter das einzige Mittel,
welches dem Redner übrig bleibt, um seiner Ansicht Gel-
tung zu verschaffen. Man kennt den Lakonismus der alten
Spartaner. Die Bewohner einer benachbarten Insel, ich
glaube der Insel Cythera, leiden Hungersnot und schicken
einen Gesandten nach Sparta, um Unterstützung zu erbitten.
Derselbe setzt den Grund seines Kommens in einer länge-
ren Rede auseinander. Wie er %einen Vortrag beendet
hat, wird er entlassen, denn die Ephoren haben das Ende
nicht verstanden und den Anfang nicht behalten. Jetzt
wird ein zweiter Bote abgeordnet, der sich möglichster
Kürze befleissigen soll. Er nimmt einen leeren Sack mit
in die Volksversammlung, wendet ihn vor aller Augen um
und spricht: Es ist nichts darin; thut etwas hinein! — Ihm
wird Getreide verabfolgt, indessen die Bemerkung vom
Magistrate nicht erspart — er hätte sich kürzer fassen
können; dass der Sack leer gewesen, habe man gesehen;
dass er ihn voll haben wollte, habe sich von selbst ver-
standen. Ein andermal solle er nicht so weitschweifig sein.
Facta loquuntur! — Die Alten waren überhaupt gross
darin, die Thatsachen reden zu lassen und sie bei ihren
oratorischen Leistungen, auch wo sie sich einen Zwang
nicht anzuthun brauchten, als die letzten und höchsten
Trümpfe auszuspielen. Sie Hessen die Lebenden, sie Hessen
die Toten sprechen. Nicht so, wie Kriemhild den erschla-
genen Siegfried sprechen Hess, indem sie des Bahrrechts
wartete und den Mörder durch das Bluten der Wunden
überführte — sondern so wie der Levit, der sein gemisshan-
deltes Kebsweib in zwölf Stücke stückte und an alle Gren-
zen Israels sandte (Richter, XIX, 29) — die Mordthat sollte
— 282 —
als solche sprechen und den Mörder verklagen, der bekannt
war. Als Julius Cäsar im Jahre 44 an den Iden des März
unter den Dolchen seiner Mörder gefallen war, da trug
man den grossen Toten wie gewöhnlich über das Fonim
und setzte ihn vor den Rostris nieder, auf denen Marcus
Antonius die Leichenrede, die laudatio funebris, hielt Anto-
nius war ein guter Redner, er rührte und entflammte das
Volk mit seinen Worten, er las mit klugem Bedacht Cäsars
letzten Willen vor. Endlich hielt er das blutige durch-
löcherte Hemd des Ermordeten in die Höhe und zeigte
der Menge den Leichnam mit der dreiundzwanzigfachen
Wunde. O, ungeheurer Anblick! Gewaltige Redefigur!
Das war ein praktischer Tropus und eine Beredsamkeit, an
der sich Edmund Burtee abermals ein Beispiel nehmen
konnte.
Facta loquunturf — Ein charakteristisches Pendant zu
dem Leichnam Julius Cäsars bietet der lebendige Beweis,
den einmal ein klassischer Redner gegeben hat Ein Athe-
ner, Namens Euthias, hatte die berühmte Hetäre Phryne
der Ketzerei (daeßelag) angeklagt. Der galante Hyperides,
einer ihrer Liebhaber, verteidigte sie vor Gericht. Als es
ihm mit all seiner Beredsamkeit nicht gelingen wollte, die
Richter günstig zu stimmen, bat er die Angeklagte, ihren
blühenden Leib zu enthüllen, und erlangte durch dieses
gewagte Mittel ihre Freisprechung. Nein, eine solche über-
irdische Schönheit konnte nicht strafbar, nicht gottlos sein!
Sie war selbst etwas Göttliches, ein Ebenbild der Venus
Anadyomene! — Es heisst, dass der Ankläger Euthias
seitdem nie wieder vor Gericht gesprochen habe.
283 —
II. Populäre Argumente.
Wie die Bettler reden — wie der Kaiser Augustus die Hand aufhält — wie
Not und Unglück für sich selber sprechen — Graf Eberhard der Rauschebart
schneidet das Tischtuch entzwei — der Mönch bittet um Verzeihung mit einem
Stricke um den Hals — der Besiegte übergibt dem Sieger seinen Degen — das
Abschneiden des Haares — Diogenes beweist dem Philosophen Zeno die Be-
wegung, indem er geht — der alte Graf geht dem neuen Fürsten, Frau von
Pfaffenrath geht der Frau von Gleichen vor.
Faktische Beweise sind rhetorische Kunststückchen,
die ihre Wirkung nie verfehlen, wenn sie geschickt aus-
gefiihrt werden, und der Platz dazu ist nicht bloss die
Tribüne des Redners. Sie gelingen überall, sie werden
zum Beispiel mit Vorliebe angewandt, wenn es sich darum
handelt, die Not anschaulich zu machen und Mitleid zu
erwecken. Jener Gesandte kann die lakonische Beibringung
seines Armutszeugnisses von jedem Bettier lernen. Der
Blinde, der sich, ohne ein Wort zu sagen, an die Kirch*
thüre stellt — der Taubstumme, der uns aufsucht, mit der
eigenen Behendigkeit dieser Unglücklichen auf seinen Mund
weist und milde Gaben sammelt — der Krüppel, der in
Lumpen, in Tafeln, auf denen die Geschichte seines Un-
glücks zu lesen ist, vielleicht ein Gemälde vor den Knien,
an der londoner Strasse sitzt und thut, was jener Cythereer
hätte thun sollen, schweigend die Hand ausstreckt — die
blosse Schaustellung der Armut, des Elendes, des Unglücks,
welch ein vielbedeutendes Orakel! Der Kaiser Augustus
selbst, der durch einen Traum bewogen worden war, all-
jährlich an einem bestimmten Tage und Orte zu betteln,
machte es nicht anders; er genügte seiner Pflicht, indem er
die Hand aufhielt und wartete, bis man ihm eine SextuLa
hineinwarf Und der Indianer, der sein klopfendes Herz ent-
blösst — der Neger, der den Kopf auf die Hand legrt, als
ob er schlafen wollte, aber vor Frost zusammenschüttert —
der Mensch, der auf der Reise. von Jerusalem nach Jericho
unter die Mörder fällt, und der, halbtot, ausgeplündert und
— 284 —
zerschlagen, zu dem barmherzigen Samariter aufsieht —
Sancho Panza, der (Don Quixote II, 54) zum Zeichen, dass
er keinen Heller habe, seinen Daumen an die Gurgel hält
und die Hand in. die Höhe streckt — ha, der bewegliche
Anblick dieser Leiden, welche rührende, eindringliche
Sprache reden sie! Ich hebe meine Augen auf zu den
Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Keine Worte!
Worte für den, der nicht in den Herzen liest! Für den
Leviten, der, unbekannt mit unseren Schmerzen, gleich-
gültig vorübergeht! Warum sollen wir den menschen-
freundlichen Arzt bestürmen, da er doch am besten weiss
was uns fehlt, da er doch mit Seherblicken in uns hinein-
schaut und Öl und Wein in unsere Wunden giesst? —
Die Liebe durchdringt uns mit göttlichem Scharfsinn,
vor ihren Argusaugen wird das Verborgenste offenbar; sie
errät in einer Handbewegung eine Welt, in einem Blick
ein Menschenleben; sie gleicht dem Alborak des Erzengels
Gabriel, dem geflügelten Rosse, das den Propheten Moham-
med, währenddass ein Wasserkrug umstürzte und auslief,
durch sieben Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten
eines jeden zeigte; sie eilt den mündlichen Erklärungen
voraus, wie der elektrische Telegraph den Briefen. Ottilie
und Eduard führen in den WaMverwandtschaften ein eigenes
Gespräch. Durch einen Zufall stehen sie einander gegen-
über; sie sieht ihn an, ohne einen Schritt vorwärts noch
rückwärts zu thun; er macht eine Bewegung, sich ihr zu
nähern; sie thut einen Schritt zurück bis zum Tisch. Auch
Eduard tritt zurück und zeigt ihr den Brief, der sie vor-
bereiten sollte. Ohne die Miene zu verändern, hatte sie «Ä«
gelesen, und so legte sie ihn leise weg; dann drückte sie die flachen,
in die Höhe gehobenen Hände zusammen, führte sie gegen die Brust,
indem sie sich nur wenig vorwärts neigte und sah den dringend
Fordernden mit einem solchen Blicke an, dass er von aUem abzu-
stehen genötigt war, was er verlangen oder wünschen mochte.
Aber in allen Fällen ist das Auge ein trefflicher Kund-
schafter, sein Bericht zugleich schneller und treuer als der,
— 285 —
welchen wir durchs Ohr aus dem Munde des anderen em-
pfangen. Gewisse alte Bräuche, mit denen man seinen
Gesinnungen faktischen Ausdruck gab, sind kostbare Reste
einer stärkeren, wortärmeren, aber thatenreicheren Zeit.
Wir sagen die Freundschaft auf; Graf Eberhard der
Rauschebart fasst, wie sein Sohn Ulrich nach der verlore-
nen Schlacht bei Reutlingen nach Stuttgart kommt, da er
gerade bei Tische sitzt, ein Messer, spricht kein Wort und
schneidet das Tafeltuch entzwei (1377). Wir bitten ednen
Vorgesetzten um Verzeihung, versichern ihm unsere Reue,
versprechen ihm Besserung, flehen ihn an, uns die verdiente
Strafe zu erlassen. Aber der Mönch, der den Abt des
Klosters um Verzeihung bittet, kniet demütig vor ihm
nieder mit einem Stricke um den Hals, wie die Italiener
sagen, colla fume oder colla coreggia cd collo. Und der Grross-
vezier, der von Harun-al-Raschid einen Befehl erhält, legt
die Hand auf seinen Kopf: im Falle des Ungehorsams wird
er den Kopf verlieren. In einem ähnlichen Sinne musste
vermutlich nach normannischem Rechte ein Mann, der eine
Beleidigung zurücknahm, während er das aussprach, mit
den Fingern seine Nasenspitze halten (nasum suum digüis
per summitatem tenere), Nelson nahm A. D. 1797 nach der
Schlacht bei St. Vincent, wie man sich von einem Relief
der Nelsonsäule auf Trafalgarsquare in London her erinnern
wird, den Degen des spanischen Befehlshabers in Empfang;
und Napoleon III. übersandte dem König von Preussen am
I. September 1870 seinen Degen und hatte am folgenden
Tage mit ihm und Bismarck persönliche Unterredungen.
Aber einst wurde von dem besiegten Feinde gefordert, dass
er im Büssergewande, ohne Helm und ohne Schuhe dem
königlichen Sieger zu Füssen fiel. Auch die Hohenstaufen,
Friedrich und Konrad, der spätere König, mussten so vor
ihrem Rivalen Lothair barfuss knien, als sie im Kampfe
unglücklich gewesen waren. Fehlte dieser Akt, so hatte
sich der Biesiegte gar nicht unterworfen und ein neuer
Vertrag wurde unthunlich.
— 286 —
Umgekehrt: wie drückt man besser die Überhebung-
aus, als indem man einem vorgeht, wie der letzte Graf von
Hanau dem neugebacknen Fürsten oder wie Frau von Pfaf-
fenrath der Frau von Gleichen? — Im Herzoglichen Schlosse
zu Meiningen hatte im Jahre 1746 die Frau Landjäger-
meisterin Christiane Auguste von Gleichen den ersten Rang
unter den Hofchargen. Aber eine andere Hofdame, eine
gewisse Frau von Pfaffenrath, zwar eine geborene Gräfin
Solms, aber doch nur Regierungsrätin und Frau eines eben
erst geadelten Mannes, noch dazu keine recht legitime
Frau, wurde durch den abwesenden Herzog Anton Ulrich
protegiert. Sie sollte den Rang vor aUen Damens haben, Frau
von Gleichen wollte sich das nicht gefallen lassen, aber als
es zur Tafel ging, hatte Frau von Pfaffenrath eine gün-
stige Aufstellung genommen und schnitt der Frau Land-
jägermeisterin den Vortritt ab, bevor diese es hindern
konnte. Darüber grosse Aufregnng: Frau von Gleichen er-
klärte dem Kabinettsminister, wenn Frau von Pfaffenrath ihr
wieder vorgehe, so werde sie dieselbe an ihrem Reifrocke
zurückzerren; sie liess ein Pasquill gegen Frau von Pfaffen-
rath. verbreiten. Deshalb sollte nach dem Willen des
Herzogs wieder die Frau Landjägermeisterin der Frau
von Pfaffenrath kniend Abbitte thun und sie auf das buss-
fertigste um Vergebung bitten. Es ist bekannt, dass dieser
Weiberzank den Wasunger Krieg entzündete (1747).
— 287 —
III. OfHzielle Akte.
"Wie Herzog Anton Ulrich von seinem Lehen Besitz ergreift — moderne Formen
der Besitzergreifung — der Bräutigam tritt der Braut auf den Fuss» Beispiel
im Meier Helmbrecht — warum der Verlobungs- und der Trauring an den
Goldfinger der linken Hand gesteckt wird — Absprechen des Besitzes — wie
der alte Mieter herausgetrieben wird — Lauzun zerbricht sein Schwert vor den
Augen des Monarchen — St. Dominicus zerreisst eine Urkunde vor den Augen
des Bischof, Capponi eine vor dem französischen König — eine Drohung aus-
führen ist besser als drohen, ein Versprechen erfüllen ist besser, als versprechen
— das Ei des Kolumbus — die faktischen Beweise sind zweckmässig gewählte
Experimente — Schluss.
Unerschöpflicher , wundervoller Genius der Sprache,
lehre mich meinen Gedanken Ausdruck geben! Welches
sind deine liebsten Zeichen? Wo finde ich die kurzen, un-
missverständlichen Depeschen, die wie Blitze in das Gemüt
des Nebenmenschen fallen? — Nicht bloss in unseren eige-
nen Bewegungen und Geberden. In jeder Sache, die mit
einer Wahrheit schwanger geht und sie, gleich einem Rebus,
erraten lässt Die ganze Welt ist ein solches Rebus, das
uns von einem Gott gezeigt wird, und diesem Gott lernen
wir die reale Methode ab, indem wir Thatsachen exhibieren
— indem wir aus dem unermesslichen Schatze einer lehr-
reichen Realität mit Bewusstsein ein kleines Bruchstück
wählen, dem auffassenden Verstand vorhalten und dadurch
zu einem Organe der freundschaftlichen Mitteilung erheben.
Wir erwähnten im Vorhergehenden Anton Ulrich,
Herzog von Sachsen-Meiningen. In seiner Jugend hatte er
sein stolzes Haus durch eine Mesalliance gekränkt; die
Räte des Landes benutzten den Zwist, ihm seine Revenuen
zu verkürzen. Aber Anton Ulrich war scharf dahinter her.
Als im Jahre 1722 der letzte Lehensträger des Altensteins,
ein Hund von Wenckheim, auf den Tod lag und die Kom-
missäre der Regierung schon auf dem Sprunge standen,
das erledigte Lehen in Besitz zu nehmen, da ritt plötzlich
An^on Ulrich in den Schlosshof. Wie der Vasall die Augen
zugedrückt hatte, trat er bewafi&iet in das Sterbezimmer,
- 288 -
setzte sich in einen rotsamtnen Lehnstuhl und sprach:
Hiemit ergreife ick Possession für meinen dritten Teü, unbe-
schadet der zwei Drittteüe meiner Herren Ghbriider. Darauf
rückte er mit der Hand an dem Tische, dem Symbol
der Mobilien, und Hess aus den Stubenthüren Späne, so-
wie Splitter aus dem Eichwald und Rasenstücke aus den
Wiesen schneiden, als womit er Besitz von den Immobilien
ergriff. Dann kehrte er nach Meiningen zurück. Das war
die alte Form der Besitzergreifung oder der sogenannten
Apprehensionj wie sie das deutsche Recht vorschrieb und
wie sie jetzt noch bisweilen vorkommt, obgleich man sich
gegenwärtig meist damit begnügt, das Grundstück zu be-
treten, die Schlüssel eines Hauses in Empfang zu nehmen
und die Hand an den Riegel der Thür zu legen; von
ganzen Ortschaften ergriff man Besitz, indem man ein Laub
von der Linde nahm, wie das z. B. die zweihundert Mann
der Grafen von Oettingen in Bissingen, dem Gute Schärt-
lins, ihres Nachbarn, thaten (1561). Die ganze Prozedur
läuft offenbar darauf hinaus, dass der Besitzergreifende sein
Recht nicht ausspricht, sondern teilweise faktisch Besitz
ergreift, was unter allen die deutlichste Sprache ist.
Im Mittelalter hatte der Bräutigam am Schlüsse der
Trauung der Braut auf den Fuss zu treten:
und gap Lembersllnde
ze manne Gotelinde.
si sungen aUe an der stat:
üf den fuoz er ir trat —
heisst es in dem (um A. D. 1240 verfassten) Meier Edm-
brecht 1 531 ff. Das Treten auf den Fuss war einzelnen Per-
sonen gegenüber ein Zeichen der Besitzergreiftmg und der
angetretenen Herrschaft, wie umgekehrt das Abschneiden
des Haares ein Zeichen ist, dass man sich jemand zu eigen
gibt, zum Beispiel wird Knechten, Mönchen und Nonnen
ihr Haar abgeschnitten. Noch heute herrscht in vielen Ge-
genden die Sitte, dass sich die Brautleute vor dem Altar
nach der Einsegnung einander auf den Fuss oder den Rock
— 289 —
zu treten, und dadurch während der Ehe das Regiment im
Hause, sozusagen den Pantoffel an sich zu reissen suchen — die
nämlichen Brautleute, die sich durch Verlobungs- und Trau-
ringe ewige Treue und ewige Ergebenheit versprechen und
dieselben an den Goldfinger der linken Hand stecken, weil von
diesem Finger nach alter, schon aus römischer Zeit stammen-
der Überlieferung eine Ader direkt nach dem Herzen geht.
Es ist heutzutage viel von Besitzergreifungen die Rede;
die dabei üblichen Modalitäten haben im Grunde denselben
Sinn. Die spanischen und portugiesischen Schiffskomman-
danten pflegten in den Gebieten, die sie erreichten, ein
Kreuz, einen Altar oder sonst einen heiligen Gegenstand
zu errichten, den sie einweihten und mit dem sie das ganze
Gebiet gewissermassen unter die Herrschaft der römischen
Kirche stellten. Dann wurde eine Messe gelesen und in
feierlicher Prozession eine Strecke weit nach verschiedenen
Himmelsrichtungen umhergegangen, womit die Besitzer-
ergreifung für vollzogen galt. Geradeso thut Buddha gleich
nach seiner Geburt je sieben Schritte nach den vier Him-
melsrichtungen und ebenso nach dem Nadir und dem Zenith,
wobei er jedesmal seine unbestrittene Obergewalt erklärt;
in der That stehen alsbald, wie er in die heidnischen Tempel
tritt, alle Gatter auf und fallen ihm zu Füssen. Auch
Privatpersonen richteten gern auf unbekannten Inseln
Kreuze auf, soder Simplicissimus und Robinson Crusoe,
dessen Name bekanntlich Kreuzinsel bedeutet. Wir hissen
dagegen die deutsche Fahne auf
Herzog Anton Ulrich schnitt aus den Thüren des Al-
tensteiner Schlosses Späne ; etwas Ahnliches thaten die
Boten der Femgerichte. Dem Vorzuladenden wurde näm-
lich der Ladebrief nicht persönlich übergeben, sondern an
seiner Behausung oder einem dieser nahe gelegenen Orte
angeheftet. Dabei wurden drei ausgehauene Späne als
Wahrzeichen der Fem gebraucht. Hier sollten sie indessen
wohl nur für die Anwesenheit des Boten Zeugnis geben.
Wenn man dagegen einem Herrn den Besitz einer
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 1«^
— 290 —
Sache absprechen will, was thut man? Kommt man ihm
mit Gründen? Mit Prozessen? Der energische Mann lässt
sich darauf nicht ein — er vertreibt den widerspenstigen
Inhaber, wie der neue Mieter den alten Mieter, wenn dieser
nicht herauswill, indem er einen Stuhl in die gemietete
Wohnung stellt — er zerreisst die Urkunde, die ihn bindet,
wie Pietro Capponi in Florenz*) — er vernichtet den Be-
sitz vor den Augen des Prätendenten. Mon epSe au roi.
Der Herzog von Lauzun sollte von Ludwig XIV. zum
Grossmeister der Artillerie ernannt werden; Louvois, der
eifersüchtige Louvois war dagegen. Lauzun forderte kühn,
der König solle sein Versprechen halten, und da er ihn
unentschlossen sah, zerbrach er vor den Augen des Monar-
chen sein Schwert,- weil er keinem wortbrüchigen Fürsten
dienen wollte. Ludwig XIV. warf dafür seinen Stock zum
Fenster hinaus und sagte: er wolle es sich nicht zum Vor-
wurf machen, einen Edelmann geschlagen und das argumen-
tum haculinum hervorgesucht zu haben.
Die Überzeugungskraft derartiger Beweise ist eine un-
gemeine. Vor Drohungen muss man sich nicht fürchten
und über Zusagen soll man sich nicht freuen; aber eine
auf der Stelle ausgeführte Drohung macht das Blut er-
starren und ein Versprechen, dem man die Erfüllung un-
mittelbar folgen lässt, hebt allen Zweifel auf Anton Wohl-
fart hat 200 Thaler auf den Tisch gelegt und die Rollen
*) A. D. 1494, als der französische König Karl VIIL in Florenz einge-
zogen war und übertriebene Forderungen stellte. Capponi nahm dem Sekretär das
i'apier in Gegenwart des Königs aus der Hand und zerriss es in tausend Stücke,
wobei er sagte, ehe die Florentiner solche unbillige Bedingungen eingiogcD»
würden sie sich bis aufs Blut verteidigen, /'ate dar fiato alle vostre trombe, e
not suoneremo U nostre campant! — vergleiche Rudolf Kleinpaul, Florenz in Wort
und Bild^ Seite 26. So zerschnitt der heilige Dominicus auf dem ersten General-
kapitel zu Bologna eine ihm zugestellte Schenkungsurkunde vor den Augen des
Bischofs und liess den Beschluss fassen, dass kein Besitz angenonmien werden
dürfe (Au D. 1220); und so zerriss Karl XII. mit seinen Sporen dem bestochenen
Grossvezier, der am Pruth mit Peter dem Grossen Frieden machte, das lange,
prächtige Gewand.
— 291 —
durch .vier Kreidestriche eingeschlossen. Schmeie Tinkeles
soll die 200 Thaler haben, wenn er Anton die gewünschte
Auskunft gibt. Der Jude kämpft einen schweren Kampf;
er sieht auf Anton und verzieht sein Gesicht zu einem
harmlosen Lachen, er versucht, unbefangen auszusehen und
blickt wie gleichgültig in der Stube herum, aber immer
wieder fällt sein Blick auf Antons Zeigefinger und das
weisse Viereck auf dem Tische. Keiner spricht, das stumme
Schweigen dauert einige Augenblicke, und doch ist es eine
lebhafte und beredte Unterhaltung.
Die 200 Thaler in dem weissen Viereck auf dem Tische
thun es! Wie der Edelknabe in Shakespeares König Richard
der Dritte (IV, 2) sagt:
Gold ist sogut bei ihm, wie zwanzig Redner!
Bares Geld lacht verführerisch und Liebeserklärungen, wie
sie August der Starke der Gräfin Cosel machte: in der
einen Hand einen Beutel mit 100,000 Kronen, in der an-
deren Hand ein Hufeisen, das er zerbrach wie eine Semmel
— sind nicht bloss die willkommensten, sondern auch die
sichersten. Hie Rhodus, hie saUa! Ein Danimm, meint Sancho
Panza, ist besser als ein Ichwerdedirgehenf Hätte August der
Starke bloss ich wills und ich kanns gesagt, so würde die
schöne Gräfin vielleicht gelächelt haben. Da er es aber
that, so musste sie ernst drein sehen und aib esse ad posse
schliessen. Darauf beruht ja am Ende schon der Wert des
Angelds oder Draufgelds, das eine teilweise vorläufige Be-
zahlung ist. Wer etwas daransetzen will, der nehme sich
an dem starken Mann ein BeispieL
Darum wird so viel Wert auf die Experimentalphysik
und auf die Experimentalchemie gelegt; jeder faktische
Beweis, den der Redner auf der Tribüne und der gemeine
Mann in der Unterhaltung gibt, ist im Grunde nichts an-
deres, als ein zweckmässig gewähltes Experiment. Filippo
di Ser Brunelleschi , der Erbauer des florentiner Domes,
fragt seine Kollegen in Florenz, da sie alle die Kuppel
wölben wollen und nicht können, ob sie sich wohl getrauten,
19*
— 292 —
ein Ei aufrebht auf den Marmortisch zu stellen? -— Einer
nach dem andern versucht es, aber das Ei steht nicht Es
kann nicht stehen! Da nimmt Brunelleschi das Ei, stösst es
mit der Spitze auf die Tischplatte, und es steht.*) Der
Eleat Zeno, um 450 v. Chr., leugnet die Bewegxmg. Ein
gewisser Diogenes antwortet gar nichts, sondern beweist
dem Philosophen die Bewegung, indem er geht! Einer
Akademie der Wissenschaften wird die Frage vorgelegt,
wie es komme, dass ein Eimer voll Wasser nicht überlaufe,
wenn man einen Karpfen in den Eimer stecke? Es entsteht
die lebhafteste Debatte; die scharfsinnigsten Erklärungen
des Phänomens werden laut; die Gelehrten können sich
lange nicht einigen. Endlich nimmt einer einen Eimer,
füllt ihn mit Wasser, steckt einen Karpfen hinein, und der
Eimer läuft über. Damit war die Sache ad octdos demon-
striert! Hatten etwa sothane physikalische Demonstrationen
einen anderen Zweck als die Enthüllung des Redners Hy-
perides? —
Das ist es ungefähr, was ein Lehrer der Beredsam-
keit bei dem rhetorischen Kunststückchen des Herrn Ed-
mund Burke zu erinnern hätte. Wenn wir in Büchern
Anmerkungen machen, so weisen wir auf diese Anmer-
kungen erst mit Sternchen, dann, wenn diese nicht aus-
reichen, mit Kreuzchen hin — der Gebrauch soll aus den
kirchlichen Agenden stammen, wo jedesmal, wenn der
Geistliche beim Gebete ein Kreuz zu schlagen hatte, ein
solches angezeichnet war. Die Engländer nennen ein solches
Kreuzchen der Ähnlichkeit wegen (denn es ist ein lateinisches
Kreuz mit einem langen Unterarme) einen Dolch (a dagger),
wie es andere Male ein Spiess genannt wird (an ohdisk).
Hat Edmund Burke den Dolch geschleudert, müssen wir
nicht die Anmerkung dazu machen? Man halte es mir zu
gute, wenn sie ein wenig lang ist: ich bin ein Deutscher.
*) Diese Anekdote soll nachmals auf den Kolumbus übertragen worden
sein, vergleiche Rudolf Kleinpaul Florenz in Wort und Bild, Seite loi.
Viertes Kapitel.
Die 'Wahl von Bildern.
Blnieispraclie — BriefiarkeBspraclie.
I. Die Bildersprache des Vollces.
Philomela stickt Bilder, da sie nicht mehr sprechen kann — wie sie, geht die
Sprache von schlichten Worten zu poetischen Bildern über — in Bildern zu
reden scheint eine Sache der Dichter und der Redner zu sein — aber Männer
jeden Schlages wählen gern Bilder, um ihre Gedanken kurz und treffend auszu-
drücken — das Volk selbst ist an dichterischen Anschauungen reich, das Volks-
gemüt die grosse Quelle der poetischen Metaphern — die Bilder wechseln von
Land zu Land und von Nation zu Nation — die Sprache eine phantasievolle
Dichterin — das Volk wählt gel^entlich noch greifbarere Bilder — es wird
etwas gezeigt, geschickt, gethan, was ins Auge fallt — sind die Dinge in natura
nicht zur Hand, so nimmt man Symbole der Dinge — Beispiele werden aufge>
sucht und Fabeln in Szene gesetzt — die Wirkung einer solchen Demonstration
eine ausserordentliche — wie ein Pastor zwei bissige Hunde eine philosophische
Disputation vornehmen lasst — zwei prozessierende Bauern, die eine fette Kuh
auseinanderreissen, während sie der Advokat melkt — wie Sancho Panza als
Gouverneur eine Frau, die über Notzucht klagt, ad absurdum fuhrt.
Von der Philomela wird erzählt, deiss sie, von Tereus
entehrt und der Zunge beraubt, ihrer Schwester Prokne
das Verbrechen durch ein Gewebe kundgethan habe, in
welches sie den ganzen Hergang stickte — es wäre absurd
anzunehmen, dass sie ein paar Worte hineingewoben habe,
denn das hätte sie leichter haben können; man muss sich
vielmehr denken, dass Philomela sticken konnte wie gemalt
— 294 —
und auf einem Peplus menschliche Figuren und Szenen
darzustellen wusste, die mündlich zu beschreiben sie nicht
mehr imstande war. Sie wird dadurch zu einem Typus für
die Sprache, die sogem von schlichten Worten zu poeti-
schen Bildern übergeht und der es oft leichter wird, die
Dinge zu malen als adäquat auszudrücken.
In Bildern zu reden, Metaphern und Allegorien ver-
schwenderisch auszuteilen, mit kühnen und prachtvollen
Vergleichen um sich zu werfen, erscheint uns im allge-
meinen als die Sache der Dichter und Propheten; die Lehre
von den poetischen Bildern, den Tropen, den Metaphern und
anderen Figuren macht ja einen Hauptbestandteil der Poetik
und der Rhetorik aus. Aber längst ehe es eine Poetik
gab, haben die Poeten in der Lüie ein Bild der Unschuld,
in der Böse ein Bild der Glückseligkeit gesehen und die
Schönheit geliebter Mädchen im Stil des Hohenliedes aus-
gemalt. Der Freiherr von Vincke hält im prei|ssischen
Landtag eine Rede — während derselben zieht ein Gewitter
auf und wieder vorüber — gleich knüpft er mit Geistes-
gegenwart an dieses Naturereignis an und spricht von der
durch Wolken brechenden Sonne und dem wiederherge-
stellten Frieden der Natur. Und die Poeten haben auf
diese Blumen der Rede durchaus kein Pri\dlegium, sintemal
bedeutende Männer jeden Schlages gern Bilder wählen, um
ihre Gedanken kurz und treffend auszudrücken. Selbst
Generale, die doch gewiss das Leben mehr von der rauhen
Seite ansehen. Der kluge und energische Feldherr der
Athener Iphikrates — derselbe, welcher die beherzigens-
werte Äusserung that, ein Kommandant könne nichts
Dümmeres sagen, als: ich hätte das nicht erwartet (ov% av
TtQoaedÖTCYjaaJ — Iphikrates behauptete, ein Heer Hirsche, von
einem Löwen geführt, sei mehr zu fürchten,- denn ein Heer Löwen,
von einem Hirsch geführt. Und Philipp von Makedonien
sagte, wenn ich nicht irre, er getraue sich jede Festung zu er-
obern, wenn es ihm gelinge, einen mit Gold heladenen Esel hinein-
zutreiben, was die Engländer ausdrücken: An ass looM
— 295 —
with gold climbs to the top of a Castle y oder die Spanier: Asno
€on ovo cdcanzalo todo. Die Raben wollen einen Geier haben,
sagte Kurfürst Friedrich von Sachsen seinen Getreuen, als
sie ihm Vorwürfe machten, dass er die Wahl Karls V.
unterstützte, in demselben Stile. Viele solche Bilder sind
nachmals ins Volk gedrungen und sprichwörtlich geworden;
welch ein unerhörtes Glück hat zum Beispiel die Phrase
Schwamm drüber gemacht, die aus dem Bettelstudenten stammt
und ziemlich genau mit den Versen Comeilles zusammentrifft:
Sur les noires couleurs d'un si triste tableau
II faut passer P^ponge, ou tirer le rideau —
WOZU ein Kritiker bemerkt, dass diese Metapher bei den
Römern nicht erträglich gewesen wäre, weil bei ihnen das
AVort Schwamm einen schlechten, schmutzigen Klang hatte.
Aber das Volk selbst ist an dichterischen Anschau-
ungen überreich und das Volksgemüt die grosse Quelle
der poetischen Metaphern; der gewöhnliche Ausdruck des
Indianers und des Orientalen enthält kühnere Figuren als
der höchste lyrische Schwung des Europäers. An dieser
Quelle haben die grossen Männer, die ein Bild aufbrachten,
gewöhnlich selbst geschöpft, aus dem reichen Schatze der
deutschen Sprichwörter entnahm der Fürst Bismarck noch
in seiner letzten Rede im Reichstag (6. Februar 1888) das
Bild von den Hechten im europäischen Karpfenteich. Man fragte
den König von Sparta Agesilaus, warum Sparta ohne
Mauern sei. Er wies auf die Soldaten: das sind die Mauern
Lacedämons! — . Aber sagt das nicht jeder Kriegsbericht-
erstatter, dass meinetwegen die Sachsen vor Paris wie
Mauern gestanden haben? — Wir alle reden wohl nach
dem Vorgange Daniels von einem Koloss mit thönernen
Füssen, Bekanntlich drohte Pius IX. am 24. Juni 1872, dass
dem Koloss des neuen Deutschen Kaiserreiches ein Steinchen den
Fuss zerschmettern werde. Indessen, das Traumgesicht des
Königs Nebukadnezar, denn dieser war es, der die Vision
hatte, kann uns nicht so sehr befremden, wenn wir be-
denken, dass es solche eiserne und thöneme Statuen wirk-
— 296 —
lieh gab und dass man vielleicht schon damals von dem
eisernen und irdenen Topfe sprechen mochte (c'est le pot de
terre contre le pot de fer). Stein gegen Krug und Krug gegen
Stein, wird immer des Kruges Verderben sein, heisst es im Dim
Quixote. Wer hat zum erstenmal von einer lcu:henden Gegend,
vom Lauf der Dinge und vom Zahn der Zeit gesprochen?
Wer zum erstenmal die untere Partie eines Berges seinen
Fuss, den Gipfel sein Haupt genannt? — Bilder sind etwas
allgemein Menschliches, den Isländern und den amerikani-
schen Wilden so gut wie den Arabern und Persem Eigen-
tümliches, wenn sie gleich von Nation zu Nation und von
Land zu Land wechseln. Der Deutsche spricht vom Mai
des Lehens, der Italiener vom Äprile deUa vita. Der Bewohner
des Nordens vergleicht den geliebten Gegenstand mit einem
wolkenlosen Himmel, der Südländer vergleicht ihn mit dem
Tau. Der Psalmist vergleicht den Frommen mit dem
Schönsten, was der Hebräer kennt, dem charakteristischen
Emblem üppiger Fruchtbarkeit und materiellen Wohlstandes,
mit einem Baume, gepflanzet an den Wasserhächen ; in China
wird ein Kaiser, der sein Volk glücklich macht, dem Süd-
winde verglichen. Unter seinem Weinstock und unter seinem
Feigenbaum zu sitzen, galt den Juden für den Inbegriff von
Frieden und Glückseligkeit; wenn die Armen in London
unter freiem Himmel übernachten, so schlafen sie unter der
blauen Bettdecke (under the blue blanket) , und den londoner
Nebel nennen sie Erbsensuppe (Peas' soup). In den Bädern
von Lucca sagen die Eingebomen, sie leben von HöUhrod
und Wolkenwein, sie meinen, sie hätten kein anderes Mehl,
als das von Kastanien und kein anderes Getränk als Wasser;
in den Gebirgsdörfem des Vogtlandes und des Erzg^ebirges
sagen die Leute, es schneie Brod, weil bei Schneefall die
Bewohnerschaft aufgeboten wird, Strassen und Wege offen
zu halten und die Gemeinden von Staatswegen eine Ver-
gütung dafür erhalten. In den Gegenden, wo Baumwolle
gesponnen wird, heisst es auch, es schneie Betteüeute, weil
die Spinner die abfälligen Baumwolleflocken Bettelleute
— 297 —
nennen; während umgekehrt ein Neger, der zum erstenmal
ein Schneegestöber sah, in die Hände klatschte und rief:
da regnet's BaumwoUe! — Bei allen diesen Vergleichen ist sich
das Volk des Bildes noch bewusst; wie viele Bilder braucht
es erst, ohne darum zu wissen. Unsere ganze Psychologie,
was sage ich, jedwede Wissenschaft steckt voll Metaphern,
die Sprache ist eine phantasiereiche Dichterin, das erste
beste Wörterbuch eine bunte Bildersammlung.
Ja, das Volk spricht gelegentlich in noch greifbareren
Bildern. Es wird gar nicht gesprochen, gesprochen in
unserem Sinne: es wird etwas gezeigt, etwas geschickt,
etwas gethan, was ins Auge fällt. Daran mag sich der
aufmerksame Zuschauer, wie es ehemals hiess, ein Bude
nemen, das heisst, ein Beispiel nehmen;, denn was geschieht
und vorgemacht wird, ist abermals bildlich gemeint. Unter
allen Umständen würde es natürlich das Beste sein, wenn
wir die Gegenstände, von denen wir reden, selbst exhibieren
und, wie jener irrsinnige Böttcher aus Frankfurt (der vor
zwei Jahren dem Kaiser in Ems ein Mittel gegen Über-
schwemmungen angeben wollte und zu dem Ende einen
mit Erde gefüllten Wasserkrug vor ihn hinwarf) dem ver-
ständnisvollen Blicke unseres Freundes unterbreiten könnten;
leider sind sie nur nicht immer zur Hand. Alexander der
,Grosse wollte Xenokrates, den Freund und Schüler Piatos,
mit Geld bestechen: statt aller Antwort lüftete der Weise
den Deckel seines Linsentopfes. Aber wir sitzen nicht
immer bei Tische und haben nicht immer Linsentöpfe vor
uns. Wir müssen uns also zu helfen suchen und anstatt
der Dinge in natura Symbole der Dinge und Analogien
bringen, die sich bieten; und zwar malen wir diese Symbole
nicht, wir nennen sie nicht, wir schreiben sie nicht, sondern
wir greifen sie aus dem Leben selbst heraus und produ-
zieren sie leibhaftig. Vielleicht, dass wir mündlich ein paar
erklärende Worte hinzufügen, aber nötig ist es nicht — der
Mann mag selber denken, selber erraten, was geschehen
ist, geschehen wird und muss, und klug werden durch Er-
— 298 —
fahning. Und wozu diese kindliche Belehrung, dieser An-
schauungsunterricht? Warum machen wir uns die Mühe,
Beispiele aufzusuchen, wo wir doch reden könnten? Ah,
zunächst um der Wirkung willen. Die Wahrheit, die man
sagt, wird überhört; die Wahrheit, die man zeigt, wird nie
vergessen. Die Prediger reden in den Wind; die Fabel
geht zu Herzen. Wirklich gleicht das Bild, wenn dadurch
Moral gepredigt werden soll, oft völlig einer Fabel, die
man in Szene setzt, wie damals, als Lykurg seinen Spar-
tanern die Macht der Erziehung an zwei von Einer Mutter
stammenden, aber verschieden erzogenen Hunden versinn-
lichte: er warf einen Knochen hin und liess einen Hasen
laufen; der Schoosshund stürzte sich auf den Knochen, der
Jagdhund auf den Hasen. Analog liebte es ein alter jovialer
Landpastor, dem Herrn Kandidaten mit seinen zwei grossen
Hunden einen Begriff von einer philosophischen Disputation zu
geben: die beiden Hunde hatte er Aristoteles und Gartesius
getauft, und nun brachte er sie zusammen. Aber die Bestien
waren einander keineswegs gewogen: wie er sie näher be-
freunden wollte, fingen sie an zu murren und zu knurren,
und das Ende vom Liede war, dass sie übereinanderher-
fielen und eine wütende Beisserei entstand. Das war eben
die philosophische Disputation. Und wie schön hat Lafontaine
in seiner Fabel von den zwei Ziegen, die sich auf einem
schmalen Brückchen begegnen, einander nicht ausweichen
wollen und darüber selbander ins Wasser fallen, den lächer-
lichen Rangstreit geschildert, der oft beide Rivalen zu
Grunde richtet! Der Dichter glaubt in den beiden Ziegen
avec Louis le Grand,
Philippe-Quatre qui s'avance
Dans Püe de Conference,
ZU sehen; ich wünschte, dass die kaustische Zeichnung,
welche Grandville der Fabel vorausgeschickt hat, im Okto-
ber 1746 den Damen von PfaiBFenrath und von Gleichen am
Meininger Hofe vorgehalten worden wäre — dass das Bild
im Fürstenschlosse zu Meiningen gehangen hätte, wie in
— 299 —
der Gaststube des Hotels zum Boten Kliff in Kampen auf
Sylt zu Nutz und Frommen der prozessierenden Friesen ein
anderes Bild hängt. Eine fette Kuh wird von zwei Bauern
hin- und hergezerrt: der eine zieht sie an den Hörnern, der
andere am Schwanz, das arme Tier möchte sich zerreissen.
A^or der Kuh sitzt gemächlich der Advokat und melkt sie.
Eine solche Demonstratio ad oculos ist die beste unter allen,
wie die Schule des Lebens die beste ist. Das Rätsel regt
die Einbildungskraft an und gewährt dem Empfänger das
Vergnügen des Selbstfindens, des Erratens. Wie die Fran-
zosen sagen: die Augen haben mehr Kredit als die Ohren (les
yeux ont plus de credit que les oreüles).
Unter den vielen Beweisen von wahrhaft salomonischer
Weisheit, die der treifliche Sancho Panza als Statthalter
der Insel Barataria gibt, ist auch der folgende. Eine junge
Frau fleht ihn um Gerechtigkeit an, weil sie von einem
Schweinehirten genotzüchtigt worden sei; der Mann leugnet,
Gewalt gebraucht zu haben, sie sei nur nicht zufrieden ge-
wesen und klage ihn fälschlich an. Sancho Panza fragt
den Hirten, ob er Geld bei sich habe, und da derselbe ein
Beutelchen voll Dukaten vorbringt, so heisst er ihn das
Beutelchen der Frau einhändigen. Wie die letztere voll
FVeuden abgezogen ist, so sagt Sancho Panza zu dem
Hirten, er solle ihr nachgehen und es ihr wiederabzu-
nehmen suchen. Die Frau aber hält ihr Beutelchen fest,
versteckt es unter ihren Röcken und verteidigt es wie ihr
Leben. Als worauf sie Sancho Panza bedeutet, dass sie
kein Herkules imstande gewesen wäre zu entehren, wenn
sie sich damals ebenso tapfer gewehrt hätte, die Schwätzerin
von der Insel ausweist und das Geld dem Hirten wieder-
gibt {Don Quixote, Secunda Parte, Capitulo 45). Die Geschichte
kursiert in vielen Variationen, eine der bekanntesten und
zugleich treffendsten ist die, wonach ein Dorfschulze einer
ebenfalls über Notzucht klagenden Dirne eine Degenscheide
vorhält und sie bittet, das Käsemesser hineinzustecken: er
aber fährt immer mit der Scheide hin und her, und zieht
— 300 —
sie, wenn das Mädchen drum und dran ist, jedesmal wieder
weg, sodass die Dirne endlich ganz ärgerlich wird und sagt,
ja, wenn er nicht still halten wolle, bekomme sie das Ding
freilich nicht hinein — das nennt man Bildersprache des
Volkes.
II. Die Bilder werden gewShIt, um die Wahrheit eindring-
lich zu machen.
Das eiserne Schloss und die Leimrute beim Eidschwur Don Alfonsos des Tapferea
^- symbolische Gebräuche und Handlungen — Nap>oleon zertrümmert das Papst-
tum — er wird von Pius VII. ein Komödiant genannt — Gelimer, der letzte
König der Vandalen, bittet in seiner höchsten Not um ein Brot, einen Schwamm
und eine Harfe — die Botschaft der Scythen an Darius: ein Vogel, eine Maus,
ein Frosch und fünf Pfeile — der heilige Bernhard steckt seinem Vater das
Haus an, um ihm die Hölle anschaulich zu machen — Franklin schickt dem
englischen Minister Klapperschlangen — Aristodicus jagt die Sperlinge aus dem
Tempel des Apollo — die Bienen in der Bildersprache — wie ein Pädagog die
abstrakten und die konkreten Begriffe bezeichnet — der rote und der schwarze
Stiefel Roskowskis — die Verhaltungsmassr^eln , die Justinus Kemer seinen
Kranken mit verschiedenfarbigen Fahnen gibt — das Bild liegt auf der Strasse
— die Aufnahme des Prinzen Aureng-Zeyb in die Schweigende Akademie.
Vorm Altare der Gadea
Kniend seine Hand gelegt
Auf das Evangelium
Und ein Eisenschloss und eine
Leimrut —
also schwört Don Alfonso der Tapfere in Herders CW.
Es ist anzunehmen, dass das Schloss und die Leimrute die
Bestimmung haben, ihn auf die bindende Kraft des Schwu-
res aufmerksam zu machen, wie im Aberglauben des Mittel-
alters auch ein eingeschlagener eiserner Nagel zur Bezeich-
nung einer festen und bleibenden Sache dient. Dergleichen
symbolische Grebräuche tragen wesentlich dazu bei, die Feier-
lichkeit sei es nun eines Eides oder sonst eines öffentlichen
Aktes zu erhöhen: lasst bei einer Verlobung die Ringe,
— 301 —
bei einem Begräbnis die Handvoll Erde, bei einer Grund-
steinlegung die drei Hammerschläge, bei einer Eidesleistung
auch nur die Hand weg, die in die Höhe gehoben werden
soll — die rechte Weihe fehlt.
Und jede Rede gewinnt durch eine symbolische Hand-
lung, die gleichzeitig ausgeführt wird, einen ungeahnten
Nachdruck — vor der dramatischen Aktion verlieren die
gesprochenen Worte allen Klang, ja die Aktion ist so sieges-
gewiss, dass sie gelegentlich die Rede abwirft, wie ein
feuriges Ross den Reiter, und selbständig dahinstürmt.
Ein Steinchen, hatte Pius IX. prophezeit, werde dem
Koloss des Deutschen Reiches den Fuss zerschmettern.
Das Steinchen kam nicht geflogen, dagegen war einem
seiner Vorgänger der thöneme Fuss vorübergehend wirklich
zerschmettert worden. Bekanntlich wurde der E^irchenstaat
A. D. 1 809 dem französischen Kaiserreich einverleibt und der
Papst Pius VII. nebst seinem Staatssekretär Kardinal Pacca
gefangengenommen und nach Frankreich gebracht. Bei
einer Unterredung mit ihm zu Fontainebleau warf Napoleon
eine porzellanene Vase um und rief: so will ich das Papsttum
zertrümmern! — Der Papst zuckte die Achseln und nannte
den Kaiser einen Komödianten.
Wie viel diese Bezeichnung für sich hatte, will ich
hier nicht entscheiden, aber konstatieren, dass die drastische
Illustration der ausgestossenen Drohung bei einem mäch-
tigen Manne wie Napoleon diu-chaus nicht unglücklich und
überhaupt nicht ungewöhnlich war. In Glück und Unglück
haben Könige und Bettler zu Bildern gegriffen, ihre Mei-
nung zu erläutern und den Menschen eine Wahrheit besser
zu Gemüte zu führen, sie ihnen eindringlicher zu machen,
als es mit blossen Worten hätte geschehen können; und
wenn das einem Papste komödienhaft erscheint, so geruhe
sich Seine Heiligkeit zu erinnern, dass ein Komödiant wohl
einen Pfarrer lehren könnte.
Als der letzte König der Vandalen, Gelimer, in Afrika
von Belisar geschlagen und in eine Bergfeste eingeschlossen
— :u)2 —
worden war, wies er wiederholte Aufforderungen sich zu
ergeben zurück und erbat in seiner höchsten Not nichts
weiter als ein Brod, um wieder einmal zu wissen, wie dies
schmecke; einen Schwamm, um sein thränendes Auge zu
trocknen, und eine Harfe, um sein Unglück zu singen.
Die Form dieser Bitte hat etwas Rührendes, aber sie ist
offen ausgesprochen und lässt, falls Gelimer den Zweck der
gewünschten drei Gegenstände selbst so ausfiihrHch ange-
geben hat, nichts zu supplieren übrig. Dagegen stelle man
sich einmal vor, die Feinde hätten dem Gelimer ungebeten
ein Brod, einen Schwamm und eine Harfe geschickt, und
er selbst hätte den Sinn der Sendung erraten sollen. Das
wäre Bildersprache gewesen, kurze, prägnante, konzentrierte
Bildersprache, wie sie die Scythen sprachen. Als Darius I.
um 513 in das Land der Scythen eingefallen war, forderte
er den feindlichen Feldherrn auf, ihm zum Zeichen der
Unterwerfung Erde und Wasser darzubringen. Heutzutage
hätte er vielleicht Brod und Salz, die bekannten Symbole
der russischen Gastfi"eundschaft , gefordert. Genug, der
Scythe antwortete, Darius solle sehen, was er Schönes be-
kommen werde. Wirklich, als das persische Heer aus
Mangel an Lebensmitteln nicht mehr weitermarschieren
konnte, kam ein scythischer Herold an und überbrachte
dem Darius eitien Vogel, eine Maus, einen Frosch und ßnf
Pfeile. Zu bestellen war nichts dabei. Darius triumphierte,
er legte sich die Botschaft in dem Sinne aus, dass man
sich unterwerfen wolle : denn die Maus lebe von Feld-
firüchten wie der Mensch; der Frosch sei ein Geschöpf des
Wassers; der Vogel gleiche dem Pferde; und die Pfeile
seien die Stärke der Feinde, die sie ihm hiermit übergäben.
Gobryas, ein edler Perser, löste das Rätsel. Nach seiner
Meinung hiess das: Wenn ihr nicht in die Luft auffliegt,
Perser, wie die Vögel; oder euch in die Erde verkriecht, wie
Mäuse; oder mit den Fröschen in die Seen springt — werdet ihr
nicht in euer Land zurückkehren, getroffen von diesen Pfeüenl
— Darius fühlte sich in der That bewogen, umzukehren.
— 303 —
Hei, welch ein kurzes, bündiges Telegramm! Das nur vier
Kemworte enthält und die Ergänzung dem Verstände des
Adressaten überlässt! Und wie steigert gerade diese Kürze
die Energie des Ausdrucks! —
Im Gegenteil, wer in diesem Stile zu reden vermag,
der ist ein grosser Redner; mit solchen Argumenten wird
mehr durchgesetzt als mit rührenden Vorstellungen.
Ein gewöhnlicher Prediger macht seinem Beichtkind
die Hölle heiss; der heilige Bernhard zündete seinem Vater
Tesselin gleich den Schlosshof an, um ihm die Hölle an-
schaulich zu machen, in der er brennen werde, wenn er
die Eitelkeit der Welt nicht verlassen wolle! — War es
zu verwundem, wenn der General Tesselin alles im Stiche
Hess, seinem Sohne nach Clairvaux folgte und von ihm
unter die Ordensnovizen aufgenommen werden konnte? —
Zwei ähnliche Anekdoten fallen mir ein, die mit der
Botschaft der Scythen verglichen werden können, die eine
aus der neueren Zeit, die andere aus dem grauen Altertum.
Das eine Mal handelt es sich um Individuen, die man los
sein will, das andere Mal um Individuen, gegen die man
das Gastrecht nicht verletzen soll; beidemale müssen Tiere
herhalten, um die Beweisführung zu unterstützen. Bekannt-
lich bestand in England bis vor kurzem das System der
Deportation. Das nur auf sich bedachte Mutterland er-
sparte den Bau von Zuchthäusern und Gefängnissen, wenn
es seine Verbrecher nach überseeischen Provinzen, nament-
lich nach Nordamerika, brachte. Dieses System stiess bei
den freien Einwanderern auf erbitterten Widerstand, weil die
Deportierten in jenen weiten, menschenleeren Gegenden
schwer zu überwachen und ein gefährliches Bevölkerungs-
element waren. Der treffliche Franklin gab diesem Wider-
stände einen schlagenden Ausdruck. Als eben wieder eine
Flotte Sträflinge angekommen war, schickte er dem eng-
lischen Minister einen Knäuel Klapperschlangen. Für den
königlichen Garten! — Die Verbrecher wurden indessen
erst seit der Parlamentsakte von 1784 nicht mehr nach
— 304 —
Nordamerika, sondern nach Vandiemensland und Neusüd-
ti'ales deportiert
Das Pendant zu diesen Klapperschlangen bilden Sper-
linge, die ähnlich wie die Schwalben seit alter Zeit mit
einer Art Verehrung betrachtet werden. Die Einwohner
der kleinasiatischen Stadt Cyme waren wiederholt durch
ein Oreikel aufgefordert worden, den Persem einen gewissen
Pactyes auszuliefern, der in Cyme Schutz gesucht hatte.
Ein angesehener Bürger Aristodicus wollte dem Apollo
beweisen, wie unrecht es sei, einen Flüchtling zu verraten.
Er jagte alle Sperlinge aus dem Tempel, die daselbst niste-
ten. Der Grott stellte ihn ob dieses Frevels zur Rede;
tcie, sagte Aristodicus, Du, o Herr, hilfst den Bittenden, und
wir soUen einen armen Menschen herausgehen, der uns um unseren
Schutz angefleht hat? — Der Sperling hat ein Haus gefunden,
nämlich Deine Altäre, Herr Zebaoth, heisst es schon in den
Psalmen.
Ludwig XIL, le Pere du peuple, zog 15 lo in das mein-
eidige Genua, auf seinem Panier war eine Bienenkönigin
mit der Umschrift: Notre Boi n'a point d'aiguiüon; dies machte
Papst Urban VIII., ein Barberini, nach, indem er, dessen
Wappen die Bienen waren, auf den- anzüglichen Hexameter
eines Franzosen:
Gallis mella dabunt, Hispanis spicula figent
antwortete :
Cunctis meUa dabunt, nulli sua spicula figent;
Spicula rex etenim figere nescit apum —
wobei zu bemerken wäre, dass die Bienenkönigin doch einen
Stachel hat, ihn allerdings gegen Arbeitsbienen und gegen
den Menschen nicht, wohl aber gegen andere Königinnen
gebraucht.
Immer wieder haben wir wie in der Fabel die Tiere
sprechen lassen; aber in ihrem Streben nach Anschaulich-
keit und durch die Verhältnisse gezwungen, verfallen die
Leute oft auf die abenteuerlichsten Metaphern. Wozu haben
Sie diese Fahnen da stecken, Herr Oheramtsarzt? Und wozu haben
— 305 —
sie die Farben Bot, Gelb und Schwarz? — Also ward Justinus
Kemer , wie der Sohn des Dichters erzählt , von seinen
Gästen in Weinsberg interpelliert, unter denen auch Uhland
war. Jtty das hat eine eigene Bedeutung, sagte der originelle
Arzt. Sie tvissen, ich habe immer viel Besuch, und da kann ich
nicht immer zu meinen Kranken aufs Land fahren, deshalb gebe
ich ihne7i vom Turme au^ ein Zeichen, was sie zu thun haben.
Stecke ich eine rote Fahne heraus, so heisst es: es herrscht ein
entzündlicher Zustand, man muss Ader lassen! Eine gelbe bedeutet:
es ist galliger Zustand, laxiert! Eine schwarze: keine Medizin hilft
mehr was; geht zum Pfarrer! Stecke ich aber eine schwarz-rot-
goldne aus, da heisst es: Batbern, ihr habt die Freiheit! Ihr dürft
thun, was ihr wollt! — Uhland lachte herzlich über diese Er-
klärung. Buko von Lüneburg, ein Pädagog des vorigen
Jahrhunderts, bezeichnete die konkreten Begriffe mit einem
gestiefelten, die abstrakten Begriffe mit einem blossen Fusse;
und der polnische Edelmann Roskowski scheint an dieser
konkreten Ausdrucksweise Gefallen gefunden zu haben. Im
Jahre 1768 war Westpreussen noch polnisch, und die natio-
nale Partei des polnischen Adels verfolgte im Bunde mit
den Jesuiten die Deutschen und die Protestanten leiden-
schaftlich. Damals zog denn besagter Roskowski einen
roten und einen schwarzen Stiefel an, der eine sollte Feuer,
der andere Tod bedeuten — so ritt er brandschatzend von
einem Orte zum anderen und Hess endlich in dem Städtchen
Jastrow dem Pastor Willich Hände, Füsse und Kopf ab-
hauen. Mich dünkt, ich höre die Jastrower Kinder schreien:
der rote und der schwarze Stiefel kommt! — Aber man sieht,
dass die Sprache, die vielbeschäftigte Malerin, wenn es gilt
zu charakterisieren, selbst die Stiefel nicht verschmäht. Sie
nimmt, was ihr gerade in die Hand kommt, sie kann alles
brauchen. Das Geld liegt auf der Strasse, sagt der Kauf-
mann, man muss es nur aufheben. Auch das Bild liegt
auf der Strasse.
Geistesgegenwart! Es kursiert eine hübsche Geschichte
aus dem Orient, die ich (mit allem Vorbehalt) auf historische
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 20
— 306 —
Personen zurückzuführen versuchen will. In Ahmednagar, der
Hauptstadt des Grossmogids, gub es im XVII. Jahrhundert
eine Akademie, die schweigende zubenannt. Die Mitglieder
derselben dachten viel, schrieben wenig, sprachen noch
weniger. In diese Akademie wollte Aureng-Zeyb, der Sohn
des Grossmoguls, der seine weitgehenden Pläne durch die
Pflege religiöser Übungen und durch anscheinende Zurück-
haltung zu verbergen suchte, aufgenommen werden. Aber
die Schweigende Akademie durfte nur hundert Mitglieder
zählen, und diese Zahl war gerade voll. Um daher dem
Prinzen sein Bedauern auszudrücken, nahm Melik-Saleh,
sein Lehrer, ein Glas und füllte es bis an den Rand mit
Wasser. Aureng-Zeyb wollte sich zurückziehen, als er zu
seinen Füssen ein Rosenblatt bemerkte; er hob es auf und
legte es behutsam auf die Wasserfläche, die dadurch kaum
die leiseste Erschütterung erlitt. Er ward einstimmig ge-
wählt.
Die Aufnahme war schön, und schön waren auch die
Komplimente, welche folgten. Aureng-Zeyb sollte sich be-
danken; er schrieb die Zahl Hundert an die schivarze Tafel
und eine Null davor:
oioo;
das sollte ausdrücken, dass die Akademie darum nicht mehr,
nicht weniger wert sein werde. Augenblicklich antwortete
Melik-Saleh damit, dass er die Null anhing:
looo;
das hiess, die Akademie werde nun zehnmal so viel wert
sein. Es ist bekannt, dass Aureng-Zeyb, der 1707 zu Ahmed-
nagar starb, ein extravaganter Kopf, selbst mehrere Aka-
demien gründete und viele Gelehrte an seinen Hof zog.
— 307 —
III. Die Bilder werden gewählt, um die Wahrheit nicht
gerade herauszusagen.
Die Bildersprache ist ebenso undeutlich wie deutlich — es gibt Dinge, die man
nicht gern mit Worten sagt — die Engländerin und die Türkin, beide geben
den Grund, warum sie sich von ihrem Manne scheiden lassen wollen, bildlich an
— der Schuh ein Symbol der weiblichen Scham — die schamhaften Frauen
sprechen überhaupt von geschlechtlichen Dingen nicht gern direkt — die Männer
bedienen sich der Bilder aus Furcht oder aus Vorsicht — Thrasybulus, der
Ähren, Tarquinius Superbas, der Mohnköpfe abhaut — Commodus tritt mit
einem Straussenkopfe in der Hand unter die Senatoren — die Bildersprache be-
sonders für Schimpf und Spott geeignet — die Belagerung von Kufstein — das
Hundetragen — anzügliche Zusendungen: Hunde, Federbälle, Plätteisen, Kasjta-
nien, Hirsekörner, Wassermelonen — zu den anzüglichen und bedeutsamen Sen-
dungen gehören auch die Blumen und die frankierten Briefe — der Selam der
Türken — die goldne Rose, die Lutherrose, die geheime Gesellschaft der Rosen-
kreuzer — die Art, die Freimarken aufzukleben — das Häckselstreuen und der
Strohkranz, Andeutungen, dass das Mädchen ein Kind bekommen habe — der
Messerschmied und der Advokat, Typen für die Bildersprache des Volkes.
Die Bildersprache ist die deutlichste unter allen, sobald
sie verstanden wird. Ja, sobald sie verstanden wird! Und
wer kann sagen , dass er richtig verstanden hat? Das
scheint ein Widerspruch zu sein, und doch ist es so. Wer
in Bildern spricht, hat immer den Vorteil, dass er an den
Verstand des anderen appelliert und eventuell diesen Ver-
stand in Zweifel ziehen kann. Ein oft benutzter Vorteil!
— Spürt man den Motiven nach, welche die Menschen
veranlassen, sich einer so seltsamen Ausdrucksweise zu be-
dienen, so entdeckt man nicht immer die Absicht, deutlich
zu sein. Häufig genug gerade die entgegengesetzte: nicht
deutlich zu sein, die Wahrheit nicht unumwunden, für jeder-
mann verständlich herauszusagen und sich nicht zu kompro-
mittieren. Es gibt Dinge, die man nicht gern mit Worten
sagt, und wir sind gelegentlich in dem Falle jener Englän-
derin, die auf Scheidung klagte, den Scheidungsgrund nicht
angeben, aber aufschreiben wollte und keine Tinte in der
Feder hatte.
Oder in dem Falle der Türkin, die gleichfalls von ihrem
Manne geschieden werden will, weil sie derselbe auf un-
20*
- 308 —
natürliche Weise braucht, auf die Frage des Kadi's aber:
weshalb sie denn geschieden werden wolle, wiederum nichts
antwortet, sondern ihren Schuh auszieht und denselben dem
Kadi verkehrt hinhält. Ich weiss nicht, ob die Tochter des
Megukles ihrer Mutter gegenüber dcisselbe Bild gebraucht
hat, als sie sich über eine gleiche Behandlung von Seiten
des Pisistratus beklagte; jedenfalls ist diese Symbolik, die
der österreichische Diplomat Augier Ghislain de Busbecq
bekannt gemacht hat,*) da sich der Fstll bei den eigentum-
lichen Neigungen der türkischen Männer häufig wiederholt,
in der Türkei hergebracht wie die Ausschuhung des ehe-
scheuen Schwagers durch die verwitwete Schwägerin, die
sogenannte Chaliza, die wir auf Seite 270 erwähnten, bei
den Juden; und gründet sich auf die weitverbreitete An-
schauung, nach welcher der Schuh der weiblichen Scham
entspricht: der Fuss passt in den Pantoffel, wie das männ-
liche Glied in die Mutterscheide. Daher sagen die moder-
nen Araber, wenn sie eine Frau Verstössen, nach Johann
Ludwig Burckhardt (Notes on the Bedouins and Wahäbys I, 113):
Sie war mein Pantoffel; ich hohe ihn weggeworfen — und man
erinnere sich an die Antwort, die einst ein Römer seinen
Freunden gab, als er sich von einem schönen, verständigen
und fruchtbaren Weibe hatte scheiden lassen: er streckte
seinen Fuss vor und zeigte ihnen seinen Schuh, einen tadel-
losen Calceus — ist dieser Schuh nicht elegant? Nicht neu und gut-
gemacht? Und doch weiss keiner von ev^h, an welcher Stelle er mich
drückt (Plutarch, Leben des L. Aemilius Paulus Macedonicus, Kapitel V).
Überhaupt ist dem Menschen alles Geschlechtliche, so
sehr sich auch seine Gedanken deirum drehen, um mich
*) Divortia fiunt inter Turcas pluribus de caussis, quas viris commini*:»
facile est. Dimissae redditur dos, nisi probrum aliquod dissrdio caussam dedit
Mulieres a^jius a viris divortunt. In caussis, quibus id eis permissum, hac con-
tinentur : . . , item si praeter naturae praescriptum (quod nefas Turcis familiäre)
eis abuti conentur. Tunc ad iudicem profectae se non posse diutius apud man-
tum manere testantur: iudice caussam quaerente, nihil respondent, sed exutum
pede calceum invertun t. Id iudici abominandaeVeneris indicium est (Z^/ö-
tionis Turcicae Epistola III, Seite 184. Amsterdam x66o, Druck von Elzevicr).
— 309 —
eines preussischen Ausdrucks zu bedienen, äscherig — nur
wenige Männer bringen es fertig, vernünftig davon zu reden,
in der Regel thun sie es mit einem lüsternen Lächeln, das
ebenso verdächtig wie kindisch ist, als ob sie vom Baum
der Erkenntnis wohl gegessen hätten, aber das doch nicht
verraten dürften — die sittsamen Frauen vollends scheinen
die unzüchtigen Worte mehr als die Unzucht selbst zu
perhorrescieren , sie glauben, die Feigenblätter seien vor
allem für den Mund gewachsen, sie lieben herzlich, aber
scheinen unwissend, was Liebe ist, imd wenn sie ihr Jawort
geben sollen, so flüchten sie in die Bilder. Eine Indianerin
von Neu-Mexiko verlobt sich, indem sie dem Erwählten eine
Schüssel Maisfladen stumm in die Hütte setzt; eine Deutsche
macht's ebenso, nur dass sie Weizenmehl nimmt und Rosen
darum herumsteckt. Die prüde Engländerin würde sich
scheuen, zu den Brautleuten nach den Worten der Schrift
zu sagen: Seid fruchtbar und mehret euch! — aber Reis wirft
sie nach der Trauung, dass es eine Art hat, von den Pake-
ten Reis, welche die Theehändler in der Nähe der Kirchen
feilhalten, verbraucht sie wenigstens ein paar (Seite 27).
Die Männer, die von Natur weniger zimperlich sind,
flüchten voreinander aus Furcht oder wenigstens aus Vor-
sicht in die Bilder. Sie wagen es nicht, ihre Pläne, ihre
verbrecherischen Absichten vor Uneingeweihten zu beken-
nen, sie furchten Verrat von Dritten, und deshalb gehen
sie in Gegenwart der letzteren mit der Sprache nicht heraus,
sondern hüllen sich in undurchdringliche Symbole, in Rätsel,
die nur der Wissende errät. Periander, Tyrann von Korinth,
war einer der Sieben Weisen. Er schickte, wenn wir dem
Herodot glauben wollen, einen Boten an den Tyrannen von
Milet, den befreundeten Thrasybulus. Der sollte ihm sagen,
mit welchen Mitteln er seinen Thron am besten befestigen
könnte. Thrasybulus machte mit dem Boten einen Spazier-
gang vor die Stadt. Sie kamen an ein Getreidefeld; hier
Hess er sich von dem Boten den Grund seiner Sendung
noch einmal auseinandersetzen und schlug daboi i.nmer die
— 310 —
r
hervorragenden Ähren ab. Darauf entliess er ihn, ohne
ein Wort hinzuzufügen. Als der Bote wieder in Korinth
ankam und Periander wissen wollte, was Thrasybulus Kluges
geraten habe, sagte der Bote, Thrasybulus sei ein Narr.
Das und das habe er gethan. Periander verstand die Mei-
nung, die dahin ging, dass er die einflussreichsten Bürger
aus dem Wege räumen sollte, und handelte danach. Und
dadurch ward, er angeblich im Grunde verändert.
Ganz so machte es ein Jahrhundert später Tarquinius
Superbus, der letzte König von Rom. Er war in Krieg
mit der Stadt Gabii. Unfähig, den Platz mit Waffengewalt
zu nehmen, brauchte er eine List. Sein Sohn Sextus
musste so thun, als werde er von seinem Vater schlecht
behandelt, und mit Striemen bedeckt nach Gabii entweichen.
Die Einwohner ernannten ihn zu ihrem Oberbefehlshaber
und schenkten ihm volles Vertrauen. Nun schickte Sextus
einen Boten zu seinem Vater und liess anfragen, wie er
ihm die Stadt in die Hände liefern sollte. Der König ging
eben in seinem Garten auf und ab, und da er niemand,
auch dem Boten nicht traute, gab er keine Antwort, son-
dern begnügte sich, von den längsten und schönsten Mohn-
stengeln mit seinem Stocke die Köpfe abzuhauen. Sextus
verstand: die leitenden Persönlichkeiten wurden zum
Tode verurteilt oder verbannt, und dann hatte er leich-
tes Spiel.
Selbst wenn der Tyrann die Macht hat, jemand zu
töten, so fehlt ihm doch wohl der Mut, ihm das ins Gesicht
zu sagen. Der feige Commodus, der soviel Schmach auf
den Senat gehäuft hat, drohte ihm doch nur bildlich. Er
trat einst während der Spiele, den abgehauenen Kopf eines
Strausses in der einen, das blosse Schwert in der anderen
Hand, unter die zuschauenden Väter und wackelte bedeut-
sam mit dem Kopfe. Die Pantomime soll so possierlich
gewesen sein, dass die Senatoren Lorbeerblätter kauten,
um nicht herauszuplatzen.
Diese eigentümliche Kombination von Deutlichkeit auf
— 311 —
der einen, Undeutlichkeit auf der anderen Seite macht die
Bildersprache besonders für Schimpf und Spott geeignet.
Als Kaiser Maximilian im Jahre 1504 Kufstein belagerte,
Hess der pfalzbayerische Festungskommandant Hans Pinze-
nauer diejenigen Stellen der Mauern, welche eine Stück-
kugel getroffen hatte, jedesmal mit einem Fuchsschwanz
abkehren. Welch ein Hohn! Der aufgebrachte Kaiser
schwur, dass von der Besatzung nicht ein Mann am Leben
bleiben solle.
Vor kurzem las man, dass der Kawass Mohammed,
der Mörder des österreichischen Konsuls Martin Hansal in
Chartum, auch Hansais Hund getötet und neben die Leiche
gelegt habe, sagend, anstatt eines Engels sei ein Hund
gekommen, ihn zu holen; und ebenso sah man während
des französisch -mexikanischen Kriegs am 5. Mai 1862 bei
Puebla, wo die Franzosen durch den mexikanischen General
Zaragoza geschlagen worden waren, die Leiche eines fran-
zösischen Offiziers an einem Baume und über ihm seinen
toten Hund hängen. Aber schon im Mittelalter musste der
Landfnedensbrecher , bevor das Todesurteil an ihm voll-
streckt wurde, einen Hund aus einem Gau in den anderen
tragen, um anzuzeigen, dass er wert sei, gleich einem Hund
erschlagen und aufgehängt, an der Seite eines Hundes auf-
gehängt zu werden.
König Christian, wie Alphonse Daudet Franz IL, den
Exkönig beider Sizilien nennt, schickte seinen Mätressen,
wenn er sie satt hatte, einen Affen; König Heinrich L, stark
genug, den Ungarn den Tribut zu verweigern, Hess im
Jahre 933 den ungarischen Gesandten einen verstümmelten
räudigen Hund überreichen. Die Geschichte kennt eine
Menge ähnlicher, mehr oder weniger anzüglicher Ge-
schenke. König Heinrich V. bringen, wie männiglich aus
Shakespeares gleichnamigem Drama (I, 2) bekannt, die fran-
zösischen Gesandten vom Dauphin eine Tonne Federbälle.
Die Semiramis des Nordens, Margareta, erhält von dem
schwedischen König Albrecht ein Plätteisen und einen
— 312 —
Schleifstein für Nähnadeln zugeschickt. Im Jahre 1016 er-
oberten die Sarazenen die italienische Stadt Luni, verjagten
den Bischof und verheerten das Land. Papst Benedict VIII.
stellte sich an die Spitze einer Armee, griff die Ungläubigen
an und Hess sie bis auf den letzten Mann niedermetzeln.
Ihr König rettete sich, die Königin wurde gefangen ge-
nommen und enthauptet. Erbittert sandte der König der
Sarazenen dem Statthalter Christi einen Sack voll Kastanien
und liess ihm sagen, er werde das nächste Jahr mit ebenso
viel Soldaten wiederkommen. Der Papst bediente ihn mit
gleicher Münze und schickte ihm ein Säckchen voll Hirse-
kömer. Der Sarazene liess sichs gesagt sein und blieb
hübsch zu Hause.
Der obenerwähnte Busbecq erzählt an einer anderen
Stelle, der Premierminister Rustan des Padischah Soliman
habe ihm, mit dem Bedeuten, dass demnächst bei Budapest
hart gekämpft werden würde, wenn Busbecq nicht auf die
Friedensbedingungen eingehe , gleichsam zur Abkühlung
für seine heisse Kampfbegier eine riesige Wassermelone
geschickt. Zu Pest und Belgrad gebe es noch mehr und
noch schönere solcher Früchte. "Worauf der Gesandte nebst
höflichem Danke sagen liess: und in Wien gebe es deren
auch.
Jener Fürst, dem ein Rezensent eine Kritik Virgils
überreicht hatte, liess einen Scheffel Weizen bringen, das
Getreide worfeln und dem Rezensenten die Spreu geben;
und diese dem Landleben entnommene Symbolik mag uns
daran erinnern, dass bis auf den heutigen Tag gefallenen
Mädchen am Hochzeitstage Häckerling vor die Thür ge-
streut wird:
Das Kränzel reissen die Buben ihr
Und Häckerling streuen wir vor die Thür,
sagt Lieschen im Faust, in der Szene am Brunnen. Häcker-
ling oder Häcksel ist kleingeschnittenes Stroh und das
letztere dcis Wesentliche: in Bayern wird die Gefallene ins
Haberfeld getrieben, in Ostpreussen bekommt sie einen
— 313 —
Strohkranz. Man schilt sie Strohwitwe, weil sie einen Mann
und doch keinen Mann hat, daher man auch einen verhei-
rateten Mann, dessen Frau verreist ist, als einen Strohuntwer
bezeichnet. Mit dem Stroh ist das Bettstroh und nicht ein
besonders ärmliches Bett, wie der Strohsack, auf den man
Sterbende zum Zeichen der Demut legt, sondern überhaupt
das Bett gemeint, in das die Kindbetterin kommt. Aufs
Stroh kommen heisst soviel wie: ein Kind bekommen. Das
Häckselstreuen gibt häufig zu Prozessen Veranlassung; noch
in den letzten Jahren erregte eine Frau in Ottendorf bei
einer Hochzeit grosses Ärgernis, indem sie auf den Weg
zum Altar Häckerling und Papierschnitzel gestreut hatte,
und ein analoger Fall ereignete sich vor kurzem in Hohen-
dodeleben. Übrigens hat es an vielen Orten seinen ur-
sprünglichen Sinn verloren und dient nur noch als allge-
meines Zeichen der Verachtung, aber immer gegen Frauen,
während die Franzosen bekanntlich auch den unordentlichen
Lebenswandel eines Mannes mit dem Stroh charakterisieren
(Paülard, Paillardise),
Doch kommen wir zum Schlüsse. Die wächserne Nase
des Rechts auszudrücken, malte man wohl vor Zeiten einen
armen Messerschmied, der aus krummen Sicheln gerade
Messer machte:
Das Krumme wollt ich gern machen schlecht
Und blieb daher ein armer Knecht;
ein in Scharlach gekleideter Mann gegenüber, ein eigent-
licher Krummacher oder Rechtsverdreher, macht aus ge-
raden Messern krumme Sicheln:
Das Recht kann ich krumm maken.
Und trage deswegen Rotscharlaken.
Es ist sonderbar, dass man das Volk mit seiner Bilder-
sprache auf der einen Seite dem armen Messerschmied, auf
der anderen Seite dem Advokaten Krummacher verglei-
chen kann.
Diese Bildersprache ist einerseits naiv, unumwunden,
— 314 —
direkt aufs Ziel losgehend; das Gegenteil krummer Rede,
die sie, gleich dem armen Messerschmied, schlecht, will
sagen schlicht, oder gerade machen will. Cervantes sagt
von den Mauren, sie hätten eine besondere Art Verstand:
man könne sie durch keine Grründe von ihren Irrtiimem
überzeugen, man müsse ihnen handgreifliche Beispiele mit
mathematischen Beweisen geben, und wenn sie das Ding
in Worten nicht begreifen, so müsse man es ihnen mit den
Händen zeigen und vor die Augen stellen. Cervantes irrt,
diese Art Verstand haben nicht bloss die Mauren, sondern
alle Menschen, und der beste Beweis ist, dass Lotario, dem
Cervantes die Beobachtung in den Mund legt, sich eben
selbst genötigt sieht, Anselmo gegenüber von besagter
Methode Gebrauch zu machen. Der gerade Weg ist der
beste und auch der kürzeste.
Die Bildersprache ist anderseits ein Ausweg eines
Mannes, der mit der Sprache nicht herauswill, ein vorsich-
tiges Umgehen, eine kluggewählte Maske; das Gegenteil
gerader Rede, die sie, gleich dem Mann im Scharlachkleide,
krumm macht. Sie hat etwas Zweideutiges, sie weiss es
so einzurichten, dass sie den Kopf aus der Schlinge ziehen
und sie niemand ertappen kann. Ein alter Herzog von
Braunschweig, der seine Schulden nie bezahlte, zankte zum
Schein mit dem Rentmeister, so oft der Gläubiger mahnte,
schlug aber den Daumen ein, was der Rentmeister wohl
verstand. So oft nämlich der alte Herr eine Bitte gewähren
wollte, hielt er dem Kanzler die Hand entgegen und reckte
nur den Daumen in die Höhe; sollte aber dem Bittsteller
nicht geholfen werden, so schloss er den Daumen in die
Hand. Ebenso machte er es auch mit dem Rentmeister.
Dahinter kam denn nachgerade auch der verzweifelte
Bankier und da er sah, wie der Herzog bei allem schein-
baren Lärm den Daumen nicht ausreckte, rief er überlaut:
Dat Dumken ruti 0, gnädiger Herr, das Däumchen heraus! So
möchte man dem schauspielernden Volk unzählige Male zu-
rufen: Das Däumchen heraus! Keine Faxen! Sagts offen, was Ihr
— 315 —
wollt/ Das Recht könnt Ihr krumm maken und tragt deswegen Rot"
Schariaken! Aber wenn nun der Herzog von Braunschweig ver-
wundert aufblickte und sagte: Ihr seid ein Narr! Ihr phantasiert!
Alle Sprache ist eben dem Menschen so gut gegeben,
um seine Gedanken zu verbergen, als um sie mitzuteilen.
Anhang. Die Blnmenspraehe. Die Briefinarkengpraehe.
Zu den anzüglichen und bedeutsamen Sendungen, auf
welche die Menschen so gern verfallen, wenn ihnen die
gewöhnliche Sprache nicht am Platze scheint, gehören noch
zwei, die allgemein gemacht zu werden pflegen und die
deshalb zu sogenannten Sprachen ausgebildet worden sind:
die Blumen und die frankierten Briefe.
Um die letzteren vorauszunehmen, so dürfte es aller-
dings befremden, wie ein Schriftstück, das doch eine ganz
normale, in der Landessprache abgefasste Mitteilung ent-
hält, zugleich in seinem Aussem der Sprache ohne Worte und
zwar einer absichtlichen und bewussten Sprache ohne Worte
dienen solle. Freilich ist es nicht völlig gleichgültig, ob
ich zu meinem Briefe grobes oder feines Papier, einen
Bogen in Quart- oder in Oktavformat, schwarze oder blaue
Tinte nehme, ich drücke eine höhere oder geringere Ach-
tung damit aus; doch erschiene es uns kleinlich, hierauf
näher einzugehen, abgesehen davon, dass nichts Bildliches
in jenem Ausdruck läge. Nein, wir denken hier an die so-
genannte Briefmarkensprache j die ihren Ursprung einer Art
Spielerei der Damenwelt verdankt und durch die ein Brief
in der That für den Empfänger zu einer Botschaft wird,
noch ehe er ihn aufmacht. Vorschriftsmässig soll die Frei-
marke auf dem Kouvert in die Ecke rechts oben geklebt
werden; da aber diese Vorschrift nicht streng ist, so wählt
der Absender auch andere Stellen und ausserdem hat er
die Freiheit, die Marke aufrecht oder schräg oder verkehrt
oder der Quere aufzukleben. Daraus ergeben sich folgende
Kombinationen und folgende Bedeutungen, die ich nach
den Mitteilungen einer jungen Berlinerin zu Papier bringe.
— 316 —
Rechts oben
aufrecht: Ich wünsche Deine Freundschaft!
quer: Liebst Du mich?
verkehrt: Schreibe nicht mehr!
schräg: Schreibe sofort!
Rechts unten
aufrecht: Deine Liebe macht mich glücklich!
Links oben
aufrecht: Ich liebe Dich!
quer: Mein Herz gehört- einem Andern!
verkehrt: Grüss Dich Gott, Liebchen!
Links unten
aufrecht: Treue findet ihren Lohn!
quer: Lass mich allein in meinem Schmerz!
verkehrt: Du hast Dich durch Prüfungen bewährt!
In einer Linie mit dem Familiennamen
aufrecht: Nimm meine Liebe an!
quer: Ich sehne mich Dich zu sehen!
verkehrt: Ich bin vergeben!
Die Blumensprache gilt für eine Erfindung des
sinnigen Orients, wo sie Selam, das ist Gruss, eigentlich
Friedensgruss , genannt und vorzugsweise in den Harems
gepflegt wird. Zwar scheint sie das ganze Osmanische
Reich zu lieben, sintemal die Türkei selbst eine Wappen-
blume hat — den Weissen Mohn; aber den rechten Sdam
versteht doch nur die Sklavin Rosenduft oder die Sonne des
Ostens, die Favoritin des Padischah. Man ahnt den Sinn
der Bezeichnung Selam sofort, wenn man daran denkt, dass
ein Blumenstrauss ja auch bei uns eine stehende Huldigung
und ein obligater Willkomm ist und dass dem Ankömmling,
dem Gast, der heimkehrenden Hausfrau fast regelmässig
zum Grusse Blumen auf den Tisch gestellt, Guirlanden
aufgehängt, Bouquets überreicht zu werden pflegen. Wer
— 317 —
hätte eine Freundin und brächte ihr nicht zum Geburtstag,
zum Jahreswechsel, zu einem Balle, einem Konzerte ein
paar Rosen? — Genau so im Orient, nur dass das schöne
Geschlecht in der Einsamkeit des Harems noch mehr über
die Rosen nachdenkt als bei uns, weil kein Liebesbrief
dabei liegt und kein Besuch darauffolgt. Eine Blume, auch
-wohl eine Frucht wird übersandt, und die Adressatin muss
sich aus dem Namen derselben, gelegentlich auch aus einem
bekannten Worte, das sich auf diesen Namen reimt, ab-
nehmen, was der Absender gemeint hat — ob er mit der
Mose hat sagen wollen: komm und kose! oder mit der Pflaume:
ich sah dich im Traume! — Bei uns ist es mehr die symbolische
Bedeutung der einzelnen Blumen selbst, die sie in der Hand
der Menschen zu oft sehr detaillierten Mitteilungen geeignet
macht, und aus dieser natürlichen Blumensprache wird sich
-wohl auch im Orient der künstliche Selam heraus entwickelt
haben. Dass die Rose die Liehe, das Veilchen die Beschei-
denheit , der Goldlack Glück, das Heidekraut Einsamkeit , die
Aster Kummer, die Holunderblüte Krankheit, die Orangen-
knospe eine Jungfrau, das Moos oder ein dürrer Zweig eine
alte Person, und ein Nesselblatt die Grafschaft Schaumhurg be-
deutet, weiss ja jedermann, und es lässt sich denken, wie
dergleichen Beziehungen allmählich dazu führen, mit ein
paar Blumen ganze Sätze herauszubringen. Durch Anord-
nung und Haltung der Blumen werden jene Beziehungen
noch modifiziert. Zum Beispiel bedeutet der Goldlack ab-
wärts gekehrt nicht Glück, sondern Unglück, eine Nelke rechts
geneigt heisst Ich, links geneigt Du u. s. w.
Die Blumensprache könnte allein ein ganzes Buch aus-
füllen und eins der interessantesten; uns muss es hier ge-
nügen, ihrer nur gedacht und sie als eine Hauptform der
Sprache mit Absicht der Mitteilung aber ohne Gedankenaustausch
erwähnt zu haben. Auch dcis Christentum bedient sich
dieser Form — die Kirche hat nicht nur die Segensformel
des Selam, sondern auch den Selam in Blumen adoptiert.
Wen der Papst ehren will, dem schenkt er am Sonntag
— 318 —
Lätare eine goldene Rose. Es ist dies ein goldener blühen*
der Rosenzweig, der in einem silbernen Topfe auf einem drei-
eckigen Untersatze steckt. In der Rose, welche der Zweig
auf seiner Spitze trägt, befindet sich eine kleine Kapsel voll
Balsam und Moschus mit einem durchlöchertön Deckelchen
verschlossen — utinam divinus odor in sensus penetreL Friedrich
der Weise erhielt 1 5 1 8 eine solche Rose mit der Anrautung,
Luther und seine Lehre zu unterdrücken. Demselben Luther
liess Herzog Johann Friedrich, der nachherige Kurfürst,
das Siegel in Stein schneiden und in einen goldenen Ring
fassen, welches die sogenannte Luther-Bose enthielt, wie er
sich sie wünschte — das erst sollt ein schwarz Kreuz sein zur
Erinnerung, dass der Glaube an den Gekreuzigten uns selig mache;
dieses Kreuz solle mitten in einer weissen Bösen stehn, anzuzeigen,
dass der Glaube Freude, Trost und Friede gibt; solche Böse stehe
im himmelfarben Felde, dass solche Freude ein Anfang der himm-
lischen Freude ist; und um solch Feld einen gülden Bing, dass
solche Seligkeit im Himmel ewig währet und köstlich Über aüe
Freude und Güter ist, (Luther an Lazarus Spengler, von der
Veste Coburg, 8. Juli 1530.)
Schon im Jahre 1532 findet sich das Rosenkreuz auf
Titeln lutherischer Predigten nachgebildet, es liegt dem be-
kannten Vers zu Grunde:
Des Christen Herz auf Rosen geht,
Wenn's mitten untenn Kreuze steht.
Anknüpfend an Luthers Petschaft führte der Theolog
Jakob Andrea (X VI. Jahrhundert) ein Andreaskreuz zwischen
vier Rosen im Wappen und mit Anspielung darauf nannte
sein Enkel Valentin Andrea den Helden seiner mystischen
Romane und den angeblichen Stifter des geheimen Bundes
der Bosenkreuzer : Christian Bosenkreuz.
Fünftes Kapitel.
Significative 'yy'affen und Kleidungs-
stücke.
I. Fächer- und Handschuhsprache. Kleine Mitteilungen auf
dem Wege der Toilette.
Ergänzung der Geberdensprache durch Toilettengegenstände — die Spielhahn-
fedem am Hute der jungen Burschen in Tirol und Oberbayem — die Stock-
sprache, die Handschuhsprache — was eine schöne Frau mit ihren Handschuhen
und ihrem Fächer alles sagt — die Akademie, auf welcher junge Damen im
Gebrauch des Fächers unterrichtet werden — Spanien, das klassische Land der
Fächersprache — die Kleidungsstücke sind an sich significativ — Frauen ziehen
sich anders an als Männer, verheiratete Frauen anders als Jungfrauen — erstere
haben Hauben, die letzteren gehen im Haar — die Schwestern der Brüder-
gemeinde zeigen ihren Rang durch die Farbe der Haubenbänder an, ebenso die
Mädchen auf den florentiner Fastenmärkten — in der Bretagne verraten sie ihre
Mitgift durch die Streifen ihrer Röcke — das Signal der Frau von Soubise:
ein Paar smaragdene Ohrgehänge.
Wenn die Blumensprache und die Briefmarkensprache
gleichsam Dialekte der allgemeinen Bildersprache waren,
so findet die natürliche Geberdensprache ihre Ergänzung in
den mimischen Operationen, die mit gewissen Toilettengegen-
ständen vorgenommen werden und die, konventionell ge-
regelt und festgestellt, nicht minder zu einer Art von
Sprache führen können. In Tirol und in den bayrischen
Hochgebirgen wird dem Birkhahn oder Spielhahn eifrig
nachgestellt, weil seine Schwanzfedern von den jungen
— 320 —
Burschen am Hute getragen werden. Bis auf die neueste
Zeit galten diese Spielhahnfedem als ein Zeichen der Her-
ausforderung und Rauflust, jenachdem sie am Hute be-
festigt waren. Gewöhnlich wurden sie auf der linken Seite
getragen; nur der Teufel trägt, wenn er als Jäger ercheint,
einen halben Spielhahnstoss auf der rechten Seite seines
Hutes. Man könnte also in jenen Gegenden recht wohl
von einer Federsprache reden. Aber wenn wir nur unsem
Hut trotzig der Quere setzen — wenn wir nur unsem Stock
drohend in die Höhe heben — wenn wir nach mittelalter-
licher Manier den Handschuh als Aufforderung zum Kampf
hinwerfen: versteht man nicht unsere Meinung? Ist es nicht,
als ob wir eine Hutsprache hätten, eine Stocksprache und eine
Handschuhsprache? Wirklich redet man gelegentlich von sol-
chen Sprachen, und eben die Handschuhsprache der
eisernen Ritter ist noch unvergessen, aber seither von dem
schöneren Geschlechte übernommen und ausgebildet worden.
Eine zarte Dame weiss mit einem Handschuh Ja und Nein
zu sagen, jenes indem sie ihn fallen lässt, dieses indem sie
ihn in der rechten Hand dreht — Gleichgültigkeit und
Beifall, Unzufriedenheit und Zorn drückt sie mit ihren
Handschuhen aus, jenachdem sie gelangweilt ein wenig an
dem Handschuh der linken Hand zieht, mit dem Handschuh
ermutigend auf die linke Schulter schlägt, den Handrücken
mit dem Handschuh ungeduldig streicht oder beide Hand-
schuhe blitzenden Auges fortlegt. Namentlich aber ist es
der Fächer, den sie kunstgerecht spielen lässt, mit dem sie
oft grösseres Unheil anrichtet, als ein General mit seinem
Schwerte — wer sich um ihre Gunst bemüht, der hat ihre
geheimnisvolle Fächersprache gründlich zu erlernen.
Ein Spassvogel in England schlug vor einigen Jahren
vor, eine Akademie zu gründen, auf welcher junge Mäd-
chen im Gebrauch des Fächers unterrichtet werden sollten.
Die Kommandos lauteten:
Preparez vos ^ventails!
Deferlez vos eventails!
— 321 —
Dechargez vos ^ventails!
Mettez bas vos ^ventails!
Reprenez vos ^ventails!
Agitez vos 6veiitails!
Es gehörte ein Semester dazu, wenn es eine in diesen
sechs Bewegungen zur Perfektion bringen wollte. PrSparer
Veventaü, das hiess, den Fächer nehmen und geschlossen
halten, um damit dem einen Schlag auf die Schulter zu
geben, einem andern damit übers Gesicht zu fahren, hier-
auf den Knopf zum Munde zu fuhren und den Fächer
endlich nachlässig zwischen zwei Fingern herunterhängen
zu lassen. Dif erler Veventaü y das hiess, ihn allmählich öffnen,
ihn halb offen halten, ihn wieder schliessen und ihn unter
Wellenbewegungen öffnen. Dicharger Veventaü , das hiess,
den Fächer plötzlich öffnen und entladen, indem man mit
den Stäbchen und den Falten ein allgemeines Knattern
hervorbrachte. Mettre has Veventaü, das hiess, den Fächer
auf den Kamin oder auf den Tisch legen, wenn gespielt,
gegessen, das Haar in Ordnung gebracht oder eine lose
Stecknadel festgesteckt werden sollte. Beprendre Veventaü^
das hiess, den Fächer wieder in die Hand nehmen, wenn
die Partie vorüber oder der Besuch abgemacht war. Ägiter
Veventaü, das hiess, sich Kühlung damit zufächeln, wenn
man nichts mehr zu sagen, nichts besseres zu thun wusste,
wenn man sich langweilte, wenn man in Verlegenheit war.
Die Führung des Fächers, VagUation de Veventaü, war der
interessanteste Teil der Lektion.
Die Arten den Fächer zu führen oder zu fächern waren
mannigfaltig. Der Professor unterschied eine verdriessliche,
eine bescheidene, eine furchtsame, eine verlegene, eine, lustige,
eine verliebte Art; denn die Bewegung des Fächers hing
ganz von der augenblicklichen Disposition der Inhaberin
ab. Man konnte von traurigen und munteren Fächern reden;
es gab düstere und fröhliche, schalkhafte und melancholische
Fächer, wie es schalkhafte, lustige, heitere, sentimentale,
melancholische, träumerische Gemüter gab.
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. ^1
— 322 —
Das Land, wo die neuentdeckte Sprache wirklich ge-
sprochen wird, ist Spanien: der englische Professor hätte
seine Zöglinge gleich nach Spanien schicken können, der
<
hohen Schule des Äbanico und Ähanicazo, des Fächers und
Fächerschlages. Die spanische Fächersprache geht noch
über die deutsche Handschuhsprache, wir wollen nur einige
Proben geben. Der geschlossene Fächer an der Fächer-
schnur am rechten Arm getragen bedeutet: ich suche einen
Mann; am linken Arm getragen: ich hin verloht; in der
Tasche behalten: ich brauche keine Liehe. Mit dem Fächer
leicht in die flache Hand schlagen heisst: ich weiss nicht, oh
Du der rechte bist; den Fächer zu den Lippen führen: ich
zweifle an Deiner Aufrichtigkeit. Mit dem Fächer das Haar
auf der Stirn zurech tstreichen heisst: ich denke an Dich; die
Malerei des Fächers beschauen: Du gef allst mir sehr. Das
langsame Schliessen des Fächers gilt gleich einem Jawort;
das nachlässige Fächeln ist ein Zeichen von Gleichgültig-
keit; das rasche Hin- und Herfahren mit dem Fächer (dba-
niqueo) ein Zeichen leidenschaftlicher Liebe; das rasche
Schliessen des Fächers ein Zeichen von Argivohn und
Eifersucht. Den Fächer fallen lassen bedeutet, wie oben
beim Handschuh: ich gehöre Dir an; den Fächer aufs Herz
legen: ich liehe Dich und leide; das Gesicht teilweise mit dem
Fächer bedecken: nimm Dich vor meinen Eltern in acht! —
das Gesicht ganz mit dem Fächer bedecken, was der Fran-
zose recourir ä son eventail nennt: so etwas will ich nicht höreii.
Die Stäbe des Fächers zählen heisst: ich möchte Dich sprechen;
mit dem Fächer mehrmals schnell hintereinander in die
Handfläche schlagen: ich möchte Dich sobald tote möglich
sprechen. Dem Geliebten den Fächer reichen heisst: es steht
Schlimmes bevor; endlich sich am Fenster ohne Fächer zeigen:
ich gehe heute nicht aus.
In der That, es ist ein gehöriger Zuschuss, der durch
die Kombination der Geberden mit Handschuhen, Fächern
und anderen Toilettegegenständen zur Sprache ohne Worte
gegeben wird ; doch greifen wir damit strenggenommen auf
— 323 —
ein bereits verlassenes Gebiet zurück^ während wir in dem
fünften und letzten Kapitel vielmehr die hinweisende und
bezeichnende Kjraft der Tracht selbst, die absichtlich zu
diesem Zwecke ausgesucht wird, Fächer und Handschuhe
inbegriffen, behandeln wollten. Von diesem unserem Vor-
haben wollen wir uns hier nicht abbringen lassen und einen
wohlüberlegten Plan nicht aufgeben. Die Kleidungsstücke
sind an sich significativ, mögen sie getragen oder gehalten
werden, wie sie wollen, und schon darin, dass die Ge-
schlechter ihre besonderen Hemden, Röcke und Hüte
haben, liegt ja allein eine wichtige Kundgebung, die man
Sprache nennen kann. Der Fächer am rechten Arm be-
deutet: ich suche einen Mann, am linken Arm: ich hin verloht
Aber jede verheiratete Frau zeigt uns doch diese ihre
Würde schon durch ihr aufgebundenes Haar und durch ihre
Haube an, denn die Jungfrau, die noch nicht unter die
Haube gekommen ist, lässt ihr langes Haar frei herabfallen
und geht, wie es heisst, im Haar, auf dem sie einen Kranz
trägt. Anderemale werden die Männer durch die Farbe
der Haubenbänder über die Verhältnisse verständigt. Die
Schwestern der Brüdergemeinde tragen alle glattanliegende
Häubchen, mögen sie verheiratet sein oder nicht, aber jeder
Chor hat seine besonderen Bänder, der Chor der jungen
Mädchen bis zum i8. Jahre hat feuerrote, der Chor der
ledigen Schwestern hat blassrote, der Chor der Ehefrauen
hat blaue, der Chor der "Witwen hat weisse Haubenbänder.
Desgleichen sieht man auf den florentiner Fastenmärkten,
wo eine Art von Brautschau abgehalten wird, gleich aus
den Bändern, was noch zu haben und was nicht mehr zu
haben ist: diejenigen Schönen, die bereits vergeben sind,
le Impegnate, pflegen eine rotseidene Rosette ins Haar zu
stecken, von der zwei weisse Bänder auf die Schulter herab-
hängen; bei denen die noch zur Verfügung stehen, den
Disponihiliy fehlen diese Bänder; endlich diejenigen, welche
zwar versprochen, aber nicht recht glücklich sind, le Mal-
contente, führen eine violette Rosette mit zwei dunklen
21*
— 324 —
Bändern [Kleiupaul, Kreuziget iJm, Seite 326]. Ja, in der Bretagne
geben die praktischen Mädchen an den roten Röcken, in
denen sie zu Tanze kommen, zugleich die Höhe der zu
erwartenden Mitgift an. Sind die Röcke weissgestreift, so
bedeutet das Silber oder eine Jahresrente von wenigstens
100 Francs. Sind die Röcke gelbgestreift, so bedeutet das
Gold oder eine Jahresrente von nicht unter 1000 Francs.
Das ist keine Geberden-, keine Fächer- und Handschuh-
sprache mehr, das nennt man Kleidersprache.
Neben seiner offenkundigen und erklärten Verbindung
mit Frau von Montespan unterhielt Ludwig XIV. noch ein
geheimes Liebesverhältnis mit Frau von Soubise. Das Signal
der Rendez-vous bildeten ein Paar smaragdene Ohrgehänge.
Frau von Soubise trug sie an den Tagen, wo ihr Gemahl
in Paris, und sie fehlten, wenn er fort war.
II. Stehende Abzeichen.
Friiwllllgi — Aifiiiwiiitti.
Die vorübergehenden Mitteilungen auf dem Wege der Toilette gleichen schwar/en
und weissen Segehi, die aufgezogen werden — uns kommt es auf stehende
Signale und dauernde Abzeichen an — auf Abzeichen, wie der Pantoffel, den
der Ritter Polyphem auf seinen Helm steckt — auch die Frauen tragen jx)litiscbe
Abzeichen: die Damenhüte in England, die Spanierinnen bei den Stiergefechten
— in erster Linie sind es die Männer, die Farbe bekennen sollen — Farkn
sind an sich oft Abzeichen politischer Parteien — audei^emale haften sie an be-
stinmiten Blumen, welche die Abzeichen bilden — das Geranium, das Veilchen,
die weisse und die rote Rose — andere Abzeichen: der Bundschuh, der Bettel-
sack ^ — Erkennungszeichen, die gewissen verfemten Menschenklassen, wie Sträf-
lingen, vom Staate aufgezwungen werden — Tracht der Juden und der prostituierten
Frauenzimmer — die Brandmarkung — der Strick um den Hals.
Aber uns kommt es nicht auf solche kleine, vorüber-
gehende Mitteilungen an, wie sie die Frauen auf dem Wege
der Toilette zu Stande bringen — ob sie bereits engagiert
sind oder nicht — ob sie Lust haben, einen Liebhaber zu
— 325 —
erhören — ob der Herr von Soubise zu Hause ist. In
der bekannten Erzählung von Tristan und Isolde wird ver-
abredetermassen ein weisses und in der attischen Sage von
Theseus bei der Rückkehr von Kreta irrtümlicherweise ein
schwarzes Segel aufgezogen. So wird gleichsam am Schiff
des Lebens bald ein weisses, bald ein schwarzes Segel auf-
gezogen und damit Glück und Unglück, Leid und Freude
signalisiert: es sind wechselnde Zeichen, die je nach den
Umständen erfolgen, wie sie kommen. Gibt es denn nicht
aber auch stehende Signale, die der Mann ein für allemal
als Ausdruck seiner Gesinnung annimmt und trägt, Flaggen,
unter -denen er fährt, Fahnen, auf die er schwört? — Auf
solche fahnden wir.
In der Provinz Kandahar im östlichen Afghanistan
existiert der Volksstamm der Viziris. Will eine Viziri hei-
raten, so sendet sie ihrem Erwählten eine Nadel, mit wel-
cher er an seiner Mütze ein buntes Tuch zu befestigen hat.
Wenn er das Liebeszeichen ansteckt, so findet Tags darauf
die Hochzeit statt. Aber als im Mittelalter der tapfere
Ritter Polyphem der Dame seines Herzens seine Liebe auf
dem Turnierplatz beweisen wollte, steckte er ihren kleinen
goldgestickten Pantoffel auf seinen Helm, er stellte sich
weder unter den Krummstab des Papstes, noch unter das
Szepter des Kaisers, er stellte sich unter den Pantoffel, und
unter dem Pantoffel rannte er zwölf Ritter mit scharfer
Waffe nieder.*) In hoc signo vicit! Ja, dieser Pantoffel war
*) Als die Schwester des Kaisers dem siegreichen Ritter Pblyphem mit der
eisernen Siirn den Kampfpreis, eine goldgestickte Schärpe, -über die Schulter
hing, redete sie ihn, erzählt der schwäbische Augustinermönch Benedict Ansel-
mus, folgendermassen an: Herr Ritter ^ Ihr stellt Euch weder unter den Papstf
noch unter den Kaiser ^ Ihr bedürft niemandes Schutt: Euch vertnag kein Mann
zu überwinden j aber unter dem Pantoffel steht Ihr doch! — Dieses Wort sei
bald im ganzen Reiche herumgekommen und es habe sich mit einem Male ge-
zeigt, dass der Pantoffel mehr Unterthanen habe als Krummstab und Szepter.
Die Redensart unter dem Pantoffel stehen hat, mag die Anekdote wahr sein oder
nicht, einen tieferen, geschlechtlichen Sinn, indem der Pantoffel nach dem vorigen
Kapitel (Seite 308) ein uraltes Symbol des weiblichen Gliedes ist.
— 326 —
ein Zeichen, ein Abzeichen des Dienstes, dem der Ritter
sein Leben geweiht hatte, und wenn bei Bällen im Schles-
wigschen noch heute ein Frauenpantoffel aufgehängt wird,
um anzudeuten, dass für eine kurze Zeit die Frauen das
Regiment zu fuhren und zum Tanze aufzufordern haben,
so beweist das nur, wie gut die wortlose Sprache des Ritters
Pol)rphem von allen Männern verstanden worden ist.
Und nachgeahmt wordeit ist; denn von jeher haben
die Bürger bei inneren Kriegen oder bei politischen Partei-
kämpfen ihre Parteistellung durch Abzeichen notifiziert
O, auch die Bürgerinnen! Die Damen sind auch dieser
politischen Blumensprache nicht abhold. In England hat
sich die Home-Rule-Frage sogar der Damenhüte bemäch-
tigt: es gibt konservative Hüte, die sich durch tüllumwun-
dene gelbe und weisse Primeln kennzeichnen; unionistische
Hüte, die Chamberlains Lieblingsblumen, die Orchideen auf-
gepflanzt haben; und Home-Rule-Hüte, die das irische Klee-
blatt neben blauen Kornblumen zur Schau tragen. Bei den
Stiergefechten pflegen die Spanierinnen in weisser Mantilla
zu erscheinen und eine Rose oder eine Granatblüte auf-
zustecken; sie wollen damit sagen, dass auch sie Anhänge-
rinnen der uralten Volksvergnügungen sind. Aber in erster
Linie sind es doch die Männer, denen eine politische Rich-
tung zukommt und von denen geradezu verlangt wird, dass
sie Farbe bekennen sollen. Farbe? Ja wohl, Farbe, denn Far-
ben sind an sich, respektive an Kokarden, Schleifen oder
Bändern, oft genug erklärte Symbole der politischen Par-
teien gewesen. Jede Stadt hat wie Florenz zur Zeit Dantes
ihre Weissen und ihre Schwarzen. Die Klerikalen sind über-
all die Schwarzen, die Radikalen die Roten; in Deutschland
kamen nach den Freiheitskriegen die alten Reichsfarben,
Schwarz-Rot-Gold als Zeichen nationaler Gesinnung auf, in
der französischen Revolution diente die Trikolore: Blau-
Weiss-Rot der Bewegungspartei zum Erkennungszeichen,
während die Royalisten dcis Weiss der Bourbonen trugen.
Die herrschenden Protestanten in Irland und die Anhänger
— 327 —
des Hauses Oranien in den Niederlanden und in England
wählten, dem lautlichen Anklang zuliebe, das Orangegelb zu
ihrer Farbe. Andere Male hafteten die Farben an bestimm-
ten Blumen, welche die Abzeichen bildeten: so vertrat in
Frankreich nach der Wiederherstellung der Bourbons das
dreifarbige Geranium oder der Storchschnabel die Stelle
der Trikolore, während das Veilchen Abzeichen der Bona-
partisten war und als solches auch nach dem Sturze des
zweiten Kaiserreiches wiederangenommen wurde. Wie
viele merkwürdige Abzeichen finden sich in England! Hier
trugen die Anhänger der Restauration der Stuarts, zur Er-
innerung an die Eiche, in der sich Karl II. nach der Schlacht
bei Worcester verborgen hatte, an seinem Geburtstag
(29. Mai) einen Eichenzweig (OakJ, Uralt und durch histo-
rische Begebenheiten veranlasst ist die Distel der Schotten
(Thistle) und der Lauch der Walen (Leek) — die Wälschen,
sagt der ehrliche Fluellen in Shakespeares König Heinrich
der Fünfte (IV, 7) zu König Heinrich, thaten guten Dienst in
einem Garten, wo Lauch wuchs, und trugen Lauch auf ihren Man-
mouther Mützen y welches, wie Eure Majestät weiss, bis auf diese
Stunde ein ehrenvolles Feldzeichen ist, und ich glaube, Eure Maje-
stät verschmähen es nicht, das Lauch auf Sankt Davidstag (i. März)
zu trafen. Weil endlich die Anhänger der York die weisse
Rose (the rose argent), die der Lancaster die rote Rose (the
rose gute) als Feldzeichen (Badge) an ihren Hüten führten,
nannte man die Kämpfe der Häuser York und Lancaster
um den Thron von England die Kriege der weissen und
der roten Rose (the Wars of the Roses),
Natürlich hat es auch Abzeichen gegeben, bei denen
die Farbe gar nicht in Betracht kam. Im Jahre 1502
machten die schwäbischen Bauern den Bundschuh zu ihrem
Krieg«- und Wahrzeichen , sei es , dass sie denselben in
natura vor sich hergetragen oder nur auf ihre Fahne ge-
setzt haben, weshalb man auch die Aufstände während des
Bauernkrieges geradezu Bundschuh und sich vorschwören
einen Bundschuh machen nannte; im XVI. Jahrhundert führten
— 328 —
die Geusen als Abzeichen Bettelstäbe und Bettelsäcke und
kleideten sich wie Bettelmönche; auch schlug man damals
den sogenannten Geusenpfennig , eine ovale Münze in Silber
oder Gold, die auf dem Avers das Brustbild Philipps, auf
dem Revers einen von zwei verschlungenen Händen ge-
fassten Bettelsack zeigte (jusqu'ä porter la hescLce), Von den
Guelfen und den Ghibellinen ist hauptsächlich das Feld-
geschrei berühmt, welches bei jenen Hie Weif! bei diesen
Hie Waiblingen! gelautet haben soll, doch hatten sie auch
ihre äusserlichen Abzeichen, die Ghibellinen eine weisse
Rose oder eine rote Lilie, die Guelfen einen Adler, welcher
einen blauen, mit der Lilie gekrönten Drachen mit seinen
Klauen zerriss. Die Zinnen an den gnelfischen Türmen
waren viereckig, ä la Grecque; die der Ghibellinen schwal-
benschwanzförmig. Noch nach dem Dreissigjährigen Kriege
galt die weisse Feder auf dem Samtbaret für gut weifisch
(Garzoni, Piazza universale^ übersetzt von Mathäus Merlan 1610/1641).
Den geraden Gegensatz zu diesen freiwilligen, mehr
oder weniger mit Stolz getragenen und zur Ehre angerech-
neten Abzeichen der Parteien bilden die gewissen verfem-
ten Klassen vom Staate aufgezwungenen Unterscheidungs-
zeichen, die den Trachten der Sträflinge, den Tüchern der
Gefangenen parallel gehen. Die Cagots, die Kretinen der
französischen Pyrenäen, waren im Mittelalter von der mensch-
lichen Gesellschaft ausgeschlossen und mussten als Ab-
zeichen ein Stück rotes Tuch oder eine Eierschale auf der
Kleidung angeheftet tragen, wie man den Untersuchungs-
gefangenen in Berlin an dem Tuch, das er um die Schulter
hat, erkennt; die Aussätzigen mussten im Mittelalter ein
schwarzes Gewand und einen Hut mit weissem Bande
tragen, in der Hand hatten sie eine Klapper, ihre Annähe-
rung bekannt zu geben. Namentlich wurden zwei Men-
schenklassen Abzeichen oktro5dert, die auch beide in beson-
dere Quartiere eingeschlossen wurden: den Huren und den
Juden. Die Huren trugen schon im alten Rom ein Gewand,
das dem der Männer ähnlich war, anstatt der Stola, daher
— 329 —
Togata und Meretrix gleichbedeutend war; und so wurden in
allen Gemeindeordnungen unserer Zeit für die Huren be-
sondere Kleider und Zeichen vorgeschrieben, zum Beispiel
in Neapel mussten sie eine rote Nestel auf der linken
Schulter tragen, erst in der neueren Zeit ist man davon
zurückgekommen. In Deutschland mussten die Dirnen eine
bestimmte Art von Mänteln, rote Käppchen und eine rote
Schleife auf der linken Schulter oder ein farbiges Armband
tragen. Besonders die gelbe Farbe war hier bezeichnend,
genau so wie bei den Juden; sie ist heute noch die Farbe
der Sträflinge in dem londoner Gefängnis Coldbath. Im
Mittelalter trug der Jude im Reiche einen hohen gelben
Hut, später nur noch eine gelbe Kokarde an seinem Rocke;
in Böhmen charakterisierte ihn noch 1694 der gekrauste
Kragen, welchen die Juden mit blauem Kraftmehl gestärkt,
ringförmig um den Hals trugen; in Italien der rote Mantel.
Noch im 17. Jahrhundert war der lederne Sack, sein breit-
krempiger Hut und der gelbe Tuchring am Rocke das
Abzeichen des Juden im Reiche, wie er am häufigsten in
der Münze gesehen wurde. Auch in der Provence trugen
die Juden einen bestimmten Kopfschmuck, daher wurde der
wunderliche Hammerhai in Marseille Poisson Juif (Peisso
juzieu) genannt Alles das erinnert an die Brandmarkung
vermittels eines Rades oder sonst eines Feuermales: die
Römer brannten entflohenen Sklaven, wenn sie dieselben
wiederkriegten, ein Ffugitivus], die Franzosen den Galeren-
sträflingen T[ravaux] Fforces] auf Sogar die Karpokratianer,
eine Art Gnostiker, sollen ihre Schüler gezeichnet haben,
indem sie dieselben auf der Rückseite des rechten Ohr-
läppchens brannten und, wie sie sich ausdrückten, mit Feuer
tauften.
Wir erwähnten weiter oben (Seite 285), dass der Mönch,
wenn er um Verzeihung bat, dies mit einem Stricke um den
Hals that. Wir müssen jetzt hinzufügen , dass dieser
drastische Akt der Selbstdemütigung auch ausserhalb der
Klostermauem vorkam —
— 330 —
und demutsvoll mit Stricken um den Hals
Erwarten sie von Eurer Hoheit Spruch
Nun Leben oder Tod,
sägt Clifford in Shakespeares König Heinrich der Sechste.
Zweiter Teil (IV, g); und abermals müssen wir hinzufugen,
dass wer zum Tode verurteilt und begnadigt worden war,
seinen Strick zeitlebens um den Hals zu tragen gehalten
war. Noch in unserem Jahrhundert (um 1830) schmückte
eine Frau m Leipzig und die durch Napoleon I. bekannte
Gräfin Kielmannsegg dieses significative Halsband.
III. Uniformen, Orden und Gradabzeichen.
Abzeichen dienen auch dazu, die Lebensstellung, den Rang und das Dienstver-
hältnis zu charakterisieren — sie greifen nicht selten auf die gesamte Tracht
über — Uniformen, durch die der Staat einzelne Stände und Volksklassen aus-
einanderhält — ihre Supplemente, Orden und Gradabzeichen — der r)mat —
die Uniformierung arbeitet der nivellierenden Tendenz entgegen — der doppelte
Naturzustand des Menschen — Proben der Art, wie die Kleidung in verschiedenen
Kreisen geregelt wird — in Konstantinopel: Kopfbedeckungen, Beinkleider,
Pantoffel sind vorgeschrieben — die Jäger und Kutscher der Gesandten in Peters-
burg — die Eisenbahnbeamten — das Militär: nationale Farben und Montienmgs-
stücke, Unterscheidungsmerkmale der einzelnen Truppenteile und Truppen-
gattungen, Rangabzeichen — der Tigerpelz Zietens — nirgends ist das Uniform-
wesen so sorgfältig ausgebildet und so systematisch durchgeführt als wie beim
Militär — Feldzeichen und Feldbinden im Dreissigjährigen Kriege — die Mon-
tierungsstücke wandern von Land zu Land und kommen von Nation zu Nation
in Aufnahme, zum Beispiel der Tschako, der Dolman, der Attila — Husaren,
Dragoner, Ulanen, von den Franzosen alle als Ulans bezeichnet.
Nach dem vorigen scheint es, dciss Abzeichen selbst
keine Kleider, sondern nur kleine Unterscheidungszeichen
an der Kleidung; und dass sie niemals etwas anderes als
selbstgewählte Symbole einer Gesinnung, einer politischen
Richtung, einer Parteinahme sind. Dies ist nicht völlig
sachentsprechend. Denn einerseits dienen die Abzeichen
auch dazu, die Lebensstellung, den Rang oder das Dienst-
— 331 —
Verhältnis einer Person zu charakterisieren: zum Beispiel
haben die Journalisten in Amerika ein Abzeichen, an wel-
chem sie die Polizei erkennt — einen unter dem Rock ge-
tragenen kleinen Stern; wenn dieses gerade vielleicht noch
freigewählt worden ist, so sind die Rangabzeichen in der
Armee und in der Marine keineswegs dem Belieben des
Individuums überlassen. Anderseits beschränken sich die
politischen Abzeichen durchaus nicht immer auf Schleifen
und Kokarden, Blumen und bunte Bänder; sie greifen nicht
selten auf die Kleidung und die gesamte Tracht, nament-
lich die Haartracht und den Schnitt des Bartes über. Die
politische oder kirchliche Parteistellung pflegt bald Locken-
köpfe, bald Rundköpfe (Bound-heads), bald altdeutsche Röcke,
bald Kalabreserhüte, bald Karbonarimäntel, bald Garibaldi-
blusen hervorzubringen. Doch ist eine gleichartige Modi-
fikation der ganzen Kleidung gewöhnlich allerdings nicht
mehr eine Sache der Wahl und des persönlichen freien
Willens einer Korporation, sondern eine Sache des Staates,
welcher einzelne Stände, wohl auch einzelne Nationalitäten
durch die sogenannten Uniformen auseinander halten will;
mithin auch nicht mehr das Zeichen einer Parteistellung
oder einer politischen Gesinnung, sondern vielmehr das
Zeichen eines Standes, dem man angehört, oder einer Be-
amtenklasse. Einzelne Beamte, wie die Geistlichen und die
Richter, sind insofern freier, als sie ihre Uniformen, den
sogenannten Ornat, nur während ihrer Amtshandlungen zu
tragen gezwungen sind. Die Uniformen der Soldaten und
der Beamten sind samt ihren Supplementen, den Orden und
Gradabzeichen, gleichsam die Livreen, welche der Staat den
Korps seiner Diener liefert, und die er nicht nur bei Hofe
in den sogenannten Hof uniformen, sondern auch im gemeinen
Leben fordert. Sothane Uniformierung scheint mit der
Tendenz in Widerspruch zu stehen, welche nach einer frü-
heren Ausführung die bestehenden Kostüme haben sollen:
der Tendenz sich zu verwischen. Auf Seite 151 ff. be-
merkten wir, dass sich die Nationalitäten einerseits, die
— 332 —
Stände anderseits gegenwärtig in der Kleidung weniger
unterscheiden als dies vor Jahrhunderten der Fall war. Der
pariser Elegant und der berliner Stutzer sehen sich fast
gleich ; der Edelmann trägt keine Stickerei und rund um den
Hut keine weisse Flume mehr wie noch vor hundert Jahren,
auf Maskeraden kann man ihn nicht mehr an dem rosa-
farbenen Domino erkennen, den Friedrich der Grosse 1743
für ein Privilegium des Adels erklärt hatte. In der That
arbeitet die Uniformierung, die nur nicht im ganzen Volke,
sondern nur in gewissen Lebenskreisen durchgeführt ist,
dieser nivellierenden Tendenz entgegen, sie schliesst sich,
und zwar ohne Beigeschmack von Luxuspolizei, den alten
Kleiderordnungen an , sie sucht die natürlichen Trachten
der Völker, der Stände, der Ämter und der Würden (die
sowieso gern wieder aufleben, namentUch bei festlichen
Gelegenheiten, wo es auf Repräsentation ankommt) aus-
drücklich festzuhalten, alle Ausgleich versuche rückgängig
zu machen und jedem Individuum einen oflFenen Brief mit-
zugeben, mit welchem es sich in die Gesellschaft einfuhrt,
einen Orden obendrein.
Ein Orden ist ein Zeichen, dciss der Inhaber einem Ordn,
das heisst, einem geistlichen oder weltlichen Ritterorden zu-
gehört; hergenommen von dem Kreuz an der Kleidung der
Ordensritter.
Als Jean Jacques Rousseau im vorigen Jahrhundert alle
Kultur verfluchte und die Welt mit der barocken Idee
verblüffte, dass die Künste und Wissenschaften vielmehr
zur Verschlimmerung als zur Verbesserung der Sitten bei-
getragen hätten: ward auf einmal der Naturzustand des Men-
schen wieder Mode, jener Zustand, wo der Mensch so viele
überflüssige Dinge noch nicht, unter anderm auch noch
keine Kleider hatte, sondern wie Adam in puris naturalibus
erschien. Der grosse Irrtum jener passionierten Wilden
war, die Kultur der Natur entgegen und vorauszusetzen,
dass die Natur unter allen Umständen vollkommener und
besser sei als die Kultur, was sie keinesweges ist. . Doch
— 333 —
auf eine Widerlegung der Rousseau'schen Ansichten wollen
wir uns nicht einlassen, sondern nur ein wenig bei dem
Naturzustand verweilen, den wir in Bezug auf die Kleidung
verloren haben sollen. Man braucht nicht so tief zu graben,
um auf die Natur zu stossen — auf den ersten Naturzustand,
den der Mensch in seiner Blosse feiert, folgt sozusagen ein
zweiter Naturzustand, der Naturzustand der Kleider, denn
auch an dem bekleideten Körper kann man wieder eine
natürliche und eine künstliche Periode unterscheiden. In
der ersteren kleidet sich der Mensch, wie er will und kann.
In der letzteren kleidet sich der Mensch, wie er soll und
muss. Im ersteren Pralle besagt die Kleidung, dass ihr In-
haber ein reicher Mann oder ein armer Teufel sei. Im
letzteren Falle besagt sie, dass ihr Inhaber ein Militär oder
ein Postbeamter sei. Im ersteren Falle ist die Kleidung
zufällig. Im letzteren Falle ist die Kleidung, weil damit
absichtlich ein Stand angezeigt wird, significativ.
Wir stehen am Goldenen Home, dem Hafen von Kon-
stantinopel, dem Märktplatz dreier Weltteile, mitten im
Völkergewühl. Auf den ersten Blick können wir die Haupt-
typen herauserkennen, wir brauchen nur auf die Kopfbe-
deckungen, die Pantoffel und die Beinkleider zu achten,
die meist ausdrücklich vorgeschrieben sind. Der türkische
Efendi trägt den roten Fes und den schwarzen, bis zum
Hals zugeknöpften Beamtenrock ohne Aufschläge, die so-
genannte Stambulina, Die Alttürken, darunter die Geist-
lichen, die Studenten, die Bürger, die Kaufleute und Hand-
werker, tragen einen bunten Turban, gelbe Pumphosen und
gelbe Pantoffel. Der Fanariot hat einen schwarzen Turban
und schwarze Hosen. Der Hebräer einen blauen Turban,
blaue Hosen und blaue Pantoffel. Der Armenier eine hohe
Filzmütze, Kaipak genannt, rote Hosen und rote Pantofifel.
Der Tatare die plumpe, pyramidale Lammfellmütze, die
ebenfalls KcUpak heisst. Der Nizam-tschedid oder der reguläre
Soldat eine Kappe in Melonenform. Der Imam oder der
Priester einen schneeweissen Turban, der mit einer breiten
— 334 —
(ioldborte eingefasst ist. Der Scherif, das heisst der Nach-
kömmling Mohammeds, den roten Fes mit blauer Quaste,
der mit einem grünen Tuch umwunden ist Der Derwisch
eine hohe, zuckerhutförmige, spitze Mütze von grauem Filz,
die sogenannte Kulah. Der Franke den Cylinderhut
Oder wir stehen auf einem sächsischen Bahnhofe und
wollen einen Beamten etwas fragen. Suchen wir den
Stations vorstand? So sehen wir uns nach dem Manne mit
der roten Mütze um. Suchen wir den Zugführer? So sehen
wir uns nach dem Manne mit der roten Tasche um, die
über die rechte Schulter gehängt ist. Suchen wir den
Schaffner? So sehen wir uns nach dem Manne mit der
schwarzen Ledertasche um. Den Portier? Er trägt auf der
linken Seite ein herzförmiges Schild. Den KoflFerträger?
Er hat auf der linken Brust ein ovales Schild.
Die Jäger und Kutscher der Gesandten in Petersburg
haben gewöhnliche, nach russischem Schnitt gemachte
Kutscherröcke, aber, weil sie in keinem Fall angehalten
werden dürfen, Tressen an denselben und auf den Hüten
nicht nur die bereits auf Seite 149 erwähnten farbigen
Federbüsche, sondern auch besondere Abzeichen in Form
von Kokarden.
Oder endlich wir wohnen einem Manöver bei, im Ver-
ein mit Offizieren aus aller Herren Ländern. Wie wir da
wiederum sofort den Preussen an seinem Helm und seinem
blauen Rock, den Österreicher an seiner weissen Uniform,
den Franzosen an dem Käppi und an den roten Hosen,
den italienischen Scharfschützen an dem breitkrempigen
Filzhut mit dem wallenden Federbusch erkennen! Inner-
halb der Armee, wie scharf grenzen sich die einzelnen
Truppengattungen und Truppenteile durch die Farbe der
Kragen und Aufschläge gegeneinander ab! Der Infanterist
hat einen roten, der Artillerist einen schwarzen Kragen.
Und nun wiederum innerhalb dieser engeren Kreise die
diversen Grad- und Rangabzeichen, deren lange Reihe bei
grossen Gelegenheiten noch durch Orden und persönliche
— 335 —
Auszeichnungen fortgesetzt werden kann! Leiten uns nicht
die Adlerknöpfe, die Tressen, die Schärpen, die Gradsteme,
die Epauletten, die Achselklappen, die Offizierssäbel und
die Marschallstäbe, die Pelze vom Gefreiten bis zum Oberst-
lieutenant und zum Generalfeldmarschall? — Zieten erhielt
bekanntlich für den Husarenritt im Mai 1745 vom König
einen mit goldnen Sternen, Sonnen und Monden übersäten
Tigerpelz geschenkt. Nirgends ist ja das Uniformwesen so
sorgfältig ausgebildet und so systematisch durchgeführt als
wie beim Militär; die Details alle zu beherrschen, setzt ein
durch Übung geschärftes Auge, ja ich möchte sagen, eine
eigne Wissenschaft voraus. Im Dreissigj ährigen Kriege,
erzählt Gustav Freytag in seinen Bildern aus dem Jahrhundert
des grossen Krieges ^ Seite 32, erkannten die Soldaten ein-
ander am Feldgeschrei und an den Feldzeichen, die am
Hut oder Ärmel befestigt waren, daher es hiess, die Seele
des Landsknechts sitze auf dem Hute oder Ärmel; die
Offiziere an den Feldbinden. Bei Breitenfeld trugen zum
Beispiel die Tillyschen weisse Bänder um Hut und Helm
und weisse Schnüre um den Arm, die Schweden grüne
Zweige. Die kaiserliche Feldfarbe war rot, Gustav Adolf
verbot deshalb seinen Schweden, Rot zu tragen; die Feld-
binden der schwedischen Offiziere in der Schlacht bei
Lützen waren grün, die kursächsischen Feldbinden während
des Krieges schwarz und gelb, später, seit Erwerbung der
polnischen Krone, rot und weiss.
Wollte man übrigens glauben, dass die alles nivellie-
rende Mode auf die Montierung der Heere ohne Einfluss
gewesen sei, so würde man sehr irren. Unzählige Mon-
tierungsstücke sind, oft mit den Truppen selbst, von Land
zu Land gewandert und von Nation zu Nation in Aufnahme
gekommen, sogut wie tiroler Joppen und spanische Mäntel-
chen. Der ungarische Tschako hat zuerst in der französi-
schen Armee (1806) und dann in allen übrigen Heeren den
früher üblichen dreieckigen Hut der Infanterie verdrängt;
in der preussischen Armee wurde er unter Friedrich Wil-
- 336 —
heim IV. (1840) durch die Pickelhaube oder den Helm ersetzt,
den nachmals wieder Russland und England angenommen
haben. Die Husaren stammen bekanntlich aus Ungarn und
haben aus ihrem Vaterland die ungarische Nationaljacke,
den Dolman, mitgebracht, der jetzt vielfach durch den eben-
falls ungarischen Ättüa ersetzt ist; die Ulanen aus Polen
sogut wie ihre kurze ülanka und ihre Czapka, die viereckige
Kopfbedeckung; polnisch (oder vielmehr litauisch) ist auch
die Litewka, ein langschössiger Uniformrock, wie ihn die
preussischen Invaliden tragen. Endlich die Dragoner, die
ihren Namen von dem Drachen (dragon) in ihren Fahnen
haben sollen, sind französisch, eine Schöpfung des Marschall
Brissac, der mit ihnen A. D. 1543 in Piemont operierte.
Infolgedessen g^bt es nun nicht bloss bei uns, sondern in
allen europäischen Armeen Husaren, Ulanen und Dragoner,
die nun wieder durch bestimmte nationale Abzeichen und
Waffen auseinandergehalten werden müssen, wie zum Bei-
spiel die Dragoner gewöhnlich mit Kavalleriesäbel und
Karabiner bewaffnet sind, in Russland aber Bajonnettge-
wehre haben; denn zunächst lassen sich nur die Truppen
an sich nach den Uniformen unterscheiden. Den Franzosen
scheinen im Krieg von 1870/71 nicht einmal die letzteren
significativ genug gewesen zu sein, denn sie bezeichneten
die gesamte leichte Kavallerie des deutschen Heeres, also
nicht bloss die Ulanen, sondern auch die Dragoner, Husaren
und Chevaulegers, als ülans.
— 337 —
IV. Wappen und Aushängeschilder.
Ein Brief des Herrn von Hopfgarten — sein Wappen ist überall angebracht,
zuerst auf seinem SchUde — die Malereien auf den Schilden der alten Deutschen
— Wappen sind Waffen — die Wappen aus Schildbildem und Helmkleinoden
hervorgegangen — sie sind ein sprechendes Accidens der Rüstung — nicht alle
redend, aber alle sprechend — sie erzählen von dem Geschlecht und , da sie im
Laufe der Zeit darauf übergehen, von dem Besitz, der Herrschaft, dem Amt
des Trägers — der deutsche Adler — der zweiköpfige Adler — die Wappen-
schau der Herolde bei den Turnieren: Blason, Heraldik — die Wappen werden
von Schild und Helm auf alles übertragen, was zur Familie gehört — Gesell-
schaftswappen, Klosterwappen — Herrschafts- und Länderwappen sind dem Ge-
schlechtswappen des Herrn entnommen — die Fahnen der Innungen — der ge-
krönte Brezel — Aushängeschilder der Handwerker — eine mittelalterliche Bilder-
sprache und Bilderschrift — Auslese von Wappen und Aushängeschildern in
tabellarischer Form.
Wir erhalten einen gesiegelten Brief, wie wir ihn heut-
zutage nur noch von Ministerien oder von Edelleuten zu
erhalten pflegen. Er ist von einem der letzteren, und zwar,
wie wir an der Krone mit den fünf kleinen Perlen sehen,
nicht von einem Grafen, nicht von einem Freiherm, sondern
von einem einfachen Edelmann. Wir erraten auch gleich,
von welchem: das Wappen enthält zwei Mistgabeln, die
übers Kreuz gelegt sind: das ist das Wappen derer von
Hopf garten. Ein Hopfengärtner warf, als Peter von
Amiens durch das Land zog, die Mistgabeln fort und ging
mit nach Jerusalem. Dafür ward er vom Landgrafen ge-
adelt und ihm besagtes Wappen zuerteilt. Wir brauchen
also den Brief nicht aufzumachen, um zu wissen, dass uns
Herr Bodo von Hopfgarten geschrieben hat.
Ebenso brauchen wir nicht in den Wagen zu gucken,
um zu wissen, dass ein Hopfgarten darin sitzt, wenn wir
das Wappen am Kutschenschlag beachten; wir brauchen
nicht ins Haus zu gehen, wenn wir das Portal ansehen,
das damit geschmückt ist; die Frau von Hopfgarten doku-
mentiert sich als solche, indem sie das Wappen auf ihre
Wäsche und auf ihre Bettdecke sticken lässt: wenn wir aber
zur Zeit der Kreuzzüge selbst gelebt hätten und im Schlacht-
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 22
.— 338 —
getümmel einem gehamischten Ritter begegnet wären, so
hätte er nicht nötig gehabt, sein Visier zu öffiien; er gab
sich zu erkennen, indem er die beiden Mistgabehi auf seinem
Schilde führte.
Das ist die ursprüngKche Bestimmung der Bilder,
welche wir Wappen nennen und die bisweilen, wie im gegen-
wärtigen Falle, an ein historisches Ereignis oder eine kühne
That erinnern, ursprünglich aber Symbole des Trägers ge-
wesen sind. An ihnen war der gehamischte, ganz in Eisen
gehüllte Ritter zu erkennen, zu diesem Ende liess er sich
die Wappen auf seine Wappen setzen, daher haben sie ihren
Namen. Wappen sind Waffen, genau so, wie die französischen
Armes und die englischen Arms; Wappen, mittelhochdeutsch
wäpen, ist die niederdeutsche, am Niederrhein übliche Form
des Wortes Waffen, mittelhochdeutsch wäfen, von Flandern
stammend, welches seinerzeit den deutschen Landen die
höfische, ritterliche Bildung PVankreichs übermittelte. Doch
sind es nicht die Waffen überhaupt, die in diesem Sinne
signifikativ und zu Wappen in unserem Sinne wurden, son-
dern nur die Schilde und die Helme; und auch diese wur-
den es nicht als solche durch ihre eigene Form und Farbe,
sondern niu* als Träger der ebenerwähnten Bilder, die man
darauf anzubringen pflegte. Bereits den Sieben gegen Thehen
gibt Äschylus Devisen, und bereits zu Tacitus' Zeit pflegten
die Germanen ihre Schilde mit Malereien zu verzieren; als
sich dann im Mittelalter für den gehamischten Ritter im
Schlachtgetümmel ein Erkennungszeichen notwendig erwies,
so war es natürlich, die Figuren auf den Schilden zu solchen
Erkennungszeichen zu benutzen und den bisher mit Adler-
büschen, Pfauenwedeln und Stierhömem geschmückten
Helm mit einer entsprechenden Figur, einem sogenannten
Kleinod, zu versehen. Gewöhnlich war es ein reissendes,
fernes, ich möchte sagen fabelhaftes Tier oder ein seltener
Raubvogel, ein Löwe, ein Leopard, ein Adler, ein Greif,
kurz ein sogenanntes Wappentier, das den Mut, den Adel,
die Kraft des Mannes versinnbildlichen sollte; später wählte
— 339 — .
•
man auch Haustiere, Lämmer, Fische, Rosen, Hirschhörner,
Burgen, Werkzeuge jederart und folgte dabei dem Zufall.
Aus Schildbildem und Helmkleinoden sind die Wappen her-
vorgegangen» die bald gleich den Nainen zu bleibenden
und erblichen Kennzeichen für ganze Geschlechter und zu
romantischen Musterbildern derselben wurden. Von Schild
und Helm übertrugen die Ritter ihre Wappenbilder auf
den Wappenrock, auf das Banner, die Pferdedecke, auf
Schloss und Hausgerät, auf das Siegel, kurz auf alles, was
irgendwie mit der Familie zusammenhing — oder vielmehr
sie übertrugen Schild und Helm mitsamt den Wappen-
bildem auf diese Gegenstände; die Bilder wurden von den
Waffen, an denen sie ursprünglich hafteten, gar nicht mehr
getrennt In der That sind die meisten alten Wappen, wie
man sie zum Beispiel in der sogenannten Manessischen Hand-
Schrift abgebildet findet, derart, dass man sich nur den
Ritter zu Pferde dahinter, den Schild am linken Arme, den
Helm auf dem Kopfe, zu denken braucht. So wurden die
Schilde und Helme von den Rittern, die zum Turnier ge-
kommen waren, auf einem besonders bestimmten Platze
behufs der Wappenschau aufgestellt und vom Herolde
untersucht, als welcher über die Tumierfähigkeit entschied.
Es wird erzählt, der Ritter habe an den Tumierschranken
den Herold mit einem Hörn gerufen und auf dem Turnier-
platz das gebrauchte Hom als Zeichen der geschehenen
Zulassung an seinem Helm befestig^; von dem Blasen auf
dem Home komme das französische Blason, Wappen und
Wappenkunde. Sicherer dürfte sein, dass Heraldik die
Wissenschaft der Herolde bedeutet, denen die erwähnte Wap-
penschau bei den Turnieren oblag und welche demgemäss
die genaueste Kenntnis der Wappen und des hohen und
niederen Adels haben mussten.
Wir nennen ein Wappen redend, wenn die Figur auf
dem Schilde gleichsam nur ein ideographisches Zeichen für
den Familiennamen ist und an die chinesische Bilderschrift
erinnert; ein redendes Wappen ist zum Beispiel das der
22*
- 340 —
Grrafen von Henneberg, welches (in seiner jüngeren Gestalt)
eine Henne auf einem Berge zeigt Nun, redend sind nicht alle
Wappen, es wäre das auch sehr schade, weil dabei jedwede
persönliche Symbolik wegrfällt; aber sprediend im höchsten
Grade. Jedes Geschlecht hat in seinem Wappen gleichsam
eine silberne Marke, die es unterscheidet, ein Tier, das vor
ihm hergeht und seinen ruhmvollen Namen in die Welt
brüllt, eine Hierogl3rphe, die wie ein Sternbild über seinem
Dache strahlt. Ja, da nachgerade nicht bloss Individuen,
sondern ganze Gesellschaften, höhere Individuen, diese Zei-
chen brauchten, indem Korporationen und Vereine, Klöster
imd Stifte, Gemeinden und Städte Wappen annahmen und
Wappen bestätigt erhielten; da femer die Wappen im Laufe
der Zeit auch auf den Besitz und weiter auf die mit sotha-
nem Besitz verbundenen erblichen Amter, auf Herrschaften
imd Herzogtümer, Grafschaften und Bistümer übertragen
wurden: so entwickelte sich diese mittelalterliche Hierogly-
phenschrift zu einer allgemeinen S3rmbolik, vermittelst deren
jedes selbständige Wesen einen bildlichen Ausdruck fand,
um damit der Welt zu imponieren. Hat doch schon jede
Indianersippe ihr meist dem Tierreich entlehntes Sinnbild
und ihr Totem. Wenn wir eine Flasche Benedictine aus der
Ähhaye von FScamp kaufen, so bekommen wir auf dem Um-
schlag das SigiUum Prioratus Sandissimae Trinitatis Congrega-
tionis S. Mauri: auf dem Avers den S. BENEDICTUS, auf
dem Revers einen von zwei Palmen umgebenen Schild mit
drei Bischofsmützen, auf dem Schilde eine Bischofsmütze
imd einen Kxiunmstab — mit in die Hand; wenn der Sedan-
festzug die Fahnen der Innungen, z. B. das Banner der
Bäcker an uns vorüberfuhrt, so flattert der gekrönte Brezel,
beziehentlich der Brezel, Über den zwei Löwen die Krone
halten, durch die Luft; und wenn wir eine Mark umwenden,
so erblicken wir den einköpfigen Adler des Deutschen
Reiches, über dem die deutsche Kaiserkrone mit fliegenden
Bändern schwebt Der Adler soll von Karl dem Grossen
bei seiner Krönung in Rom (25. Dezember 800) nach dem
— 341 —
Vorbilde der Römer zum Symbol des von ihm gegründeten
Reiches erhoben worden sein; der Doppeladler, seit Sigis-
mund beständiges Wappenzeichen der deutschen Kaiser,
jetzt das des österreichischen und russischen Kaiserreichs,
bezieht sich auf das ost- und weströmische Reich; bereits
das byzantinische Kaisertum führte seit der Teilung des
römischen Reiches den zweiköpfigen Adler.
Graf Stillfried- Alcantara hat ein Buch über die Attribute
des neuen Deutschen Beichs geschrieben. Ich finde diesen
Ausdruck nicht korrekt. Das Wappen geht regelmässig vom
Träger des Wappens aus, wenigstens wird es von ihm ge-
fuhrt, um seine Gegenwart anzuzeigen; ein so grosses Wesen
wie das Deutsche Reich lässt sich seinen einköpfigen Adler
nur scheinbar machen, im Grunde macht es ihn sich selbst.
Das Attribut wird, wie der Name sagt, einer Gottheit vom
Künstler beigelegt (attrtbuitur), um sie dadurch besser zu
charakterisieren, weil ihr der Gegenstand notorisch heilig
ist. So zum Beispiel, wenn der Bildhauer eine Juno durch
den Pfau, eine Minerva durch die Eule, eine Venus von
Milo durch die Schildkröte charakterisiert — das Attribut,
so wichtig, um sich in Museen zurechtzufinden, hat seine
Stelle (eigentlich nur in der Kunst. Niemals ist es einer
Jimo eingefallen, mit einem Pfau zu siegeln, sagen wir
besser, es würde ihr nie eingefallen sein. Bei sterblichen
Personen ist es anders, bei ihnen kann Attribut und Wappen
allerdings zusammenfallen.
Der Plan unseres Buches gestattet uns nicht, auf die
Geheimnisse der Heroldskunst näher einzugehen und die wei-
tere Ausbildung und Entwickelung des Wappenwesens zu
verfolgen; wir wollen uns daher mit diesen Grundzügen
begnügen und nur zur Illustration noch einige Proben aus
dem Orbis Fictus der mittelalterlichen Bildersprache und
Bilderschrift anführen. Erstens werden wir, und zwar mit
spezieller Rücksicht auf Italien, wo sie am häufigsten
monumental erscheinen, eine kleine Auslese von einigen be-
sonders interessanten und charakteristischen Geschlechts-
342 —
Wappen, respektive von sogenannten Devisen, die an Wap-
pen angebracht werden, englisch Badges, veranstalten. Da-
mit verbinden wir zweitens eine Übersicht über eine andere
Art von Schilden, nämlich über die sogenannten Aus-
hängeschilder oder über die an den Häusern ausgehängten
Zeichen der in den Häusern getriebenen Gewerbe — sie
Geschlecht
Wappenbild
Devise
Barberini [Papst Ur-
Bienen. Vergleiche Seite 304.
ban Vm.]
Borghese [Papst
Ein Adler, darunter ein Greif,
Paul VJ
scheinbar eine Fledermaus.
Borgia [Papst Alexan-
Der Stier.
der VL]
Borromeo
Das Einhorn.
Chigi [Papst Alexan-
Sechs goldene Berge und ein Stern.
der vn.]
Chlodwig
Zwei Lilien und drei Frösche.
Coleoni
Drei Hoden.
Colonna [Papst Mar-
Eine Silnle, angeblich die Trajans-
tin V.]
säule.
Cybo [Papst Inno-
Blaue und silberne Würfel in rotem
cenz VriT.]
Feld (x^ßog).
Czacki
Eine Sau.
Dürer
Drei silberne Schilde in blauem
Felde.
— 343 —
sind bürgerliche Wappen, bescheidene Sinnbüder eines
Handwerks, über dem man die Familie vergisst, ein Haupt-
bestandteil der populären Sprache ohne Worte, wie sie
schon im Altertum gesprochen worden Jst Wir stellen
über beide eine kleine Tabelle auf.
Fundort
Bemerkungen. ^
Deckengemälde des
grossen Saals im Pa-
laste Barberini zu
Rom.
Brunnengebäude der
Acqua Paola in Rom.
Portal der Villa Bor-
ghese in Rom.
Appartatnento Borgia
im Vatikan.
Vatikan.
Innsbruck , Grabmal
Maximilians I. in der
Franziskanerkirche.
Cpleoni - Kapelle in
Bergamo.
Palast Colonna in
Rom.
Als A. D. 1653 Childerichs Grab in Toumai entdeckt
wurde, fand man in demselben unter anderm seinen
Siegelring und viele goldne Bienen, mit welchen wohl
sein Mantel besetzt gewesen war. Auf diese Veran-
lassung nahm nun auch Napoleon I. die Bienen zu
Emblemen seines Kaisertums.
Nicht zu verwechseln mit dem Wappen der Familie Mon-
talto, die von Papst Sixtus V. gegründet ward: Drei
Berge und ein Stern. (Obelisk auf dem Petersplatz.)
Der Ahnherr der Coleoni hatte angeblich drei Hoden, da-
her der Name [Kleinpaul, Menschen- und Völkemanien^
Seite 154].
Von dem Ortchen La Colonna an den Albanerbergen über
der labicanischen Strasse, das seinen Namen von einer
antiken Säule hat.
Dürer hatte sich mit Anspielung auf seinen Namen, der
oft Thürer geschrieben wurde, zum Siegel eine Staffelei
gewählt, auf der ein Wappenschild mit einem Thor und
offenen Thüren lag. Geadelt erhielt er obiges Wappen.
— 344
Ges<
:hle
cht
Wappenbild
Devis,c
Este
Franz I.
reich
von
Frank-
Weisser Adler (the bird of Este).
Ein Salamander im
Feuer. Nutrisco et
Gaetani
Ein Stierkopf zwischen zwei Schil-
den.
exstmguo.
Gonzaga
Lucrezia
Gonzaga
Altes Wappen: Drei schwarze Bin-
den in goldnem Feld. Seit 1365
der gekrönte silberne Löwe von
Böhmen. Seit 1433 vier schwarze
Adler in Weiss.
Domine prohastu
t)Av^05. Fides.
Hirschkuh. Nessm
•
mi tocca.
Hamilton
Haugwitz
Hohenlohe
Karl V.
Mattei
Medici [die Päpste Leo
X. u. Clemens VIL]
Königin Maria von
Medici
Wilhelm von Mont-
joye
Olivarez
Trog und Säge.
Steinbock.
Phönix.
Zweiköpfiger Adler mit ausgebrei-
teten Flügeln.
Ein Schachbrett mit einem quer
durchgehenden Gurte, darüber ein
gekrönter Adler.
Sechs Kugeln (Falle) in goldnem
Felde.
Plus ultra.
Feuer im Winde.
Crescit adversis.
Taube. Forte Vertu.
Schäfer und Schäfer-
hund. Fiel y segredo.
— 345 —
Fundort
Bemerkungen.
Mauern der Burg,
welche sich an das
Grabmal der Caecilia
Metdla, das Capo dt
Bcve, an der Appi-
sehen Strasse an-
schliesst.
S. Maria in Ara-Celi,
Eingänge der Kirche.
Die Legende von dem italienischen Motto entlehnt: Nu-
drisco il huono e spengo il reo.
Ein Stierkopf ist bekanntlich bei ims das Wappen Meck-
lenburgs. In Rethra, der Kultusstätte der Polaben, be-
fand sich ein Bild des Gottes Radegast, derselbe hatte
auf seinem Haupte einen Vogel, auf der Brust einen
Stierkopf. Letzteren nahm Mecklenburg zum Wappen.
Vielleicht dem Petrarca entlehnt, welcher (Soneiti in vüa
di Madonna Laura No. 138) Laura als weisse Hirsch-
kuh und auf dem Halsband die Worte geschrieben sieht:
Nessun mi tocchi; libera farmi al mio Cesare parve. Be-
zieht sich auf das antike Motto : Caesaris sum ; noli nu
tangere.
Der Mythus von der Verbrennung des Phönix passte zu
dem Namen Hohenlohe (hohe Flamme). Einen Phönix
hatte auch der Herzog von Longueville in seinem Wap-
pen (Morir por no morir).
Clemens VII. nahm als Kardinal zur Zeit Hadrians VI.
das Sinnbild einer Glaskugel mit dem Motto Candor
illaesus an [Rafaels Tapeten im Vatikan]. Siehe Klein-
paul, Florenz in Wort und Bild, Seite 6. 18.
— 346 —
Geschlecht
Wappenbild
Devise
Pamphili [Papst Inno-
cenz X.]
Richelieu
Scala
Sforza
Grafen von Soissons
Sultan Soliman
Thurn und Taxis
Eine Taube mit einem Ölzweige.
Vecchietti
Wasa
Leiter (lat Scaia),
Die löwenköpfige Schlange, welche
ein Wickelkind verschlingt.
Vier Leuchter, von denen einer an-
gezündet ist.
Silberner Dachs im Blauen Felde.
Schiff im Sturme, fu-
renübus eminetaustris.
Fünf Mäuse.
Reisigbündel, schwedisch wasa^ ei-
gentlich Garbe.
Eine gespannte Pistole.
Si tangar!
Allah . vere! Gebe
Gott!
Gewerbe, Stände
Apotheker
Arzte
Bäcker (vergleiche
unten Weissbäcker)
Wappen. Zeichen.
Äskulapstab, auch Symbol der Heilkunde und Abzeichen
an den Achselstücken der Militärärzte.
Urmglas, vergleiche Seite 103. Fünf Pillen oder Schropf-
köpfe.
Sichel und Ähren, Embleme des Landbaus, Attribute der
Demeter (auf den Innungsfahnen).
— 347 —
Fundort
Bemerkungen.
Gipfel des Obelisken
auf Piazza. Navona in
Rom.
Die Torrianiy Herren von Mailand, legten sich w^en
ihres Besitzes in dem an Dachswild reichen Gebirge
von Tassis bei Bergamo den Namen derer von Taxis
bei.
Mit Anspielung auf den Namen der Familie Vec^ietii
sagt man in Florenz von einem, bei dem sich die Spu-
ren des Alters zeigen, er habe tnesso su Varme dei cin-
que topi.
Nach diesem Reisigbündel wurde Gustav Eriksson vom
Volke Gustav Wasa genannt.
Bemerkungen.
Einer schrieb über eine Apotheke:
Hio Tenditor
Catharticam, Emetlcam, Narooticnm
Et onrne qnod exit in um
praeter Remediam.
Die Pillen oder Schröpf köpfe sind angeblich mit den Kugeln der Medici iden-
tisch, deren Ahnherr ein Arzt gewesen sein und Kaiser Heinrich VIL kuriert
hiiben soll.
Auf den Bäckersiegeln alle Sorten Backwaren, namentlich der Brezel^ über den
zwei Löwen die Krone halten.
— 348 —
Gewerbe, Stftnde
Wappen. Zeichen.
Barbiere
Rasierbecken. Totenkopf mit zwei Knochen.
Bauern
Karst, d. i. eine Haue oder Hacke.
Bergleute
Bettfederhftndler
Schlägel oder Fäustel und Eisen (Bergeisen).
Ausgestopfte Gans, die in Federn schreitet Auch kleine
rote, mit Federchen besteckte Kissen.
Bierbrauer
Drei Gerstenähren, von Hopfen umwunden. Maischgabel
und Maischbottich.
Buchdrucker
Schwarzer, zum Fluge gerichteter, in den Krallen Tenakd
mit Manuskript und Winkelhaken haltender Doppeladler
in Gold. Kleinod: wachsender Greif, zwei Druck-
ballen in den Pranken.
Drechsler
Hirschgeweih.
Eiserzeuger
Essenkehrer
Eisbär (London, Freexing-Machine and Ice Company).
Leiter und Besen, von welchem letzteren sie in Frankreich
den Namen haben (Ramoneur von Ramcn).
Farbenlager
Bunter Stern.
Fischhändler
Steinerner Karpfen mit zwei Aalen, zum Bdspiel Espen-
hain Nachfolger, Ranstädter Steinw^, Leipzig. In
Altona: Blecherner Hering.
Fleischer
Ochsenkopf. Die Bockschlächter (italienisch Beccai\ haben
den aufsteigenden Ziegenbock (Becco) in gelbem Feld;
die Schweineschlächter, französisch Charcutiers, den
Schweinskopf.
Friseure
Wachsbüste mit frisiertem Kopfe. Auch Konfektions-
geschäfte haben eine Büste.
Gerber
1
Haareisen.
— 349 —
Bemerkungen.
Ein Barbier in Versailles, in der Nfthe des Sitzungsgebäudes der AssembUe Con-
stUuante schrieb auf sein Aushängeschild: Je rase le derge, je peigne la
noblesse et faccommode le tiers-etat.
In Frankreich zur Revolutionszeit die Wage, als Symbol der Gleichheit.
Den Buchdruckern verliehen von Kaiser Friedrich in. in Frankfurt; der Adler
ist der kaiserliche. Daher «fuhren einzelne Buchhandlungen den Adler (z. B.
Duncker & Humblot), andere den Greif (z. B. Cotta xmd Brockhaus). Die
Abnlichkeit des Adlers mit dem österreichischen Doppeladler gab gelegentlich
zu Beschwerden der wiener Hofbuchdrucker Veranlassung.
Auch Zeichen der Jagdgerechtigkeit, vergleiche Wand er, einem Homer auf-
setzen (II, Spalte 784).
Den Eisbären führen auch die Eiswerke leipziger Gastwirte,
Bin gutes Wappentier wäre das Murmeltier, das in Felsenspalten auf- und absteigt
und dem die Savoyaxden das Schomsteinf^erhandwerk abgesehen haben sollen.
Der Simplicissimus hatte es in hohlen Bäumen gelernt (II, Kapitel 31).
In Holland wird in den sogenannten Oesterputs oder Austernbrunnen ^ wenn es
neuen Hering gibt, über den Eingang eine Krone von Epheu, darunter ein
nachgemachter Hering gehängt.
Die Thonschweine in den Schaufenstern unserer Fleischer haben gewöhnlich die
Form des antiken Ebers in Florenz.
Ein Friseur in Troyes in der Champagne stellte in sein Schaufenster einen Ab-
salom, wie er im Walde mit seinen Haaren an der Eiche hängen bleibt und
von Joab erstochen wird (2. Samuelis XVIII, 9 ff.)»* darunter las man:
Fassants, contemplez la douleor
D'Absalon penda par la naqae:
n eüt dyittf ce malheur
8*11 eüt port^ perrnqae.
So zu sehen bei dem k. k, ausschliesslich privilegierten bürgerlichen Weiss- und
Sämischgerber , auch Pianofortejabrikantenleder er zeuger Daxl zu Wien im
Hundsturm.
— 350 —
Gewerbe, Stände
Wappen. Zeichen.
Glaser
Fenster mit bunten Scheiben, gewöhnlich ein r^elmässiges
Sechseck, ans bunten Glasrauten zusammengesetzt
Goldschmiede
Handschuhmacher
Becherlein und Ketten hinter den grünen Fensterranten der
Werkstatt, denn Schaufenster gab es noch nicht pdV.
Jahrhundert).
Grosser roter Handschuh, der in einer gelben Manschette
hängt und von weitem wie eine abgeschmttene blutige
Hand aussieht.
Holzschnitzer
Hölzerner Löffel.
Italiener
Weisse Austemschalen mit einem hölzernen Pomeranzen-
und Zitronenkranz.
Kaffeewirte
Hebe mit einer Kanne in der Hand (Italien).
Kolonialwarenhändler
Mohr mit Anker. Türke, einen Tschibuk rauchend.
Kupferschmiede
Kessel.
Kürschner
Ausgestopfte wilde Tiere, Löwen, Tiger, Luchse, Bären,
Füchse, Seehunde u. s. w. Früher Pelzwerk, nament-
lich Grauwerk, italienisch Vaioj nach welchem in Ita-
lien die Kürschner (i Vaiai) benannt sind, wie in
Deutschland nach dem Pelzrock oder der Kursen,
Müller
Hölzerne Windmühle. Wohl auch eine Metze.
Milchwirtschaft
Eine Kuh von Gips. Kühe mit Kälbern.
Möbelhändler
Tafel mit aufgemaltem Spiegel und Sopha.
Pfandleiher
In England: drei goldene Kugeln (three golden balls).
Prostituierte
An einem pompejanischen Lupanar findet sich das Signum
emes Phallus, mit der Inschrift HIC HABITAT FELI-
CITAS. Ein Cunnus wäre richtiger.
Sattler
Schlosser
Aufgezäumter Pferdekopf.
Grosser Schlüssel.
— 351
Bemerkungen.
JBine blutrote Hand ist die unterscheidende Wappenzier der englischen Baronets,
doch hat diese einen heraldischen Sinn. Es ist die Hand O'Neill's, der bei
einer alten Expedition nach Irland der erste am Land sein wollte und sich,
da ihm ein anderes Boot zuvorkam, die linke Hand abhieb und sie an die
Küste warf [Brewer, Dictionary of Phrase and Fable: Red Hand of Ireland\,
Der MHller mit der Meteen,
Der Weber mit der Gretzen,
Der Schneider mit der Scher,
Wo kommen die drei Diebe her?
Pistorius Th/etaurtta Paroemiarum III, 49 (Leipzig 1716).
In Pompeji hat ein Milchhändler ein Kind, welches eine Kuh melkt, als Aus-
hängeschild oder Signum,
Die Medici, die Rotschilds ihrer Zeit, erhoben in allen Ländern den Peters-
pfennig und machten Lombardgeschäfte. Daher gingen ihre Kugeln wieder auf
die Pfandleiher über. Nach anderen vom heiligen Nikolaus, vergleiche Klein-
paul Florenz in Wort und Bild, Seite i8.
— 352 —
Gewerbe, Stände
Wappen. Zeichen.
Schmiede
Hammer und Zange in einem Schild (an den Hftnsem, wo
I ihre Innungsstuben waren).
Schneider
Schuhmacher
Schulmeister
Schwertfeger
Seifensieder
Weissbäcker
Wirte (besonders
Weinschenken)
Wollenweber
Wursthändler
Zimmerleute
Schere und Bügeleisen.
Leisten und Leistenzieher.
Das Aushängeschild eines Schulmeisters gemalt von Hol-
bein A. D. 1516 (Baseler Museum). (?)
Stossdegen und Soldatenjacke (italienisch Giaco).
Atlas, der eine seifene Weltkugel trägt.
Ein schreitender Löwe, der eine Brezel anbietet. Ur-
sprünglich eine gekrönte Brezel, gehalten von zwei
schreitenden Löwen, welche in den anderen Pranken
ein Schwert halten.
Ein vor dem Hause aufgehängter Kranz oder Reif^ der
wohl das herrliche, lustige Leben drin versinnbildlichen
soll. Im Laufe der Zeit ist von dem Kranze nur ein
grüner Zweig, ein Busch, ein Maie oder Strauss, ita-
lienisch Frascuy übrig geblieben, daher ein Wirt, der
verzapft, Strausswirt heisst. In Frankreich wird der
Eingang der Schenken durch einen Tannenzweig oder
Tannenzapfen bezeichnet.
Weisses Schaf mit weissem Fähnchen, welches ein rotes
Kreuz in blauem Felde zeigt (Florenz).
Schwein von Schmalz.
Hobel und Säge oder Winkelmass.
— 353 —
Bemerkungen.
Das Wappen setzten sich die Schmiede angeblich nach dem Vorgange Wittich^s,
welcher der Sohn des Schmiedes Wieland war; ein deutscher König verlieh
es ihnen wohl auch ausdrücklich, weil sie ihm tapfer beigestanden.
Ein Schneider Hess sich einen Schild malen: Zwei Löwen halten eine Schere,
Auch Greife kommen vor, die eine ungeheure Schere halten. Der Scheren
wegen wird der Schneider gelegentlich mit einem Krebs verglichen [Grimm,
Wörterbuch V, Spalte 2128].
Auch ein grosser hölzerner Stiefel dient als Aushängeschild. Vergleiche Shake-
speare König Heinrich der Vierte. Zweiter Teil (II, 4): und trägt seine Stiefel glatt
an, wie an einem ausgehängten Bein auf einem Schilde.
Ich fürchte Gott und lass ihn walten.
Mach neue Schuh und flick die alten (Graupen bei Teplitz).
Alexander war ein grosser Held, Help God in Genaden,
Hier gibts die beste Seife von der Welt! Hier wird ok S6pe gesaden!
Das Wappen den Weissbäckem wegen ihres Löwenmutes von Kaiser Karl IV.
zugeteilt (A. D. 1348). An den Innungsstuben.
Die alten Römer schmückten den Eingang ihrer Cauponae mit einer Epheu-
ranke, weil der Epheu dem Bacchus heilig war. Daher Publilius Syrus in
seinen Sentenzen sagt: suspendere vino per se vendibili non opus est hederam,
wie es noch jetzt in Italien heisst: il buon vino non vuol frasca, oder in
Frankreich: a bon vin pas d*enseigne, uüd selbst bei uns: guter Wein darjf
keins ausgesteckten Reyffs, In Shakespeares König Johann II, 2 sagt der Bastard,
dass auf jeder Schenke Schild der drachenspies sende Ritter St. Georg zu Pferde
sitze. In Pompeji bildet ein viereckiges Täfelchen in gebranntem Thon, zwei
Männer darstellend, welche eine Ampiwra an einer Stange tragen^ das Aus-
hängeschild einer Weinschenke (Signum),
Auch wohl Krempeln, Krätzel, Wollkämme und dergleichen.
K 1 e i n p a u l , Sprache ohne Worte. ^^
Drittes Buch.
Mit Absicht der Mitteilung und mit Gedanl^enaustauscii.
23*
Erstes Kapitel.
Die entwickelte Sprache. Pantomimen und Hieroglyphen
des Volks.
Was ist besser, ein Feuerzeug oder ein brennendes Licht? — bisher hat man
uns nur das Feuerzeug gereicht — Entwickelung des Gedankens aus dem Dinge '
— Wirklichkeit und Wahrheit — was geschieht eigentlich in uns, wenn wir
denken? — der denkende Mensch gleicht dem Hirten im Evangelium, der das
verlorene Schaf in seinen Stall zurückbringt — gleich ihm bringt er das Indi-
viduum in der Art vermöge des Urteils unter — in der Sprache wird das In-
dividuum zum Subjekt, die Art zum Prädikat, das Urteil zum Satz — der Satz
wird wiederum in vierter Reihe zur Verknüpfung eines Substantivs mit einem
Verbum — alle Sprache dreht sich um den einfachen Satz — die Realisierung
des Satzes in der Lautsprache und in der Sprache ohne Worte — die Darstel-
lungsmittel der letzteren sind die Geberde und die Schrift — der Klub des
Stillschweigens in London, seine seltsamen Gebräuche und Satzungen — er über-
sieht nur, dass sein Stillschweigen kein absolutes und dass die Geberdensprache
auch eine Sprache ist — die Kunst der Pantomime — der pontische König er-
bittet von Nero einen Schauspieler, der ihm helfen soll, sich mit Barbaren zu
verständigen — die Chironotnia der Alten: Beispiel an einer antiken Vase —
die Finger kleine alpartige Geister — was man mit ihnen alles zu Wege bringt
— die Geberdensprache und der plastische Sinn der Neapolitaner — jeder Nea-
politaner vom Lazzarone bis zum König spricht mit seinen Händen — die
Rede des lie Bomba — die Finger als Geschwister, als Sekretäre — die
Bilderschrift des Volkes in Wirtshäusern und Schaubuden — Theaterzettel und
andere Anzeigen in Bildern — Hier wird nicht gepumpt — Schimpf und Spott
greifen zur Bilderschrift — die Geige, ein volksmässiges Sinnbild für das Weib
— wie sie gefallenen Mädchen angehängt und zu einem allgemeinen Ausdrucke
des Spottes erhoben wurde — in Tirol wird sie an die Wand gemalt — Korre-
spondenz per Postkarten zwischen einem Westfalen und seinem Stammtisch in
Leipzig — die Bilderschrift dient gelegentlich dazu, die Gedanken des Schreibers
zu verhüllen — Gaunerzinken und Spitzbubenzinken — Zeichen der Fahrenden
— 358 —
Leute: der Pfeil — zum Teil sind diese Zeichen uralte deutsche Personenbe-
zeichnungen — Pfeile, Herzen, Fackeln auf Liebesbriefen des XVI. Jahrhunderts
— erotische Wandmalereien — die griechische Drei und die polnische Fünf.
Wir haben eine Sprache gefunden und wir suchen nach
einer besseren, ohne noch zu wissen, ob es eine bessere
wirklich gibt. Mehr Licht! Mehr Licht! — rufen wir mit
Goethe und andern Sterbenden. Ha! Wenn wir Licht
brauchten und es reichte uns einer ein Feuerzeug — sei
es ein Luntenfeuerzeug, sei es eine Döbereiner'sche Zünd-
maschine, sei es eine Schachtel voll schwedischer Zündhölz-
chen — ein anderer aber reichte uns einen brennenden
Wachsstock — welchem von beiden wären wir zu grösserem
Dank verpflichtet? Nicht wahr, dem letzteren? — Denn die
Lunte kann nicht verfangen, der Phosphor kann abgerieben
sein, und am Ende haben wir noch die Mühe.
Mehr Licht! — Bisher hat man uns nur das Feuerzeug
gereicht. Man hat uns die Nuss gegeben, die wir knacken,
das Rätsel, das wir selbstdenkend lösen sollen. Vielleicht
dass es doch gut wäre, wenn nicht bloss das Ding gezeigt
würde, wie es aussieht, sondern auch die Eigenschaft, die
an dem Dinge haftet und auf die es eben ankommt, be-
sonders hervorgehoben und dem Beobachter präsentiert
werden könnte wie eine reife Frucht — wenn diese Eigen-
schaft irgendwie symbolisch sichtbar und greifbar gemacht
werden könnte. Dann hätte der Angeredete nichts mehr
zu erraten, er hätte nur aufzumerken; er hätte den Gedan-
ken nicht mehr wie ein Klind von der Mutter zu entbinden,
er hätte ihn nur aufzuheben wie ein Vater das Knäblein,
das vor ihm niedergelegt worden ist
Dann entstünde eine wahre Unterhaltung und ein
wahrer Gedankenaustausch fände statt — eine neue Sphäre
und ein neues Reich von logischen Beziehungen und von
logischen Kategorien thäte sich plötzlich auf — die Sphäre
der Erkenntnis und eines höheren, gleichsam potenzierten
Daseins. Denn die Natur ist einfach und ungeteilt, im
denkenden Menschengeiste tritt ein Zwiefaches in ein Ver-
— 359 —
hältnis und erzeugt jene subjektive Übereinstimmung, die
"Wahrheit genannt wird — es hat sich vor unserer Seele
wie ein Vorhang weggezogen und wir blicken in eine neue,
fremdartige Ordnung der Existenz.
Was ist dcis für eine Ordnung? Welchen Ausdruck
findet sie in der Sprache? Was geschieht eigentlich in uns,
wenn wir denken? —
Des weisesten Mannes tiefste Gedanken und die Fase-
leien eines Idioten, beide kommen sie mir vor, wie die
sorgenvollen Wege des Hirten im Evangelium, der hundert
Schafe hat und dem eins davon abhanden gekommen ist.
Er geht hin nach dem verlorenen, bis dass er es finde, und
wenn er es gefunden hat, so legt er es auf seine Achseln
mit Freuden. Ich will nun annehmen, dass der Mann seine
hundert Schafe in vier Herden geteilt und fiir die vier
Herden vier verschiedene Ställe gebaut habe. Wenn er
also heimkommt, so ruft er erst seine Freunde und Nach-
barn und spricht zu ihnen: Freuet euch mit mir, denn ich habe
mein Schaf gefunden, das verloren war; dann aber trägt er
das Schaf zu der Hürde, wo es hingehört. Der Schäfer
weiss nicht gleich, welche Hürde das ist. Er sieht sich
deshalb das Schaf daraufhin recht an — je nach der
Herde haben nämlich die Schafe Zeichen auf dem Vliesse;
aber weil es spät geworden ist, so kann er in der Finster-
nis das Zeichen nicht mehr gut unterscheiden. Endlich
glaubt er ein rotes A zu sehn und er trägt das Schaf zum
ersten Stalle; aber die Schafe, die darin stehn, bekennen
sich nicht dazu. Jetzt hält er den Buchstaben fiir ein B,
er trägt das Schaf zum zweiten Stalle; aber es ist auch
nicht der richtige. In dem Augenblicke geht der Mond
auf und bei seinem Scheine erkennt der Hirte, dass es ein
D ist. Er trägt also sein Schaf zum vierten Stalle, die
Schafe blöken, und nun hat die liebe Seele Ruhe.
So der nachdenkende Mensch. Sein Schaf ist das In-
dividuum und seine Herden sind die Arten, die er kennt.
Das Individuum der Art unterzuordnen, zu welcher es
— 360 -
gehört, das Schaf in den richtigen Stall zu bringen, ist die
Hauptsorge des Verstandes. Die Unterbringung erfolgt im
Urteil.
Soll nun das Urteil eine äusserliche Gestalt gewinnen,
so sind offenbar zwei Ausdrücke nötig, einer für das Indi-
viduum und einer für die Art; das Nebeneinandersetzen
beider wird die Form sein, in der wir die Identität beider
Begriffe anerkennen. Die Grammatik verwandelt dann den
Namen des Individuums in den des Subjekts und den
Namen der Art in den des Prädikats. Die Verbindung
des Subjekts mit dem Prädikate nennt sie Satz.
Dabei scheint es nicht unangemessen, sich das Prädikat
als einen dem Subjekt inwohnenden Zustand, gewisser-
massen als das Wesen des Subjekts vorzustellen; mit andern
Worten: aus dem Prädikat ein Verbum zu machen und
im Gegensatze dazu das Subjekt ein Nomen und zwar ein
Nomen Substantivum, respektive ein Pronomen zu
nennen. Die Sprache wird mithin in vierter Reihe die
Verknüpfung eines Substantivs mit einem Verbum.
Und damit ist sie fertig; sie hat nicht mehr, nicht
weniger vonnöten; in dem Satze, welcher Subjekt und
Prädikat verbindet, ist alle Beredsamkeit des Demosthe-
nes enthalten. Zwar vermag die Sprache nicht immer mit
diesen Elementen der menschlichen Rede auszukommen
und alle näheren Bestimmungen in die zwei Urredeteile,
das Substantivum und das Verbum, zu pressen, daher sie
dann von aussen und unorganisch unzählige neue Partikel-
chen an das Verbum und an das Substantivum anleimt.
Aber bedenken wir, dass alle jene näheren Bestimmungen
einzig und allein Auskunftsmittel und sozusagen Entschul-
digungen einer Sprache sind, die nicht mit einer unbe-
schränkten Zeugungskraft begabt ist; und dass selbst wenn
ganze Sätze in Form von Bedingungen und Gründen ein-
geschoben werden, der ursprüngliche Satz innerlich doch
nicht grösser wird, sondern ein einfaches logisches Ver-
hältnis bleibt. In Ewigkeit dreht sich die Sprache um
— 361 —
Substantivum und Verbum, die Identität von Subjekt und Prä-
dikat. Dagegen entsteht jetzt die grosse Frage. Es fragt sichi
Wie wird denn nun der Satz realisiert? Wenn die Sprache
niemals auf etwas anderes als auf die Verknüpfung eines
Verbums mit einem Substantivum hinausläuft; wenn diese
beiden Elemente wenigstens den Kern darstellen, an wel-
chen alle übrigen Redeteile im Laufe der Zeit anschiessen;
was haben denn die Menschen für Mittel, um Substantivum
und Verbum darzustellen und perfekt zu machen? — Un-
vermerkt sehen wir uns hier von neuem vor das schwierige
Problem des Ursprungs der Sprache gestellt.
Wer dasselbe aufs Tapet bringt, pflegt zunächst und
ausschliesslich an die Lautsprache zu denken; er will nur
Ohren für die Sprache, keine Augen. Wie mag es beim
Grauen des ersten Tages gewesen sein, als ein Jäger oder
ein frommer Hirte den patriarchalischen Mund aufthat und
zum erstenmale ein Subjekt mit einem Prädikat verknüpfte,
um seinem aufhorchenden Weibe das logische Verhältnis
zweier Begriffe auseinanderzusetzen? Wie mag die Har-
monie der ersten menschlichen Rede über die Erde ge-
zittert haben, als einst Apollo auf der Leier Merkurs die
ersten Saiten rührte und die Töne mit Worten bögleitete?
— Nun haben sich allerdings die Laute der menschlichen
Stimme als der Boden erwiesen, auf welchem das Gewächs
der Sprache am üppigsten gedeiht; die Lautsprache ist
unter allen Sprachen die am meisten entwickelte und am
meisten ausgebildete, man kann sagen, die Sprache par ex-
cellence und von der gegenwärtigen Phase an die unbe-
strittene Führerin. Gleichwohl muss anerkannt werden,
dass die Darstellung des Satzes auch noch mit andern
Mitteln gelungen ist und dass die Sprache ohne Worte
nicht gleichsam an der Pforte des Gedankens stehen bleibt,
sondern ebenfalls die logische Schwelle überschreitet und
eine regelrechte Nachbildung von Subjekt und Prädikat er-
möglicht. Ja, man möchte behaupten, dass die Mittel, welche
die Sprache ohne Worte anwendet und mit denen sie der
— 362 -
Lautsprache gewissermassen Konkurrenz macht, natürlicher
sind und näher liegen als die gesprochenen Worte, deren
Entstehung eine komplizierte geistige Thätigkeit voraussetzt
— die Übersetzung der sichtbaren Welt in Laute und
Lautkomplexe bleibt immer etwas Dunkles und Unverständ-
liches, es scheint, der Mensch müsse sich erst auf Um-
wegen zu einem solchen Wagnis entschlossen haben, zu-
nächst wird jedermann darauf verfallen, das Sichtbare acht-
bar, das Körperliche körperlich darzustellen. Die beiden
Darstellungsmittel der Sprache ohne Worte sind: die Ge-
berde und die Schrift.
Gegen Ende des XVIL Jahrhunderts bildete sich in
London ein Klub des Stillschweigens. Als Grundgesetz galt,
den Mund nicht aufzuthun. Der Präsident war taubstumm;
wie die andern sprach er mit den Fingern, und selbst diese
Beredsamkeit durfte nur bei ausserordentlichen Gelegen-
heiten angewendet werden. Als die vereinigten Heere des
Prinzen Eugen und Marlboroughs am 13. August 1704 den
glänzenden Sieg bei Höchstädt errungen hatten, wag^e es
ein patriotisches Mitglied, die Nachricht laut zu verkündigen;
alsbald wurde abgestimmt, ob der Frevler noch im Klvh
des Stillschweigens verbleiben dürfe — die meisten waren für
sofortige Ausstossung. Sie sprachen ihr Verdikt nach alt-
römischer Sitte aus, indem sie den Daumen nach unten
wandten: damit gaben einst die Zuschauer im Amphitheater
den Befehl zur Erteilung des Todesstosses, wenn der ver-
wundete Gladiator, um sein Leben bittend, einen Finger in
die Höhe hob. Auch beim antiken Faustkampf war der
Kampf entschieden, sobald sich einer der Kämpfer durch
Emporheben der Hand für besiegt erklärte. Das Zeichen
der Gewährung war von Seiten der Zuschauer das Schwen-
ken von Tüchern.
Ich weiss nicht, wie die londoner Stillschweigenden
umgekehrt über die Wahl abstimmten, wenn ein neues
Mitglied in den Klub aufgenommen werden sollte — ob sie
— 363 —
aufstanden oder ob sie die Hand aufhoben — ob sie nickten
oder nach Art der alten Römer dem Vorsehlag beitraten (pedihus
iverunt in sententiam) — ob sie Kugebi oder Bohnen nahmen.
Jedenfalls weiss ich, dass sie nicht Ja! gerufen haben, wie
die alten Deutschen und die Spartaner.
Die berühmte Koterie wird in England noch heute mit
Hochachtung genannt. In dem Vestibulum des Klubhauses
war die Marmorstatue eines Gottes aufgestellt, der den
Zeigefinger der rechten Hand auf den Mund legte und mit
der linken ein Hom hielt; sein Haupt schmückte die Lotos-
blume. Das war der wohlbekannte Harpokrates, der Sohn
der Isis und des Osiris, dessen Bilder man an den Ein-
gängen von Tempeln anzubringen pflegte — Horus das
Kind, ägyptisch Har-pi-kruti, der (vergleiche Seite 230) als
Kind an seinem Finger nutschte, in dem aber die weisen
Griechen den Gott des Stillschweigens erkannten und der
hier dem eintretenden Schüler des Pythagoras die goldenen
Worte zuzurufen schien:
Du verzäunest deine Güter mit Domen; warum machst du
nicht vielmehr deinem Munde Thür und Riegel? —
Ähnliche gute Sprüche bedeckten die Wände der Ge-
sellschaftsräume, der Speisezimmer, der Lesehallen; dawaren
wie in La Trappe die Worte des 139. Psalms zu lesen:
Vir linguosus non dirigetur in terra;
da stand das schöne italienische Sprichwort angeschrieben:
Un bei tacer non fu detto mai,
ein schönes Schweigen wurde nie gesagt. In Summa, es
waren schöne Schweiger, echte Jünger der Sprache ohne
Worte, Vorläufer des Verfassers, der zwar selber Worte
macht, aber in Worten zeigen will, dass wir der Worte
nicht bedürfen, um deutsch zu reden, dcis heisst deutlich.
Nur eins haben sie noch nicht begriffen. Es ist zwar
schön und dem Herzen der Vereinsmitglieder rühmlich, dass
sie ihre heiligen Räume durch kein lautes Wort, kein pro-
— 364 —
fanes Gespräch entweihen wollen — dass sie nur stille Ge-
berden, bedeutungsvolle Zeichen zum Ausdruck ihrer Ge-
danken wählen und Unguis favent: aber darin täuschen sie
sich, dass sie glauben, das sei keine Sprache, und sich
mimisch unterhalten heisse schweigen. Die Geberdensprache
ist eine vollendete Sprache, nur dass die Luft nicht er-
schüttert wird; und ein absolutes Schweigen tritt erst dann
ein, wenn der Austausch der Gedanken völlig stockt Das
hönnten sich auch die Trappisten und alle, die Profession
vom Schweigen machen, aber nur in Worten schweigen,
gesagt sein lassen. Wer hätte sich im berliner Opemhause
noch nicht an einem grossen Ballett ergötzt, an Satanella
oder an Ellinor und an jenen pantomimischen Tänzen, die
Cervantes redende Tänze nennt? — Die Kunst der Pantomime
war bei den alten Römern zu einem Grad der Vollkommen-
heit gebracht worden, dass ihnen diese stumme Sprache oder
diese stumme Musik, wie sie dieselbe nannten, deutlicher er-
schien als die Deklamation selbst. Cassiodor spricht von
den beredten Händen, den sprechenden Fingern, dem pathetischen,
Schweigen der Künstler, die gleich ihren Geberden den Namen
Pantomimen führten. Ein Gesandter des Pontischen Königs
(der Pontus war seit Mithridates durch sein Völker- und
Sprachen gemisch bekannt) wohnte in Rom der Aufführung
eines Pantomimus bei. Er war von der Geschicklichkeit des
Schauspielers so entzückt, dass er den Kaiser Nero inständig
bat, ihm den Mann gnädigst zu überlassen. Eure Majestät
halte mir meine Bitte zu gute, sagte der Gesandte; wir haben
Barbaren zu Nachharn, deren Sprache niemand versteht und die
die unsere niemals erlernen werden: dieser Mann, der durch Ge-
herden zu sprechen weiss, wäre am ersten imstande, ihnen unsern
Willen beizubringen. Es scheint, dass oft ein einziger Schau-
spieler das ganze Stück aufführte, denn ein anderer Fremder,
welcher gleichfalls in Rom ein solches Ballett sah, drückte
eben einem Pantomimen sein Erstaunen darüber aus, dass
er es allein gegeben habe — Du hast in Einem Körper mehr
als Eine Seele, meinte er zu ihm. Und dabei konnten die
— 365 —
römischen Pantomimen nicht einmal das Gesicht zu Hilfe
nehmen, denn sie waren wie alle Schauspieler maskiert.
Sollte man es glauben, dass es der Schauspieler Ros-
cius im Ausdruck der Gedanken mit dem Cicero aufnahm?
— In seinen jungen Jahren erhielt Cicero von Roscius Unter-
richt; und später pflegten beide oft miteinander zu versuchen,
wer einen Gedanken am besten und wirkungsvollsten aus-
zudrücken imstande sei, der Redner mit seiner Beredsam-
keit oder der Schauspieler mit seinen Gesten. Cicero
wechselte seine Redensarten, Roscius seine Geberden, ohne
dass ein Ausdruck weniger passend, weniger kräftig ge-
wesen wäre. Macrobius, der diese Anekdote erzählt, fügt
hinzu, Roscius habe durch solche Übungen eine so hohe
Meinung von seiner Kunst bekommen, dass er ein Werk
geschrieben habe, in welchem er Beredsamkeit und drama-
tische Kunst verglich.
Die Schauspielkunst jener Tage muss wohl gross und
in vieler Beziehung grösser gewesen sein als jetzt; ja, ich
stehe nicht an zu behaupten, dass die Pantomimen des alten
Italiens, von denen uns in den pompejanischen Gemälden
zahlreiche Gruppen in den mannigfaltigsten Posen, den an-
mutigsten Attitüden erhalten sind, unsere Balletttänzer nicht
nur an Kraft und Formenschönheit, sondern auch an Ge-
wandtheit und an eigentlicher Kunstfertigkeit übertrafen.
Die ersten Männer des Reichs verfolgten ihre Darstellungen,
man kann sagen, mit Leidenschaft. Das römische Volk
aber liebte sie dermassen, dass man unter Kaiser Konstan-
tius alle Philosophen aus Rom fortjagte, weil angeblich
Hungersnot vor der Thür stand, aber man behielt sechs-
tausend Pantomimen, nämlich dreitausend Schauspieler und
dreitausend Schauspielerinnen.
Und jedermann bekam etwas ab von dieser Pantomimik;
oder vielmehr umgekehrt: die Kunst wurzelte in dem Boden
des Volksgemüts, das von jeher zur Mimik und zur plasti-
schen Ausdrucksweise neigte. Die Alten nannten die Kunst,
zu gestikulieren und mit Händen und Füssen zu sprechen,
— 366 —
Ghironomiay dcisselbe wie Pantomimik; sie wurde von Grie-
chen und Römern stark geübt, im Theater, auf der Redner-
tribüne und im gemeinen Leben auf der Strasse. Sie war
ihnen notwenig, weil sie die Gewohnheit hatten, zu Volks-
versammlimgen unter freiem Himmel zu reden — die Mehr-
zahl hätte den Redner ohne Beihilfe gewisser konventio-
neller Zeichen kaum verstehen können. Diese Zeichen
bestanden in eigentümlichen Haltungen der Hände und der
Finger, deren Sinn allgemein anerkannt und allen Klassen
geläufig war; von der Rhetorik wurden sie in ein vollstän-
diges System gebracht. Noch heute findet man im neapo-
litanischen Volke Spuren dieses Systems: lange Unterhal-
tungen werden da geführt, ohne dass man ein Wort hörte.
Die heutigen Neapolitaner sprechen mit Geberden wie die
Alten, ja teilweise noch mit denselben Geberden wie die
Alten, und ein gewöhnlicher Lazzarone, den wir mit ins
Museum nehmen, wird uns häufig, wenn es sich um popu-
läre Chironomen oder Pantomimen handelt, die beste Auf-
klärung geben können. Wir erblicken auf einer Vase zwei
Frauen und einen Satyr: die beiden Frauen zanken sich.
Die links beugt sich vor und streckt anklagend ihren Zeige-
finger aus; die rechts macht eine Bewegung rückwärts,
unterbricht sich im Schlagen des Tamburins und hebt die
Arme in die Höhe: sie ist überrascht, wenigstens stellt sie
sich so, als ob sie's wäre. Bis hierher dürfte es wohl ein
jeder erraten haben. Aber die Veranlassung des Streites?
Man kann sie gleichfalls an den Fingern der Frauen ab-
lesen. Es handelt sich um die Liebe, und die Eifersucht ist
im Spiele. Wenn ein heutiger Neapolitaner den Begriff
Amore veranschaulichen will, so verbindet er die Spitzen
des Zeigefingers und des Daumens der linken Hand: eben
dcis thut die erste Figur, und die zweite drückt nicht nur
die einfache Überraschung durch ihre Haltung aus, sie
leugnet auch und ist über die Zumutung entrüstet, und
zwar indem sie die geöfihete rechte Hand in Schulterhöhe
hebt: denn das ist die Art und Weise, wie der Neapolitaner
— 367 —
etwas ableugnet, besonders wenn ihm die Beschuldigung
missfällt. So sind diese paar Gesten einem langen Ge-
spräche gleich. Der Gegenstand des Streites ist ohne Zwei-
fel der sitzende Satyr, der anscheinend mit grossem Eifer
zwischen den beiden erzürnten Damen seine Flöte bläst,
aber der Nymphe mit dem Tamburin einige unvorsichtige
Avancen machte. Seine alte Leidenschaft, die hinter ihm
steht, hat ihn ertappt. Auf diese Weise wird das kleine
Bild ein niedliches Pendant zu dem ersten Relief an der
Molin'schen Bronzegruppe zweier Messerkämpfer in Stock-
holm.
Die Finger sind gleichsam kleine alpartige Geister: in
dem sächsischen Siebenbürgen wird ein Märchen erzählt,
wie die vier Finger zusammenausgehen ohne den älteren
Bruder, den Daumen, und gegen seinen Willen. Als sie
in Gefahr geraten, ruft der Kleine den Daumen herbei, der
ihnen mit einer Keule zu Hilfe kommt. Ahnlich heisst es
in der Bretagne, wer nicht faul sei, habe zu aller Zeit zehn
Zwerge im Dienst, die für ihn arbeiten, nämlich die zehn
Finger; und so antwortete der Papst Clemens XIV. auf die
Fr^e einer Prinzessin, ob er nichts von der Indiskretion
seiner Sekretäre fürchte: Nein, gnädige Frau, ich fürchte nichts,
trotzdem ich ihrer drei habe — er zeigte die drei Finger, mit
denen er schrieb. Bei uns selbst sagen die Kinder:
Das ist der Daum,
der schüttelt die Pflaum u. s. w.
Aber ebenso gut könnte man behaupten, wer stumm sei,
habe jederzeit zehn kluge Zwerge im Dienst, die fiir ihn
sprechen und Subjekt und Prädikat blitzschnell und beredt
nachmachen: die Finger sind wahre Poeten, namentlich in
Neapel.
Will der Neapolitaner andeuten, dass sich zwei Per-
sonen nahe stehen, z. B. Bruder und Schwester und, wie
es auf italienisch heisst, come le dita della mano, wie zwei
Finger an einer Hand sind, so legt er die beiden Zeige-
finger aneinander; er betrachtet seine Hände als Geschwister,
— 368 —
genau so wie Signora Francesca in den Bädern von Lucca
ihre beiden Füsschen wie hölzerne Puppen agieren, von
einander Abschied nehmen, sich mit den Spitzen küssen
und die zärtlichsten Dinge sagen lässt. Auch der Franzose
hat das Sprichwort : Deux bons amis sont comme les äeux daigts
de la main»
Man kann dreist sagen, dass die Neapolitaner ebenso
viel mit Geberden, als mit Worten sprechen; und dass sie
sich der ersteren auch dann noch bedienen, wenn Worte
recht gut verstanden werden würden, bloss weil sie ihrem
Temperamente mehr entsprechen. Fainello sieht seinen
Freund Carta-carta vorübergehen; er will sagen, er soll
warten: er sagt das nicht, er erhebt nur seinen Arm. Man
will die neueste Canzona kaufen, ist sie noch vorrätig?
Der Buchhändler wirft (dvavevuDv) den Kopf zurück und
macht den Mund nicht auf. Man will den Herzog Madda-
loni besuchen und fragt, ob er zu Hause sei. Der Diener
beginnt sich mit den Fingern Hals und Kinnlade bedauer-
lich zu kratzen; versteht man die Grimasse nicht und fragt
noch einmal, so kratzt der Unselige nur noch mehr; fragt
man immer wieder, so kratzt er weiter, gerade als ob er
stumm geboren wäre. Ebenderselbe wird, um gar nichts,
niente affatto auszudrücken, eine im ganzen Orient gebräuch-
liche Geste wiederholen, nämlich den Nagel des rechten
Daumens an die Oberzähne ansetzen und ihn durch eine
rasche Bewegung vorschnellen; nicht minder beliebt ist eine
abweisende Bewegung des Zeigefingers, synonym mit der
vorigen, aber mehr unserem is nich entsprechend, wir er-
wähnten sie bereits auf Seite 263.
Ja nicht bloss der gemeine Mann ist in Neapel Meister
der Pantomime, nein auch der Vornehme und selbst Seine
Majestät. Der Exkönig beider Sizilien, Franz 11., der so-
genannte Be Bombay legte dereinst bei einem Volksaufstand
eine glänzende Probe davon ab. Er stand auf seines
Schlosses Zinnen und wollte sich der Menge verständlich
machen. Zuerst machte er mit beiden Händen eine Geste,
— 369 —
wie wenn man etwas niederschlagen oder beschwichtigen
will; das hiess: Seid ruhig. Hierauf deutete er auf seine
eigene Person und spitzte den Mund; das bedeutete: Hört
auf mich. Als er so ihre Aufmerksamkeit erregt hatte,
schlug er die Hände seitwärts auseinander, wie wenn man
etwas zerstreuen will, das war soviel als: Geht auseinander.
Nun handelte es sich darum, ihnen das verhängnisvolle Sonst
zu versinnlichen; er thafs, indem er die Achseln einzog
und die Hände flach in die Höhe hielt, wie man etwa thut,
wenn man etwas Furchtbares erblickt und erschreckt davor
zurückweicht. Sonst, wollte er sagen, werde ich euch durch
den Polizeidirektor Äjossa, der schon an die 5000 eingesperrt hat,
ebenfalls hinter Schloss und Riegel bringen lassen. Wie führte
er das aus? Er hielt die gespreizten Hände kreuzförmig
vors Gesicht, wodurch ein Gitter abgebildet wurde.
Mit der affenartigen Beweglichkeit der Neapolitaner
können wir nun allerdings nicht wetteifern; indessen stumm
sind unsere Hände darum nicht. Auch wir drohen mit
dem Finger, indem wir den Zeigefinger wie einen Stock in
die Höhe halten — auch wir deuten, zeigen, weisen, winken
mit dem Finger, mit dem eben danach genannten Zeige-
finger, den wir aufheben und nach uns zu bewegen, wenn
jemand zu uns kommen soll, während der Italiener zu dem-
selben Zwecke die Hand in der Richtung nach dem Ge-
rufenen zu bewegt und das thut, was wir abwinken oder die
Berliner Schippenrvinken nennen — auch wir zählen uns die
Gründe an unsern fünf Fingern ab, genau so wie die Ita-
liener die Finger ausstrecken, um zu rechnen.
Es ist eine bemerkenswerte Thatsache, dass wir uns
in der Fremde oder bei der Betrachtung entfernter Zeiten
gern über Dinge verwundem, die allgemein menschlich und
bei uns und in der Gegenwart genau so zu finden sind,
wir haben sie nur in der Heimat nicht beachtet. Das ist
der Fall mit vielen plastischen Geberden, die uns erst in
Italien und an den Vasen des Altertums auffallen; das ist
nicht minder der Fall mit den rohen Zeichnungen, den
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 24
— 370 —
primitiven Medereien, die uns auf der hohen Schule als die
Anfänge der Schrift gedeutet werden und deren unsere
eigene, nächste Umgebung voll ist.
Wenn der Amanuensis erfahrt, dass die chinesische
Schrift ursprünglich eine einfache Bilderschrift gewesen sei;
wenn ihm gesagt wird, dass die Hieroglyphen der alten
Ägfypter mehr oder weniger treue Abbildungen von Gregen-
ständen allerart darstellen, die auf den Denkmälern einge-
schnitten oder im Relief aus der Fläche herausgearbeitet
oder in Farben ausgeführt wurden: so glaubt er etwas
Besonderes zu lernen, und eine solche Gelehrsamkeit macht
ihn stolz. Aber, o mein Lieber, begleite mich doch ein
wenig in die Stadt, so will ich Dir tausend Hieroglyphen
zeigen, die den ägyptischen nichts nachgeben und die der
gemeine Mann liest, ohne sich etwas einzubilden. Am
besten, wir gehen gleich in ein gutes Restaurant, um das
Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Wollen
wir hier hineingehen? Da gibt's einen kräftigen Mittägstisch
und gleich am Eingang Wasser auf unsere Mühle. Denn
wülst du toissen, wie sicKs lebt in diesem Speisehaus? — Sieh
nur, sieh nur! Da hängt links das Bild eines mageren Man-
nes, der zur Thür hineingeht So gehst du Wein. Und rechts
hängt das Bild eines wohlgenährten dicken Mannes, der
das Lokal verlässt. So kommst du Waus, Doch so dick
wollen wir nicht werden, da müssten wir am Ende gar
Marienbad gebrauchen. Gehen wir zu Kitzing & HeUngy das
ist ein vornehmes Restaurant. Das sieht man schon daraus,
dass das Mitbringen von Hunden nicht gestattet ist. Woher
wissen wir das? Ah, aus einer hieroglyphischen Darstellung,
die abermals gleich beim Eingang angebracht ist. Das Mit-
bringen von und ist nicht gestattet ist mit Buchstaben ge-
schrieben, aber die Hunde, welche Tische und Stühle umwerfen^
die Gäste beunruhigen und einen greulichen Skandal verführen sind
gemalt. Oder gehen wir nach Stadt Dresden, da können
wir einen Schafkopf spielen. Wie wär^s mit einem gemiUlichen
Schaf köpf? — lesen wir an der Wand; aber dcis Wort Schaf-
— 371 —
köpf ist nicht geschrieben, sondern durch einen wirklichen
Schafkopf ausgedrückt; darunter sitzen Herren mit Schafköpfen,
welche spielen. Oder endlich gehen wir in das Restaurant
auf dem Bayrischen Bahnhof. Du denkst, dort hat man
keine Zeit zu derlei Kalligraphie? Sieh Dich nur im ersten
Zimmer um, mein Sohn: ein grosses Messer von Pappe ist
aufgehängt und da, wo Heft und Klinge zusammenstossen,
eine Klüngel angebracht; ein Fuchsschwanz dient als Klin-
gelzug. Und daran wird gezogen, wenn einer mit dem
grossen Messer aufschneidet.
Wir mögen hingehen, wohin wir wollen, überall begegnen
uns Spuren der chinesischen Bilderschrift; wo es sich nur
fügen will, wird die Buchstabenschrift unterbrochen und
gemalt, als ob wir nicht lesen könnten: vor der Menagerie
werden die wilden Tiere, vor dem Puppentheater die Szenen
aus Doktor Johannes Faust, an den Läden die vorhandenen
Waren abgebildet: noch heute ist in dem bekannten Deli-
katessengeschäft von Schwennicke^s Witwe in dem Salzgäss-
chen die ganze Wand über dem Eingange mit Malereien
geschmückt, die namhaftesten Delikatessen darstellend, die
in dem Gewölbe zu haben sind. Es gibt ja Länder und
Städte, die von lUitteraten voll sind — in Neapel mag es
gut sein, am Eingange des Theaters das Sujet markig zu
vergegenwärtigen, statt einen Zettel zu schreiben, den der
Lazzarone nicht versteht, in Tirol mag man auf das Kreuz-
lein, welches das Grab eines Verunglückten bezeichnet, die
zerbrochene Deichsel bilden, in Mariazeil neben das Votiv-
geschenk Gefahr und Krankheit malen. Aber selbst an
Mittelpunkten der Zivilisation, wie Leipzig und Berlin,
scheint das Volk immer wieder in die uranfänglichen Hiero-
gl)rphen und in die primitiven Bilder zurückzufallen, von
denen wenigstens unsere gegenwärtige Schrift ausgegangen
ist. In den römischen Osterien wird wohl ein Hahn oder
ein Luftballon gemalt und darunter geschrieben, Kredit
solle gegeben werden, wenn der Hahn krähe oder der
Luftballon steige:
24*
— 372 —
Quando questo gallo canterä,
credenza si farä;
in England auf dem Lande liest man wohl über den Schenk-
tischen die Trauerbotschaft, dass der arme Kredit tot sei:
Poor Credit is dead;
in deutschen Dorfschenken entsinne ich mich, die bündige
Notiz
liier wird nicht gepumpt,
aber statt des letzten Wortes gepumpt ein Bild gesehen zu
haben, welches einen wsisserpumpenden Mann darstellte. In
Trietschlers Restaurant in Leipzig ist der Weg zum Pissoir
durch suchende Herrn bezeichnet; in der Retirade auf dem
Riesaer Bahnhof sieht man einen Schlüssel abgebildet und
darunter die Worte geschrieben: beim Portier; auf die Teller,
auf denen die brennende Zigarre abzulegen ist, wird eine
Zigarre gemalt; und die Herren schenken sich wohl kleine
Katzen, Schweine und Hunde als Berlocken, um Katzen-
jammer und Schweinehund anzudeuten.
Schimpf und Spott greifen zur Bilderschrift so gern
wie zur Bildersprache. Die Geige ist ein altes volksmässi-
ges Sinnbild fiir das Weib, der Fiedelbogen für das männ-
liche Glied und auf der Geige spielen soviel wie: sich begatten.
Belege sind in Grimms Wörterbuch (vierten Bandes erste Abteilung,
zweite Hälfte, Spalte 2573 ff.) reichlich beigebracht. Daher wurde
gefallenen Mädchen von Amtswegen eine alte Geige an-
gehängt und bösen Weibern, die am Pranger standen, eine
Fiedel als Ehrenstrafe überhaupt um Hals und Hände ge-
legt. So kam es, dass die Geige schlechthin zum Ausdruck
des Spottes wurde und dass einem die Geige anhängen so viel
bedeutete, als ihn zum Gelächter machen. Man sag^ auch,
dass die Geige diesen ihren ehrenrührigen Sinn zugleich
durch die Spielleute, die Narren und Hanswurste gewesen
wären, erhalten habe. Nun, in Tirol wird die Geige noch
heute nicht nur in natura angehängt, sondern mit dem
Pinsel an die Wand gemalt. Dem Bua, der abschlüpft, das
— 373 —
heisst einen Korb bekommt, zeichnet man die Geige an
die Thür; wer wenig von der Gemeindealm heimbringt, dem
häng^ dcis Haus voller Geigen» Wie merkwürdig ist diese
Entvidckelung und unbewusste Erhaltung des obscönen
Bildes! —
Aber um recht zu beweisen, wie lustige Brüder aller-
orten dazu neigen, einander bildlich aufzuziehen und sich
nicht bloss in Worten und Thaten, sondern auch gleichsam
in Rebussen zu hänseln, will ich hier ohne Kommentar eine
kurze Korrespondenz mitteilen, die unlängst per Postkarte
zwischen einem Westfalen, Herrn Arminius Stieve, welcher
nach Münster gereist war, und seinem Stammtisch in Leipzig,
genannt Seehandlung, geführt ward.
Postkarte No. i. Von Leipzig. In der linken Ecke
oben eine Sonne, in der rechten Ecke unten ein
schwarzer Fleck, in der Mitte ein Fragezeichen. Das
sollte heissen: Wie gehts im finstern Winkel? Wir Sachsen
sein helle,
Postkarte No. 2. Von Münster. Links oben der fin-
stere Winkel, in der Mitte ein Galgen, an welchem
die Leipziger hängen. Sollte heissen: Im finstern Winkel
wird man sich freun, wenn ihr Ketzer gehängt werdet,
Postkarte No. 3. Von Leipzig. Die Ketzer sind im
Himmel und spielen im Kostüm von Engeln Quodli-
bet, während sie die Wirtin der Seehandlung als Hebe
reichlich mit Bier versorgt. Einer fährt erst auf: seine
Seele schtoinget sich, Rechts unten brät Arminius Stieve
in der Hölle, wo ihn Teufel festhalten, und breitet
sehnsüchtig die Arme nach ihnen aus: nur einen Tropfen!
Postkarte No. 4. Von Münster. Petrus gibt der
mogelnden Bande einen Fusstritt und schmeisst sie
zum Himmel hinaus; Teufel lauem auf die fetten
Bissen, die ihnen zufallen.
Derselbe Arminius Stieve schickte einem andern Zech-
bruder, der angeblich flott gelebt und eine grosse Reise
gemacht, in Wahrheit aber krank zu Hause gelegen hatte.
— 374 —
eine Postkarte mit Dichtung und Wahrheit Unter der Dich-
tung lag der Zechbruder in einem Hotel auf dem Sopha
und Hess sichs wohl sein. Unter der Wahrheit lag er jäm-
merlich im Bett und wand sich imter rheumatischen Schmer-
zen. Notabene, weder Herr Arminius Stieve war ein Maler,
noch sonst einer von dem berühmten Stammtisch der See-
Handlung,
Auch in anderer Beziehung werden wir durch diese
Schnaken an die Bildersprache des Volkes erinnert Nämlich
auch insofern, als die Bilderschrift des Volkes gelegentlich
dazu dient, die Gedanken des Schreibers vor dem Auge
des Uneingeweihten zu verhüllen. Die Gauner und die
Spitzbuben haben von jeher ihre eigentümlichen Zeichen
oder, wie es genannt wird, Zinken gehabt, die sie an auf-
fallenden Orten, Wirtshäusern, Schlagbäumen, Thoren ein-
kratzten und einschnitten: die Zeichen der Fahrenden Leute im
Mittelalter sind zum Teil daraus hervorgegangen. Darunter
das charakteristische Zeichen der Fahrenden, der Pfeil: die
Richtung seiner Spitze zeigte den Weg, den der 2^ichner
genommen; kleine Striche senkrecht auf ihm, oft mit Nullen
darüber, gaben wahrscheinlich die Personenzahl an. Andere
Zinken waren uralte deutsche Personenbezeichnungen, wie
sie als Hausmarken noch jetzt auf den Giebeln alter Gebäude
zu finden sind.
Als Herr Jacob Heller in Nürnberg von Lindenast,
Kjrafft und Vischer drei Zeichnungen geschenkt bekam, bat
er die freundlichen Geber, ihm das Andenken noch durch
die Unterschrift ihrer Namen zu erhöhen. Da sagten sie:
Wir sind Werkmeister, aber keine Schreibmsister, Das Schreiben
verstehen vnr nicht Sie unterzeichneten sich auf ihre Weise.
Der eine zeichnete darunter ein paar Fischbein, der andere
einen Blütenast, den Bienen umschwärmten und der dritte einen
Atlas, der die Weltkugel trug.
Genau so schnitt Hans Scheuflfelin auf seinen Blättern
neben HS eine kleine Schaufel
Danach lässt sich von vornherein vermuten, dass die
— 375 —
Bilderschrift auch in der Sprache der Liebe eine grosse
Rolle spielen werde — der verschämten Liebe, welche das
Kind nicht beim rechten Namen zu nennen wagt, ja das
zehntemal wirklich gar nicht recht weiss, was sie eigentlich
will. Auf Liebesbriefen zwei von einem Pfeil durchbohrte
Herzen, entzündete Fackeln, Tauben mit süsser Botschaft
im Schnabel als Vignette anzubringen, ist ja jungen Leuten
der mittleren Stände Deutschlands und Italiens bis heute
ein Bedürfnis; fhiher bedienten sie sich solcher Hieroglyphen
selbst im Texte. Man beliebe sich einmal die Briefe anzu-
sehen, welche Fräulein Ursula Freher, die schöne Tochter
des Stadtsyndikus von Nürnberg und Schwester des ver-
dienten Historikers Marquard Freher, A. D. 1598 von Nürn-
berg aus an ihren Bräutigam, den reichen Patrizier Johann
Adolf von Glauburg in Frankftirt schrieb und welche
Gustav Frey tag (nach dem Frankfurtischen Archiv von J. C.
von Fichard 181 1 — 15) in seinen Büdem aus dem JahrhundeH
der Beformation, Seite 238 ff. abgedruckt hat, so wird man
bemerken, dass sich die Braut gewöhnlich unterzeichnet:
Eure getreue im ^ so lange ich lebe,
Ursula Freherin
oder auch:
Eure liebe getreue, so lange ich lebe im ^ ^
schwarze Ursula Freherin
Der naive Pöbel, dem es nicht im Herzen, sondern in
ganz andern Teilen sitzt, verfehlt nicht (diesen Kuss der
ganzen Welt!) alle freien Wände, namentlich an gewissen
Orten, mit Kohlen- und Kreidezeichnungen besagter Teile
zu bedecken — der Philosoph, der einen Blick auf diese
erotischen Kritzeleien und Graffiti wirft, weil er nihü humani
a se älienum putat, muss sich sagen, dass der Kultus des
Phallus und des Lingam noch keineswegs erloschen ist,
sondern in allen Ländern und zu allen Zeiten durchbricht.
Man weiss nicht, ob es die Scheu oder die Eile ist, welche
diese rohen Hieroglyphen wie andere Buchstaben allmäh-
— 376 —
lieh in ganz konventionelle, an sich unverständliche Zeichen
entarten lässt. Eins der gemeinsten, ein Rhombus mit
einem Punkt in der Mitte, wird, wenn ich nicht irre, die
polnische Fünf genannt; die alten Griechen betrachteten um-
gekehrt das Dreieck oder dcis Delta als ein Symbol des
weiblichen Gliedes, daher noch die heutigen Neugriechen
die Zahl Drei nicht aussprechen, ohne fih avfiTcdd'BiOj um
Vergebung, hinzuzusetzen. In der indischen Religion ist ein
stehendes Dreieck ein Symbol des Gottes Siva und damit
des aufgerichteten männlichen Gliedes, unter dessen Gestalt
Siva angebetet wurde. Auch der Vogel, welcher mit aus-
gebreiteten Flügeln gleichsam ein Dreieck bildet, ist vom
Volke zum Symbol des männlichen Gliedes genommen
worden, eine Thatsache, welche auf gewisse dimkle Hiero-
glyphen ein überraschendes Licht wirft. Die Bilderschrift
des Volkes, so frivol und doch so ehrwürdig, so leichtfertig
und doch mit den tiefsten Problemen der Wissenschaft eng
verbunden, eine der ältesten Erscheinungen der bewussten
Sprache ohne Worte und die Mutter der Schrift selbst, wird
uns als solche in den folgenden Kapiteln noch weiter be-
schäftigen, zunächst müssen wir uns erkundigen, was aus
ihrer älteren Schwester, der Pantomimik, geworden ist.
Zweites Kapitel.
Die vernünftige Geberdensprache.
Wllia — TubstMM — liieha.
Der Mensch ein Baldanders und ein Proteus — Kunststücke des Arabers Ab-
dallah an Bord eines Nilschiffes — an Proteussen fehlt es nicht — wir haben
alle etwas von einem Proteus und ahmen gleich ihm sichtbare Gegenstände mit
unserm ganzen Körper nach — anderemale bilden wir die Gegenstande nur
plastisch mit Händen und Füssen ab — noch anderemale begnügen wir uns
damit, sie in der Luft zu zeichnen oder nur darauf hinzuweisen — Gespräch
zwischen der Bella Maddalena und einem Dienstmädchen im fünften Stocke —
Disputation eines Pfarrers und eines Schuhmachers in der Fastenzeit auf der
Kanzel — während wir nur unter besonderen Umständen imd aus Not zur Ge-
berdensprache greifen, ist sie bei gewissen Menschenklassen, die entweder immer
in der Not sind oder sich die Not grundsätzlich selber machen, das stehende
und r^elmässige Mittel der Verständigung — dergleichen Menschenklassen sind:
einzelne wilde Völker, die Taubstummen und die Cisterzienser Mönche — natür-
liehe Übereinstimmung dieser drei Klassen in ihren Geberden — merkwürdiges
Gespräch zwischen einem Dominus Reverendus von Clairvaux, einem Indianer
vom Lorenzbusen imd einem Zögling des berliner Taubstummeninstituts — wie
sie Fetter und Wasser, Regen und Hagel, Gott und Seele, sehen und geheimkalten
zum Ausdruck bringen — Idiotismen der einzelnen Klassen — das Zeichen für
die Stadt Charlottenburg in dem berliner Taubstummeninstitut — wie die Trap-
pisten leben und sterben — wie die Indianer den Hund, die Taubstummen das
Brot^ die Milch und das Kind in der Geberdensprache nennen — das Brot in
der Lautsprache das Gebraute oder das Gebrochene, in der Geberdensprache das
Geschnittene — Abbildungen gleicher Gegenstände müssen sich ähnlich sehen —
wie der liebe Gott nach Eckermann Goethe die Schöpfung hätte überlassen
kömien, so kann auch der Lehrer der Geberdensprache seine Schüler nur
machen lassen.
In unserer Zeit, wo man nach der Insel Sylt reist,
nicht bloss um zu baden, sondern auch um dem Seehunds-
sport obzuliegen; wo so mancher Kollege vom grünen
— 378 —
Rocke während der Ebbe in Seehundsfellen auf der nassen
Sandbank liegt und einem edleren Wild auflauert — er-
innert man sich wohl an den weissagenden Meergreis,
welcher die Robben der Amphitrite weidet und von dem
uns Homer erzählt. An den allwissenden Proteus, der alle
Mittage der Flut entsteigt, auf die Insel Pharos bei Ägyp-
ten schleicht und hier mitten unter seinen Seehunden, wie
ein Hirt unter seiner Herde, sein Mittagsschläfchen hält
Von ihm kann Menelaus alles, was sich auf seine Rück-
kehr bezieht, erfahren, er muss ihn aber zwingen, denn der
Greis weissagt nicht freiwillig, und wenn man ihn festhält,
so sucht er durch Annahme der verschiedensten Gestalten
zu entkommen. Wie sagen wir doch? Er ist ein wahrer
Proteus,
Hans Sachs hat für ihn den Namen Baldanderst (sie) er-
funden, der an den l4kko7tQ6aaXlog des Homer gemahnt;
und daher der Baldanders, der zu Simplicissimo kommt und ihn
mit Mobilien und Immobilien reden und selbige verstehen lernet, als
wobei er sich bald in eine Eiche, bald in eine Sau, bald in
ein Kleefeld, bald in einen Teppich, bald in einen Vogel
verwandelt (Continuatio, neuntes Kapitel). Sollte ich meinen Pro-
teus nennen, so wäre es nicht ein Baldander s, sondern ein
Baldalles, ich meine den Araber Abdallah, eine Figur von
der Dahabiye, die mich einst den Nil hinauf und hinunter
geleitet hat. Dieser prächtige, ägyptische Matrose, der
mit seiner enganliegenden Filzkappe auf dem spitzen Kopfe
wie der Gott Phtha von Memphis aussah, konnte alles und
machte alles — er verwandelte sich wie Proteus in jegliche
Kreatur,
was nur hinieden
kreucht und fleucht und fleusst und in Feuerflammen von Gott brennt
(Odyssee IV, 418) —
er that das sogar ungezwungen, denn er wollte uns unter-
halten, und er weissagte freiwillig. Er weissagte zum Bei-
spiel, dass wir der Mannschaft an der nächsten Station
einen Hammel opfern würden — einen Hammel so so, denn
— 379 —
im Augenblicke war er auch schon ein Hammel, das blökte
"wie ein Hammel, das stiess wie ein Hammel, das blutete
wie ein Hammel, der mit dem Blick gegen die Sonne ge-
schlachtet wird. Er weissagte von einem Krokodil, das bei
Gebel Selsele gesehen worden sei und das er uns wolle
erlegen helfen — sofort kroch er als Leviathan auf dem
Verdeck umher, legte die Vorderfusse mit den Gelenken
aufeinander und schnappte zu. Er weissagte von einem
Skorpion, der unter dem ersten besten Stein in der Wüste
verborgen sei, und seine Finger krümmten sich wie Scheren,
der linke Fuss erhob sich und holte zum Schlage aus, aber
aug-enbücklich fasste er den Fuss, klemmte ihn zwischen
zwei Hölzer und klopfte ihm mit einem Steine den Stachel
ab. "Wie sich Abdallah, als es hiess, dem thue eine Kugel
nichts, der denke höher hinaus, blitzschnell an den Hals griff
und die Pantomime des Hängens machte — wie er sich auf
die Erde duckte und die Hand über den Boden hielt, um
den Zwerg des Vizekönigs zu beschreiben — wie er, um
anzudeuten, dass dem Steuermann die Hsmd verwundet
sei, das Gelenk seiner linken Hand mit der rechten packte
und schüttelte — wsir er ganz unvergleichlich, ein wahrer
Affe oder besser, bei der landesüblichen Ausdrucks weise
zu verbleiben, ein wahrer Proteus,
An Frot&ussen fehlt es nicht. Wie es Menschen gibt,
die jeden Naturlaut, jedes unartikulierte Geräusch nachzu-
ahmen imstande sind, die es machen können, wie es blitzt
und donnert, wie der Hund bellt, wie der Wagen rollt,
wie der Hobel stösst, wie die Säge zischt: so gibt es auch
Menschen, die Lust und Talent haben, wie Gummi in alle
sichtbaren Formen und Modelle der Natur zu fahren und
ZM passen; und sich gleichsam selber fortwährend neuzu-
bilden. Unser Organismus ist ein plastischer Thon, der,
tausendfach modelliert und tausendfach zerstört, so ge-
schmeidig ist wie zuvor 5 unendlich bequemer als sonst ein
Material, in dem der Bildhauer seine aufsteigende Idee ver-
körpert. Diese Plastizität des Menschenleibes wird bekannt-
— 380 —
lieh von jedem Schauspieler verwertet: ein Garrick macht
sich die Mienen und den Habitus eines Lords mit einer
Meisterschaft zu eigen, dass er sich für denselben malen
lassen kann; in Wagners Siegfried kommen die Sänger als
Götter, Zwerge, Bären und Drachen auf die Bühne; und
die Herren Squenz der Zimmermann, Schlucker der Schnei-
der, Schnock der Schreiner, Zettel der Weber, Schnauz der
Kesselflicker und wie die ehrsamen Athener alle heissen,
werden nicht nur Fyramus und Thisbe trefflich spielen, wie
denn Frauenrollen schon im Altertum von Männern ge-
geben wurden; sie werden es auch fertig bekommen, einen
reissenden Löwen, einen Mondschein und eine gespaltene Wand
aus sich zu machen.
Wir haben wohl alle etwas von einem Proteus — in
jedem Menschen ist mehr als ein Mensch und eine ganze
Welt enthalten. Schon die Kinder erinnern uns daran,
wenn sie Pferd und Wagen spielen — König Heinrich IV.
von Frankreich, der seine Kinder auf sich reiten lässt, ihnen
zuliebe auf allen Vieren im Zimmer galoppiert und in dieser
Stellung von seinem Minister Sully getroffen wird — er ist
nicht nur ein Vater, er hat dabei speziell etwas vom Vater
Eidotheas. Wo zu Weihnachten in Deutschland der Knecht
Ruprecht oder der heilige Nikolaus oder der Pelzmartl von
Haus zu Haus zieht — wo der leibhafte Gottseibeiuns oder
ein Gespenst die Spinnstube erschreckt — wo Fliegen und
Schmetterlinge, Bären und Wölfe unter den Masken auf
dem Maskenball erscheinen — überall ist der alte Proteus
der Lehrmeister gewesen; er ist es, der die Menschen fort-
während treibt sich zu verkleiden und zu maskieren und
der ihnen alle Metamorphosen der Dichter in den Kopf setzt.
Nur dass sich der Mensch nicht immer wie Proteus
Hals über Kopf in die Metamorphose stürzt — dass er nicht
immer seinen ganzen Leichnam hernimmt, um ihn mit Haut
und Haar in einen Vogel oder in einen Eichbaum zu ver-
wandeln, sodass gewissermassen vom Bildhauer gar nichts
übrig bleibt und nur das Gebilde da ist — gewöhnlich
— 381 —
nimmt er nur seine Hand oder seinen Fuss und formt
daraus ein Museum plastischer Kunstwerke. Er macht sichs
auch noch bequemer: er verfährt gar nicht wie ein Bild-
hauer, der ein körperliches Abbild geben will, indem er
den Gegenstand gar nicht in allen drei Dimensionen nach-
bildet, sondern nur die Umrisse desselben mit den Fingern
in die Luft schreibt, ihn gleichsam in der Luft zeichnet,
wie einen Buchstaben oder wie eine geometrische Figur,
was eine Art Malerei ist. Er macht sichs vollends bequem,
wenn er den Gegenstand überhaupt nicht nachahmt, son-
dern zeigt — wenn er zum Beispiel mit seinem Zeigefinger
an die Stime tippt, um zu sagen: wo denkst Du hin? —
Und dass die gewöhnHchen Sterblichen nicht aus-
schliesslich mit Geberden sprechen — dass ihre Geberden-
sprache gemeiniglich nicht rein, sondern mit der Lautsprache
gemischt ist Es ist wahr, alle Menschen fallen gelegent-
lich in eine Ausdrucksweise zurück, die so natürlich scheint
und die ihnen in weit höherem Grade angeboren ist als
die künstliche, ewig problematische Tonmalerei der Stimme;
aber sie thun es nur, wenn ihnen der Mund versag^: wenn
sie in der Fremde sind und kein Wort verstehen — wenn
sie im Gefängnis sitzen und sich nicht laut unterhalten
dürfen — wenn ihnen ein Dionysius die gewohnte Ver-
ständigung verbietet — wenn der Angeredete so weit ist,
dass ihn die träge Schallwelle nicht erreicht. Ich wohnte
einst in Neapel auf dem Vico Carminello a Chiaia in einem
funftstöckigen Hause, dessen Giebel zwei Engländerinnen
innehatten. Wer in das Haus hinein wollte, musste erst
mit dem Portier oder mit dessen kleiner Frau , der Bella
Maddalena sprechen und von dieser angekündigt werden.
Wenn sich nun jemand zu jenem Höhepunkte des Daseins,
den beiden Damen, versteigen wollte, so entspann sich
zwischen der Portiersfrau unten und dem Dienstmädchen
oben folgendes Zwiegespräch. Zunächst klopfte die Bella
Maddalena mit dem Hammer fünfmal an die Hausthüre,
"worauf die Zofe an das Fenster trat und mit dem Kopfe
— 382 —
wackelte, zum Zeichen, dass sie höre. Nun wollte Madda-
lena zum Beispiel die Frau Doktor anmelden; statt aber zu
sagen: la moglie do medico, begnügte sie sich zu rufen: la
moglie do . . und das medico zu ergänzen, indem sie sich an
den Puls griff. Oder sie wollte die Frau des Predigers
anmelden, so rief sie abermals: la moglie do . . und that so,
als ob sie die Hostie emporhöbe und mit beiden Händen
segnete. Diese Methode bewährte sich immer trefflich.
Aber sie war doch nur ein Auskunftsmittel, denn sobald
die beiden Frauen im Hausflur nebeneinanderstanden, hatten
sie ein gutes Mundwerk und Hessen ihrer neapolitanischen
Zunge freien Lauf. Wer hätte auf Reisen nicht so komische
Szenen erlebt, dass zum Beispiel ein Deutscher in einer
italienischen Trattoria nicht weiss, was Goihel oder was Bürste
auf italienisch heisst, und sich nun abmüht, dem Kellner
diese beiden Gegenstände durch Gesten zu versinnlichen
— oder dass ein in Österreich reisender Franzose, der ein
Kissen haben will, zur Postmeisterin gelaufen kommt: Küss!
Küss! — und da ihn dieselbe verwundert und errötend an-
sieht, das Missverständnis errät und fortfährt: Nix Küss auf
die Mund, Küss auf . . . , pantomimisch erläuternd, wohin er
das Küssen haben wolle? Dass derselbe nach Wien! Wien!
verlangt und, da man ihn abermals nicht begreift, nach
einem Weinglase sucht und sich damit verständlich macht?
— Das sind ja tägliche Vorkommnisse, die auch den träg-
sten Phlegmatiker und das feisteste Kraut zu einer gewissen
Fixigkeit nötigen. Indessen sowie die Not vorüber ist, stellt
der unfreiwillige Künstler seine Posen wieder ein und das
Mäulchen geht wieder wie eine Klappermühle.
Dagegen will ich nun hier drei Menschenklassen nam-
haft machen, die, freiwillig oder unfreiwillig, das Mäulchen
in der That ihr lebenlang ruhen lassen und die sich
wie drei Klubs des Stillschweigens das Wort gegeben
haben, zum ausschliesslichen Ausdruck ihrer Gedanken
Geberden zu benutzen — drei Menschenklassen, die sonst
wahrlich nicht viel gemein haben und die vielleicht noch
— 383 —
niemals von einem Schriftsteller verglichen worden sind,
die aber in diesem einen Punkte höchst merkwürdig zu-
sammentreffen und, soweit es angeht, ihre gemeinsame
menschliche Natur bekunden: die Wilden, die Taub-
stummen und die Cisterzienser Mönche. Ihrer ist, ich
will nicht sagen, das Reich Gottes, aber das Reich des
Proteus. Der Stummen, weil sie nicht reden können; der
Wilden, weil sie es nicht ordentlich können; der Cisterzien-
ser, weil sie es nicht mit gntem Gewissen können — die
menschliche Stimme weckt die träge Ruhe der klösterlichen
Hallen; sie sollen schweigen und ihren Mund nicht aufthun;
ihr Haus soU niederbrennen, ohne dass ein Bruder einen
Laut ausstosse; wie es in den Reglements des Beligieux de
choeur de la Congregation Cistercienne, Paragraph 641 heisst:
Le süence est le fondement de la regularite des maisons religieuses;
on sera donc tris-exact ä Vobserver, Übrigens erzählt Forster,
dcLSS der Mönch, der ihn herumführte, durch sein lang-
jähriges Schweigen das Sprachvermögen geradezu verloren
habe.
Und gleich als ob zwischen ihnen eine geheime Über-
einkunft getroffen worden wäre, alle drei brauchen sie fast
überall dieselben Bilder und einen gleichen Stil der Geber-
denmalerei, so dass ein Dominus Reverendissimus von
Clairvaux, ein Indianer vom Lorenzbusen und ein Zögling
des berliner Taubstummeninstituts an jedem Winkel der
Erde eine geistreiche Unterhaltung fiihren können.
In der Fastenzeit sollte einmal ein Pfarrer mit einem
andern zusammen predigen; da aber der Amtsbruder aus-
blieb, liess er den Schuster holen, weil man ihm gesagt
hatte, dass der kapabel sein würde. Als sie nun beide auf
der Kanzel stehen, hebt der Geistliche den Daumen in die
Höhe. Gleich hebt der Schuhmacher den Daumen und den
Zeigefinger auf. Nun erhebt der Pfarrer drei Finger; der
Schuhmacher die ganze Faust. Da zieht der Pfarrer einen
Apfel aus der Tasche, den er bei der Kollation eingesteckt
hatte; der Schuhmacher lässt sich nicht schimpfen, sondern
— 384 —
zieht ein Semmelchen heraus, das er ebenfalls in der Tasche
hatte. Das wird dem Geistlichen zu arg, er läuft in seine
Pfarre und gesteht: der Mann ist unüherwindlich im Disputieren:
ich sagte zu ihm: Es ist Ein Gott; ja, antwortete er, aber in
zwei Naturen. Da sage ich: In drei Personen. Er erwidert:
Drei in einem Wesen. Nun sage ich: der Äpfel war aller
Sünden Anfang. Er spricht: Ja, aber durch das Abend-
mahl werden sie geheilt. Der gelehrte Schuhmacher er-
zählte unterdessen die Disputation so: Erst wollte er mir ein
Auge ausschlagen , ich aber sagte: Zwei schlag ich dir aus.
Da meinte er: Ich gebe dir einen Nasenstüber. Ich aber
sagte: Warte nur, von mir bekommst du einen Puff, hier-
auf that er so, als ob ich mich nährte vne das liehe Vieh, ich
aber sagte: Bei mir zu Hause esse ich Semmel.
So wollen wir uns einmal den Spass machen und den
Fall setzen, es träfen die obengenannten verschiedenartigen
Individuen meinetwegen auf einer Prairie am Ufer des
Mississippistromes zusammen: so werden sie unzweifelhaft
dem Vergnügen Ausdruck geben, das sie haben sich zu
sehn; zu dem Ende die beiden ersten Finger spreizen und
sie von den Augen abstossen in Form eines V. Darauf
werden sie sich gemeinsam im Grase lagern, und der Kan-
nibale schlägt vor, ein Feuer anzuzünden; er thut dies, in-
dem er mit den Fingern das Flackern desselben nachahmt
und von Zeit zu Zeit, gleichsam um die Glut anzufachen,
unter die Hand bläst. Nun beginnt der Hochwürdige eine
kleine Predigt zu besonderem Nutz und Frommen des letz-
teren zu halten und erklärt der versammelten Gemeinde
die Worte der Schrift (Psalm XLII, 2), womit in der katho-
lischen Kirche das Formular der Einweihung des Tauf-
quells anfängt: Wie der Hirsch schreiet nach frischem WorSser.
so schreiet meine Seele, Gott, zu dir. Um zunächst das Buch
der Bücher anzudeuten, schliesst er die Handflächen und
öffnet sie vor dem Gesichte, als ob er lesen wollte. Dann
setzt er, mit dem eigenen Leibe ein berühmtes christliches
Symbol erfindend, die Daumen an die Schläfe und breitet
— 385 —
die Finger aus. Das frische Wasser ist noch leichter zu be-
schaffen: er ahmt mit den Fingern eine Wellenbewegung
nach; wollte er die Fingerspitzen zu wiederholtenmalen ab-
wärts fuhren, so wäre es Regen; wollte er die Finger
plötzlich senken und spreizen, so wäre es ein Wasserfall;
wollte er die linke Hand flach aufhalten, die rechte hoch-
heben, eine Faust machen und dieselbe auf die geöffnete
Hand niederfallen lassen, so wäre es Hagel. So schreiet meine
Seele, Gott, zu dir. Die Seele vertritt die eigene Magen-
grube, auf die er mit dem rechten Zeigefinger weist; bei
Gott wird er die Hände falten. Endlich gibt er ihnen mit
erhobenen Händen seinen Segen und bezeichnet sie mit
dem Kreuz. Notabene, der Gebrauch der Christen sich zu
bekreuzen, dcis heisst, mit den Fingern das Kreuzeszeichen
vor sich hin in die Luft zu bilden, reicht bis ins dritte
Jahrhundert zurück. Es nähert sich der schmerzliche Augen-
blick der Trennung, sie verneigen sich und legen die rechte
Hand an die linke Brust; vielleicht geben sie sich auch
unter einander den Friedenskuss; auf jeden Fall ersuchen
sie sich einander um ihre Photographien und bewegen daher
die Finger der halbgeschlossenen Hand in der Richtung
ihres Gesichtes, dass sie darauf zukommen wie Sonnen-
strahlen. Zu allerletzt werden sie schwören, dieses bewun-
derungswürdige Gespräch geheim zu halten; deshalb stecken
sie die Hände unter die Falte des linken Busens und
stossen dann, um zu sagen: das ist abgemacht , die Spitzen
der Daumen gegeneinander, worauf ein Dritter durchschlägt.
Das ist nach Art der Gauner, als welche die linke Hand
nach hinten halten, gleichsam um sie zu verstecken, und
dabei die Finger zurückklappen. So gehen sie auseinander,
jeder an seinen Ort; der Abt nach Clairvaux, der Taub-
stumme nach Berlin, der Indianer in seinen Wald.
Es gibt indessen besondere Zeichen, namentlich in den
Klöstern, die nicht überall verstanden werden würden; und
merkwürdig, wie sich bis in die kleinen Zeichen der Dinge
die Entsagung dieser, nicht Menschen, sondern Schatten
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. ^O
- 386 —
von Menschen malt; wüsste man nicht, dass schliesslich
doch eine ganz behagliche Realität damit gemeint sei, so
möchte man glauben, es seien lauter Tantalusse. In der
grossen Trappe isst man, indem man die drei ersten Finger
wiederholt dem Munde nähert; man trinkt, indem man die
Daumenspitze an die Lippen setzt und die Faust wie eine
Flasche umkippt; man fastet, indem man die Lippen mit
Daumen und Zeigefinger zusammenpresst ; man ist müde,
indem man die Arme schlaff herunterhängen lässt; man
schläft, indem man den Kopf auf die Hand lehnt; man
steht auf, indem man mit den Knöcheln auf die linke Hohl-
hand, gleichsam um sie aufzuwecken, pocht; man ist ver-
driesslich, indem man die kleinen Finger mehreremale mit
den Spitzen aufeinander stösst; man ist krank, indem man
sich auf die Seite neigt, den Arm einbiegt und. zuckt; man
stirbt, indem man den Daumen unter dem Kinn ansetzt
und die Faust erhebt. Was thun sie, um das Lehen zu
nennen? Ich kenne keinen Ausdruck.
Auch den Taubstummen, auch den Rothäuten fehlen
natürlich ihre Idiotismen nicht, unter denen die Zeichen für
lokale , subjektive Anschauungen obenanstehen. Kaiser
Friedrich III. hat bei seiner Rückkehr von Italien die
Stadt Charlottenburg zur Residenz gewählt. Wenn sich
die Zöglinge des berliner Taubstummeninstituts darüber
unterhalten, so wählen sie fiir Charlottenburg ein besonderes
Zeichen: sie heben das linke Knie in die Höhe und ver-
binden es. Wie kommen sie dazu? Am Abend des
2. August A. D. 1854 machte im dortigen Schlossgarten
der König Friedrich Wilhelm IV. einen Spaziergang und
stiess sich dabei mit dem einen Fusse an eine steinerne
Bank. Die Verletzung war anscheinend leicht, aber es er-
folgte eine rosenartige Entzündung, und seit jener Zeit will
man die ersten Spuren eines Gehimleidens bei dem Könige
bemerkt haben. Das ist ein richtiger berliner Idiotismus,
wie er sich nur in Berlin gebildet haben kann; aber auch
allgemein bekannte Gegenstände geben wohl zu einem Argot
— 387 —
Veranlassung, wenn an ihnen eine besondere, sich sonst
nicht wiederholende Spezialität hervortritt. Ich will bei-
spielsweise nur an den Ausdruck erinnern, den die Rothäute
für die Hunde haben. Wenn die Algonkin von diesen Tieren
reden, so zerren sie die beiden ersten Finger der rechten
Hand, als ob es auf dem Boden geschleppte Pfähle wären,
weil sie sich früher der Hunde zum Ziehen der Zeltpfähle
bedienten, und dieses Zeichen bewahren sie noch jetzt, ob-
wohl sie seitdem Pferde kennen gelernt und zu diesem
Dienste abgerichtet haben. Diese Geberde entspricht dem-
nach etwa Worten wie Holzträger, Packträger und allen fran-
zösischen mit dem Imperativ porte, allen italienischen mit
dem Imperativ porta zusammengesetzten Substantiven. Da-
gegen würden vielleicht wiederum die Indianer die Geste
nicht verstehen, welche die Taubstummen für Brot haben;
sie thun nämlich, als ob sie Brot abschnitten, daher dieses
Wort in ihrer Anschauungsweise ungefähr so viel bedeutet,
wie das Oeschnittene, wie der Franzose von Gehacktem ßache)
und der Italiener von Gebackenem (il fritto) spricht; dem
deutschen Worte Brot würde, wenn es nach der Etymologie
und nach mancherlei analogen Ausdrücken in andern
Sprachen ginge, die Geberde des Brechens angemessener
sein, weil das Brechen die wesentliche Vorstellung dabei
ist. Brot (das jetzt mit brauen in einer sehr allgemeinen
Bedeutung zusammengestellt und darnach für das Gebraute
oder Gebackene erklärt wird) stammt nämlich nach Grimms
Deutschem Wörterbuch von angelsächsisch breotan, althoch-
deutsch priozan brechen, doch noch aus einer Zeit ab, wo
die Lautverschiebung uneingetreten war; daraus würde fol-
gen, dass wenn die Schweden ihr dürres und sprödes
Haferbrot Knackebrot (Knäckebröd) nennen, das ein Pleonas-
mus ist. Auf der Grimmschen Etymologie beruht wahr-
scheinlich die Vorschrift des guten Tones, das Brot bei
Tische nur zu brechen, nicht zu schneiden.
Ganz so machen die Stummen für Milch die Geberde
des Melkens, für Kind die des auf dem Arme Wiegens.
25* ^
— 388 —
Übrigens darf uns diese unvermutete Übereinstimmung
durchaus nicht wundernehmen, ja sie ist weniger auffällig
als die Thatsache, dass ein Hindu den Litauer in Inster-
burg versteht; wo gleiche Zwecke angestrebt und gleiche
Mittel angewendet werden, muss das Resultat dasselbe
sein. Es handelt sich um eine einfache Nachahmung
einfacher und natürlicher Gegenstände in Menschenfleisch.
Nim ich denke, kein Taubstummer wird bei einem Apfel
ein Quadrat und bei einem Quadrat eine Kugel machen,
auch wenn er noch niemals ein Institut besucht hat; kein
Mönch ein Kreuz für den Papst und eine dreifache Krone
für den Bischof halten, selbst wenn er niemals die Dienst-
vorschriften seines Ordens durchgelesen hat; kein Indianer
Feuerflammen und Wassertropfen imd Bogen und Pfeil
verwechseln. Vielmehr wie Eckermann versichert: Hätte
der liebe Qott hei Erschaffung der Welt zu Goethe gesagt: Lieber
Goethe, ich hin jetzt Gottloh! fertig, ich hohe jetzt alles erschaffen
bis auf die Vögel und die BäumCy und Du thätest mir eine Liebe,
wenn Du diese Bagatellen statt meiner machen wolltest — dass
dann Goethe ebenso gut tme der liehe Gott diese Tiere und Ge-
wächse ganz im Geiste der übrigen Schöpfung, nämlich die Vögel
mit Federn und die Bäume grün erschaffen haben vmrde — so
kann man auch sagen, der Professor der Geberdensprache
mag nur seine Schüler einmal machen lassen, sie werden
die Bäume und die Vögel schon herausbringen so gut w4e
der Professor — um so mehr, als diese Menschenklassen
aus verschiedenen Gründen grosse Schärfe der Sinne und
weit mehr Übung haben, die Eigenheiten der Dinge auf-
zufassen, als wir, die wir durch die Zivilisation abgestumpft
sind und weder Augen haben um zu sehen, noch Finger
um zu zeigen.
Drittes Kapitel.
^yy^ie so ich dieses schreibe.
I. Die alte Bilderschrift.
Die Nachbildung der Dinge auf Flächen mittels Linien und Farben noch er-
giebiger als die plastische Nachbildung — unsere eigene Schrift beruht darauf
— wie ein Taubstummer rotes Zelt schreibt — die Figuren eines Zeltes und
einer Zeltthüre gehen durch die Jahrtausende — was heisst schreiben? — schrei-
ben heisst kleine Bilder zeichnen, denn Hieroglyphen und Sinogramme, Keile
und Runen waren von Haus aus Bilder sichtbarer Gegenstände ~ Bilder wie
die Sudeleien der Schuljungen, die Kritzeleien der Hinterwäldler in Amerika,
die Schmierereien unserer Narren — es kam nicht darauf an, ob diese Bilder
gut waren — die roheste Nachbildung genügte, wie sie bei den Croquis der
Einjährig -Freiwilligen und beim Situationszeichnen genügt — auch unsere
Kalenderzeichen sind nicht viel besser, im Gegenteil sie stimmen mit den Hiero-
glyphen und Sinogrammen auf das genaueste überein — Zeichen für Sonne und
Mond, Planetenzeichen, Apothekerzeichen — wie Feuer und Wasser, ein Tier
imd ein Baum, unten und oben ausgedrückt wird — der Buchstabe H ein Gitter,
O ein Auge — die ägyptischen Hieroglyphen und die chinesischen Sinogramme
sind nichts, was nicht täglich auch bei uns vorkäme — wir alle malen
Quadrate, Kreuze, Sterne, Pfeile, Hände, Donnerkeile, Spiesse und haben für
Begriffe, die häufig vorkommen,- konventionelle Bilder — wie in Norwegen
Kristiania geschrieben wird — Fruchtbarkeit dieser einfachen Bilder: sie drücken
nicht bloss die Gegenstände selbst, sondern auch alles das aus, was dieselben
begrifflich einschliessen oder symbolisch darstellen — Götter und Naturkräfte,,
profane Dinge — sie vertreten leider auch alle Dinge, deren Namen dem Namen
des Originals gleichlauten, das heisst alle Homonymen.
Wir haben uns nun, Gottlob, hinreichend überzeugt,
dass es der Mensch in der plastischen Nachbildung der
Dinge und demnach in der materiellen Verkörperung des
— 390 —
Satzes mit Hilfe seiner eignen Hände und Füsse äenJich
weit bringt und dass eine höhere, vernünftige Geberden-
sprache kein Traum ist. Der Ungläubige vernimmt viel-
leicht mit Staunen, dass im berliner Taubstummeninstitut
an fünftausend Geberden im Gebrauch sind, dass also die
Sprache der berliner Taubstummen reicher ist als viele
Idiome kleiner Stämme, die oft kaum tausend Worte haben.
Er wird von vornherein vennuten, dass dann die Hiero-
glyphen des Volkes, die Nachbildungen der Dinge auf
Flächen mittels Linien und Farben , der leichteren Her-
stellung wegen, erst recht GlQck machen und ganze grosse
Sprachen aus äch hervortreiben werden; und doch dürfte
er vielleicht abermals erstaunen, wenn er erfahrt, dass zum
Beispiel ein gangbares chinesisches Wörterbuch an 40000
Sinogramme, genau 42718 klassische Wortcharaktere ent-
hält, also etwa soviel Bilder, wie die englische Sprache
Wörter (nach einer Berechnung 43566), Ja, wie würde er
sich erst verwundem, wenn er hörte, dass alles, was wir
heute in Europa Schrift nennen , den Karikaturen , womit
Narrenhände Tisch und Wände beschmieren, seinen Ur-
sprung dankt; dass ich, indem ich dieses schreibe, nichts
thue, als kleine alte rohe Bilder nachzeichnen und anein-
anderreihen, ganz abhängig von der Sprache ohne Worte,
über die ich mich hoch erhaben dünkte und die ich aus
eignen Mitteln zu beschreiben und bekannt zu machen
glaubte.
Als Tylor eines Tages in eine Taubstummenschule
trat, nahm er einen Knaben vor und umschrieb in der Lufi
ein Zelt; hierauf berührte er das Innere seiner Unterlippe,
um dio ]\irbe anzudeuten; infolgedessen schrieb der Stumme
auf diis schwarze Brett: Rotes Zelt.
So /.eichnete einst im greisen Ägyptenlande der weise
Thoth mit einem Rohr auf sein Täfelchen eine Zeltthürf
und ein Zeh; die Figuren der Thüre und des Zeltes wurden
wcitergotragen durch den Strom von Jahrtausenden an die
Küste Phöniziens, nach Cypem und nach Kreta, nacli
— 391 —
Unteritalien und nach Rom, ja bis über den Atlantischen
Ozean und die Säulen des Herkules hinweg; eine halbe
Welt wiederholt, druckt und liest diese Zeichen täglich
millionenmal ; sie wurden die Werkzeuge der Gedanken
eines Aristoteles, eines Goethe; und in diesem Augenblick
malt vielleicht derselbe arme Schüler in seinem Schreibe-
buche die Zeltthüre und das Zelt nach, indem er sich be-
müht ein D und ein B zu machen.
In seinem Sehr eibebuche — denn schreiben, das heisst
mit Tinte und Feder kleine Bilder zeichnen — Bilder nicht
bloss von Zeltthüren und Zelten, sondern von den tausend
Gegenständen, von Kamelen und Stierhäuptem, von Fischen
und Wasserwellen, von Waffen und Ochsenstecken. Man
glaubt es nicht? Man meint, ich mache Buchstaben, indem
ich dieses schreibe? O der langen und seltsamen Geschichte
dieser sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets! Der
Hieroglyphen Ägyptens, der Sinogramme des Konfiitse, der
Keile und der Runen! Alle und alle waren sie von Haus
aus Bilder, nicht viel besser als irgendeine Kritzelei, womit
ein müssiger Schulbube Tische und Wände schmückt, aber
entworfen, um an die Stelle einer schwer zu handhabenden
Wirklichkeit zu treten und entsprechend den Figuren, deren
flüchtige Linien wir vielleicht ein anderesmal in den Raum
geschrieben haben. Wenn ich von der Sonne reden will, so
male ich eine Sonne; wenn ich von der Eide reden will,
so male ich eine Eule; wenn ich von einem Viereck reden
will, so male ich ein Viereck, ich bombardiere den Verstand
mit Realitäten oder Rebus, Das muss offenbar abermals
ein Weg sein, eine Mitteilung zu machen und Briefe zu
schreiben, die zu lesen man im Grunde gar nicht lesen ge-
lernt zu haben braucht.
Aber wir sind keine Maler; wir haben noch nicht nach
dem Leben zeichnen gelernt. Unnötige Sorge! Hat es
Karlchen Miessnik gelernt, wenn er den Klassenlehrer in
seinen Heften durch geistreiche Croquis verewigt? Haben
es die Hinterwäldler gelernt, deren Kritzeleien Emanuel
— 392 —
Domenech, ein französischer Schriftsteller und Reisender,
in dem famosen Livre des sauvages für amerikanische Hiero-
glyphen ausgab?*) Ja, haben es die Narren der ganzen
Welt gelernt, die, wie es scheint, keine weisse Wand, keine
leere Fläche ersehen können, sondern sie alsbald mit lusti-
gen Ideogrammen, mit Kohlen- und Kreidezeichnungen
beleben? Die roheste, flüchtigste Nachbildung genügt;
wenns nur zu erkennen ist. Das Bild soll ja nicht schön,
nicht künstlerisch sein, es soll nur einen Gegenstand augen-
*) Dieser Mann, geboren 1815, wurde zeitig Priester und ging als IkCsgonär
nach Texas und Mexiko; bei seiner Rückkehr nach Frankreich war er Domherr
von Montpellier, 1862 Kaplan der französischen Armee in Mexiko und in der
Folge Attache des Maximilianschen Kabinetts. Sein Manuscrit pictographiqut
affiericain, pr Seide cTune notice sur Videographie des Peaux-Rouges (1860) winde
auf Regienmgskosten gedruckt, nebst einem Faksimile eines Manuskripts in der
Bibliothek des pariser Arsenals. Er bildete sich ein, diese Figuren seien Schrift-
züge der amerikanischen Indianer; der deutsche Bibliograph Julius Petzholdt aber
erklärte sie für völlig unzusammenhängende und bedeutungslose Sudeleien deut-
scher Schuljungen. Domenech hielt die Authenticität des Manuskriptes aufrecht
in dem Pamphlet: La verite sur le livre des saiwages (1861), welches Petzholdts,
ins Französische übersetzte Erwiderung nach sich zog : Le Uvre des sauvages au
point de vue de la civilisation frangaise (Brüssel i86xj. Das Buch wird jetzt
thunlichst eingezogen und eingestampft.
Dieser Fall steht nicht vereinzelt da. Lief da Anfang des XVin. Jahr-
hunderts eines schönen Tages bei der Academie des Sciences ein kostbares Manu-
skript ein, das Peter der Grosse schickte. Das Manuskript, in Sibirien, in dea
Ruinen eines alten Tempels ausgegraben, war ein Codex aureus, den in Peters-
burg niemand entziffern konnte ; doch vermuteten die Gelehrten, schrieb der Zar,
er sei in der alten verschollenen Sprache der Tanguten abgefasst. Was? Du
russischen Gelehrten verstehen kein Tangut? — rief Herr von Fourmont aus.
Catalamus singulariter nominativo . . . und der Hanswurst von einem Akade-
miker war unverfroren genug, eine Übersetzung davon zu geben, die mit gleicher
Unverfrorenheit dem Zar geschickt ward, der sie königlich honorierte. Four-
mont strich das Geld ein und starb mit dem Ruhme, der einzige Mann auf dem
Erdenrund zu sein, der die tangutische Sprache kenne. Inzwischen kommen
Russen, die in Peking gelebt und dort Chinesisch und die Ural-Altaischen
Sprachen gelernt haben, nach Petersburg zurück. Sie sehen die Handschrift und
die französische Übersetzung. Sie lesen die erstere ohne Schwierigkeit — es ist
einfach, wie man damals noch sagte, Tatarisch; die Übersetzung ist Unsinn,
ohne jede Beziehung zum Original. Die Russen sollten wissen, wie gut sie von
den Franzosen immer bedient worden sind.
— 393 —
blicklich in Erinnerung bringen; unser Streben wird also
einzig und allein auf die Deutlichkeit und die Bequemlich-
keit des Bildes gerichtet sein. Hast Du Dich jemals, lieber
Leser, als Einjährig -Freiwilliger im Situationszeichnen ge-
übt und ein sogenanntes Croquis angefertigt? — Nun, so
kennst Du die dabei angewendeten Signaturen; so weisst
Du, wie man mit ein paar Strichen einen Berg, einen Teich,
einen Sumpf, eine Wiese, einen weit sichtbaren Baum,
ein Gebüsch, eine Sandgrube, ein Bahnwärterhäuschen, einen
Bahneinschnitt, eine Brücke, einen Bahndamm anzudeuten
pflegt, mit wie einfachen Mitteln man eine Eisenbahn von
einer Chaussee, einen Laubwald von einem Nadelwald, eine
Windmühle von einer Wassermühle, ein Gehöft von einem
Dorfe unterscheidet. Übrigens sind ja die Landkarten selbst
keine viel vollkommeneren Landschaftsbilder. Oder hast
Du Dir die alten Kalender angesehen und die sogenannten
Kalenderzeichen j die Zeichen für Sonne, Mond und die Pla-
neten, die Tierkreiszeichen und die Aspekten Deiner Auf-
merksamkeit gewürdigt? — Nun, so weisst Du, dass ein
einfacher Kreis mit einem Punkt, gleichsam ein runder
Schild mit einem Buckel in der Mitte oder auch ein Rad*)
(0) das Zeichen der Sonne, respektive des Sonntags und des
Goldes; eine Sichel (([) das Zeichen des Mondes y respektive
des Montags und des Silbers (eigentlich bloss das Zeichen für
das letzte Viertel, da man den Neumond mit einem Q , den
Vollmond mit einem ® und das erste Viertel mit einem 2)
bezeichnet); ein Kreis mit seinem Durchmesser aber (©) das
Zeichen der Erde mit dem Äquator ist. Gewöhnlich krönt
man den Erdkreis mit einem Kreuz, wie man ein solches,
vergleiche Seite 24, anstatt der Nike auf die Weltkugel in
der Hand der römischen Kaiser oder auf den sogenannten
Reichsapfel setzte (5, das Wappen der Kartäuser). Bei
*) Das Rad, altnordisch J/ioif Jol, englisch JVJieel, war bei den alten
Germanen ein Sinnbild der Sonne; daher wurde das Fest der Wintersonnen-
wende, gleichsam das Geburtsfest der Sonne, an dessen Stelle das Weihnachts-
fest trat, das ytä/esi, wörtlich das Radfest genannt.
— 394 —
der Venm wird ein Spiegel gemalt ((^), beim Mars ein Schild
und ein Speer (c^), beim N^tun ein Dreizack (^), beim
Merkur ein Schlangenstab oder Caducem (J), beim Saturn
eine Sichel (1)). Alle diese Bilder, Zeichen und Signaturen
aber, die bei uns die grösste Popularität gemessen, stimmen
mit denen, welche die alten Ägypter imd Chinesen erfunden
haben und aus denen unsere jetzige Schrift hervorgegangen
ist, auf das genaueste überein.
Man sehe sich nur die ägyptischen und die chinesischen
Bilderbücher an; da wird nicht lange gefackelt, wenns gilt,
einen Gegenstand zu zeichnen. Für die Sonnenscheibe
macht der Ägypter einen Kreis, der Chinese einen mit
einem Punkt in der Mitte, entsprechend dem Kalender-
zeichen ; unser entspricht dem phönizischen und hebrä-
ischen Äi'n und soll ein Äuge sein, das allerdings in den
Hieroglyphen ziemlich sorgfältig und mit dem charakteristi-
schen, mandelförmigen Schlitze dargestellt ist. Mit einem
Blatte charakterisiert der ägyptische Künstler, als ob er
mit unserm Einjährig-Freiwilligen Croquis zeichnete, einen
Baum, mit einem geschwänzten Fell ein vierfiissiges Tier;
eine Wellenlinie, wie wir sie wohl machen, um eine Zeile
auszustreichen, verwendet er für Wasser, daher noch unser
Zeichen für Wassermann: ^. Der Italiener sieht in den
kreuzförmigen Strichen, womit wir eine geschriebene Seite
für ungültig erklären, vielmehr das Bild eines Gitters, er
nennt daher etwas ausstreichen: cancellare, gleichsam gUtern:
man sieht also, was es für eine Kunst war, ein Fenster-
gitter zu zeichnen, das noch in der lateinischen Majuskel H
erhalten ist. Zwei Bäume sind in der chinesischen Bilder-
schrift ein Wald, genau so wie auf unserem Croquis; die
Begriffe oben und unten werden auf die einfachste Weise
durch einen Punkt über (_:_) oder unter einer Linie (-r-)
ausgedrückt. Eine gewisse stillschweigende Übereinkunft
hilft mit, eine solche Skizze für das gelten zu lassen, -was
sie bedeuten soll und was sie vielleicht nicht ganz glücklich
ausdrückt. So ist dem Hindu der mit der Spitze nach oben
— 395 —
gekehrte Triangel (a) das Bild der Feuerflamme, der mit
der Spitze nach unten gekehrte (v) das des Wassers. Und
dieser umgekehrte Triangel (v) wird noch heute von den
Ärzten auf den Rezepten bisweilen für Wasser angewendet,
es ist ein sogenanntes Apothekerzeichen wie Si für Alkohol, ff
für Zucker.
Es ist im höchsten Grade wichtig sich klar zu machen,
dass die ägyptischen Hieroglyphen und die chinesischen
Sinogramme durchaus nichts Besonderes , Altertümliches,
dass sie durchaus nichts sind, was nicht täglich mit geringen
Modifikationen auch bei uns vorkäme. Noch heute zieht
sich durch unsere Briefe, Zeitungen und Bücher wie ein
roter Faden die älteste Bilderschrift. Wir alle pflegen das
Quadratmass durch ein Quadrat (Q) auszudrücken und zum
Beispiel statt loo Quadratfuss: loo □' zu schreiben. Wir
alle malen Kreuze oder Sternchen, um eine Anmerkung zu
machen, Donnerkeile, im Mittelalter Ceraunia genannt, Spiesse
und Obelisken, um als Kritiker eine Stelle als verdächtig
hinzustellen, Pfeile, um die Richtung zu bezeichnen und
Hände, um auf etwas Bemerkenswertes hinzuweisen. Zwei
ineinandergeschlungene Hände, dieses Bild der Freundschaft,
bilden sie nicht eine ganz gewöhnliche Handelsmarke? Ich
entsinne mich, als Schüler in der Geschichtsstunde beim
Nachschreiben nach allgemeiner Sitte für das Wort Schlacht:
zwei gekreuzte Schwerter gemacht zu haben, ähnlich wie der
Chorus in Shakespeares König Heinrich der Fünfte, Vierter
Aufzug dem Publikum den Namen Agincourt durch vier
Klingen vergegenwärtigen will. Die Studenten der Theo-
logie pflegen in ihren Kollegienheften für Christus ein Kreuz
zu machen, und so schreibt man in Norwegen allgemein
für Kristiania: Xania, für Kristianssand: Xanssand, Es ist das
keine blosse Abkürzung, derjenigen analog, mit welcher
man zum Beispiel in England für Liverpool: Lpl, für Man-
chester: Mehr, für Birmingham: Bghm, für Feninsular and Oriental
Company: P & schreibt, ja, in dem letzteren Falle sogar
auch spricht (hy the P and 0, gesprochen Piano); sondern
— 396 —
eine thatsächliche Rückkehr zur alten Bilderschrift und zu
den kleinen Kunstgriffen, welche dieselbe von Anfang an
denn Schreibenden nahezulegen schien.
Es leuchtet ein, in jenen einfachen Bildern besassen die
Menschen einen wahren Schatz. Nicht nur, dass sie in
ihnen die Originale selbst zu Händen hatten, sie hatten
auch implicite alles das zu Händen, was jene Originale be-
grifflich einschlössen und symbolisch bedeuteten. Es kommt
wohl vor, dass Korrespondenten grosser Zeitungen in den-
selben eine bestimmte Chiffre haben und ihre Berichte nicht
mit ihrem Namen, sondern mit dieser Chiffre unterzeichnen.
So hatte zum Beispiel Heinrich Heine seinerzeit in der All-
gemeinen Zeitung als Chiffre den sogenannten Davidsschüd,
das Bild des Namens Gottes, das am Rhein auch ein Wirts-
hauszeichen und nicht mit dem Pentagramm (J5C) und dem
Freimaurerzeichen ()0() zu verwechseln ist: ^ ; Heinrich
Seuffert, der gleichzeitig mit ihm in Paris war, ebendsiselbst
das Zeichen des Planeten Venus: 9. Dem Leser der All-
gemeinen Zeitung galt demnach der Davidsschild für ein
Symbol von Heinrich Heine, das Planetenzeichen für ein
Symbol von Heinrich Seuffert. Genau so musste einst dem
Hindu der mit der Spitze nach obengekehrte Triangel (a),
das chemische Zeichen des Feuers, für ein Symbol des Feuer-
gottes Siva; und der Triangel mit der Spitze nach unten
(v), welcher das Zeichen des Wassers war, für ein Symbol
des Wassergottes Vischnu gelten. Der Ägypter glaubte in
dem Heiligen Käfer oder dem Scarabäus, einem Mistkäfer,
welcher wie alle Arten seiner Gattung seine Eier in Kugeln
aus frischem Mist legt, die letzteren dann eine Zeitlang
rollt und schliesslich eingräbt, den Gott zu erkennen, wel-
cher die Keime des Werdens und des Lichtes in die Materie
legt ; der Käfer, dessen hieroglyphischer Name Ch^er war,
bedeutete demnach zugleich den Sonnengott Ghepera, und
der Reisende, der in Ägypten einen schönen Scarabäus
kauft, bekommt den Schöpfer Himmels und der Erden mit
in den Kauf Es ist das ja nicht merkwürdiger, als wenn
— 397 —
wir ein Lamm abbilden und damit Jesus Christus meinen
oder eine Taube malen und den Heiligen Geist darunter
verstehen.
In dem Petschaft der Jesuiten befinden sich zwei
Kegel; der aufrechtstehende zeigt den Glauben, der umge-
kehrte die Vernunft an.
Indessen jene kunstlosen Abbildungen erwiesen sich
noch in anderer Weise fi^uchtbar: sie schlössen nicht nur
gleiche Begriffe, sondern auch gleiche Laute ein. — In
Italien ist es wohl Sitte, wir haben dieselbe schon be-
merkt, dass sich Liebesleute Briefe schreiben, die ein
durchbohrtes Herz als Vignette tragen; gewöhnlich malen
sie sich diese Vignette selbst; die Figur eines Herzens
und eines Pfeiles ist ja allbekannt; die Chinesen besitzen
die erstere (sin) in 36 Schriftarten. Trotzdem haben die
alten Ägypter dieses anmutige Bild nicht, sondern drücken
das Herz durch ein zweihenkeliges Gefäss, die soge-
nannte Henkelvase, aus; sie liegt beim Totengericht in
der einen Wagschale , in der anderen die Straussfeder,
das Symbol der Wahrheit. Sie sind reich an solchen Sym-
bolen, wenn es überhaupt Symbole und nicht vielmehr
bloss Homonymen sind, die dem Laute nach zufällig zu-
sammentreffen und wie wir sie im nächsten Abschnitt
kennen lernen werden. Wie kommt es zum Beispiel, dass
der Geier ein Symbol der Mutter ist und ein Korb einen
Herrn bedeutet? Ein mit einem Korbe gekröntes Haus
heisst Hausherrin, Neh-hat, und dies ist die Hieroglyphe der
Göttin Nephthys, Die Stabsäule oder der Nilmesser bedeutet
Beständigkeit; das sogenannte Henkelkreuz, wie es die Eng-
länder nennen. Gross and Ball (•9-), welches die ägyptischen
Götter in den Händen halten und womit man bei uns den
Planeten Venus bezeichnet, das Lehen (anch). Man heisst
es auch den Nüschlüssel, und betrachtet es demgemäss als
das Symbol der Meer und Erde aufschliessenden Allge-
walt des Sonnengottes, gelegentlich auch als eine Form
des Phallus. Aber die Sache ist, dass hier eine blosse
— 398 -
Homonymie im Spiele ist, das heisst Wörter vorliegen, die
gleich lauten, aber verschiedene Bedeutung haben. — Die
Homonymie ist die Klippe der Bilderschrift, durch sie wird
sie gleichsam verfuhrt, sich selber zu verleugnen, ihrem
Zwecke luitreu zu werden, und daran scheitert die Sprache
ohne Worte, die hier ein vorzügliches Ausdrucksmittel ge-
funden hatte. Ein ganz neues, falsches Prinzip der Schrift
thut sich hervor, das wir eingehend prüfen müssen.
II. Übergang der Bilderschrift zur Buchstabenschrift.
Die phonetische Krankheit — Wort und Sache wird nicht auseinandergehalten
und infolgedessen das Bild nicht bloss für das Ding, sondern auch für das Wort
genommen — diese Methode ist uns nicht fremd, auf ihr beruhen die sogenannten
Rebusse — historische Beispiele aus Frankreich, Spanien und Italien — Charaden,
wie sie in Deutschland aufgeführt zu werden pflegen — die Ägypter haben
auch Rebusse gemacht und Bilderrätsel erfunden — wie das Bild ^p Löwen
für den Begriff Wasser verwendet wird und wie darauf die Sitte zurückzufuhren
ist, bei öffentlichen Brunnen das Wasser aus Löwenrachen quellen zu lassen —
die Hinzufägung der Determinativa — derselbe Entwickelungsgang m der
chinesischen Bilderschrift und in der Keilschrift, aber in der ägyptischen Sduil:
ist er am deutlichsten — nachdem das Bild auf das 'Wort übertragen worden
ist, schreitet das Volk dazu, das Bild auf den Anlaut des Wortes zu übertragen
— so gelangte es zu einem System der Laute überhaupt — für das Ding, ^
bisher mit einem einzigen Bilde bezeichnet ward, brauchte man nun so ridc
Bilder als sein Name Laute enthielt — die ideographischen Zeichen verschwan-
den damit nicht ganz, aber das frühere System war überwunden, das Volk hatte
Buchstaben gewonnen — Vergleich mit den Taubstummen, welche die Boch-
staben des Alphabets erlernen.
Der Krankheitsprozess, welchem die alte schöne Bilder-
schrift anheimfiel, durch den sie in ihrem Wesen dauernd
verändert imd allmählich ganz zerstört ward, fing sich fol-
gendermassen an. Neben der Bildersprache ging die Laut-
sprache nebenher, von der wir zwar noch nichts wissen, die
aber offenbar in der Wirklichkeit nicht auf unsere Erlaub-
nis gewartet haben wird; man hatte demnach für die Dinge,
— 399 —
welche man abbildete, auch Wörter. Dinge und Wörter
sind nun allerdings zwei Begriffe, die man sorgfältig aus-
einanderhalten muss; indessen ist dies eine Weisheit, die
dem naiven Verstand eines Kindes niemals einleuchten
wird. Wenn ich dem etwa sagen wollte: das Wort Apfel
ist nicht dasselbe wie ein wirklicher Apfel, und das Pferd
im Buche und das Pferd am Wagen sind zweierlei, so würde
es mich gross ansehen und nicht verstehen, was ich wilL
Der Name hat sich in seinem Bewusstsein noch nicht vom
Gegenstande losgelöst und der Umstand, dass ich, um von
dem Dinge selbst zu reden, doch wieder seinen Namen
aussprechen muss, erschwert das Verständnis ungemein.
Gerade aber weil man an einen unauflöslichen Zusammen-
hang zwischen Wort und Sache glaubte, verirrte man sich
dahin, das erstere gewissermassen zu verselbständigen: man
that es eben hona fide. Das Bild bedeutete die Sache, das
leugnete man nicht; nun aber hiess die Sache so und so;
das Bild musste also doch auch fiir diesen Namen gelten!
Gefährliche Klippe! Denn was so selbstverständlich und so
natürlich scheint, beruht dennoch auf einer heillosen Ver-
w^echselung. Es hätte noch nichts weiter auf sich gehabt,
w^enn jedes Wort nur in einer einzigen bestimmten Bedeu-
tung vorgekommen wäre; aber nicht nur, dass dieser Be-
deutungen oft sehr viele sind, es treffen oft zufällig in
einem und demselben Lautkomplex ganz heterogene Gegen-
stände zusammen, wie unser Thor einen nordischen Gott,
einen Narren und eine Pforte zugleich vertritt, Barden bald
dünne Speckscheiben, bald gallische Sänger bedeuten kann,
mehr und Meer, wahr und war fürs Ohr völlig identisch sind.
Die drei englischen Worte Peas, Erbsen, Peace, Friede und
Piece, Stück, unterscheiden sich lautlich nicht; und wenn
einmal ein Russe in einer pariser Buchhandlung les voyages
de Cyrus verlangte, weil er glaubte, das Buch enthalte les
voyages de six Busses, so trifft ihn kein anderer Vorwurf als
der, dass er sich den Titel nicht hatte aufschreiben lassen.
Ja, tausendmal für einmal ist ein Wort den Lauten nach
— 400 —
teilweise in einem anderen enthalten, zum Beispiel Schaf in
Schaf -fner, Ort in W-ort, an in if-a»-». Hat man sich nun
einmal darauf eingelassen, die Bilder nicht bloss für die
Dinge, sondern auch für die Lautkomplexe zu nehmen, so
wird man sie überall einschieben und einschmuggeln, wo
sich besagte Lautkomplexe finden, imd man gerät damit
imwillkürlich auf einen Abweg, in eine von der Bilderschrift
grundverschiedene Methode.
Nun ist allerdings diese Methode uns selber keine
fremde, durchaus keine unerhörte: auf ihr beruhen alle jene
Wortspiele, welche die Engländer Funs nennen, und nament-
die schriftlichen Spielereien, deren die Unterhaltungsblätter
voll sind und die unter dem charakteristischen Namen Bebus
gehen. Alle Völker lieben Rebusse und pflegen sie, vorab
die Franzosen; ist doch gerade die französische Sprache
überreich an Homonymen, die bisweilen noch durch die
Orthographie auseinandergehalten werden , wie zum Bei-
spiel ver, vers, vert und vair oder sang, cent, sans, sent, sens
und sV«; oft aber auch hier zusammenfallen, wie voki-
fliegen und voler stehlen, louer loben und lauer vermieten,
fin fein und fin Ende, causer verursachen und causer plaudern.
Eine pariser Grisette schreibt an ihren Liebsten: Viens de
hdnne heure; faürai celui de te voir plus tot — wie soll das
arme Mädchen wissen, dass honheur etwas anderes ist als
honne heure, da doch eins klingt wie das andere? — Unter
den Karikaturen, von welchen im Jahre VII, neuen Stils,
die pariser Zeitungskioske strotzten, bemerkte man eine,
welche der Erfolg zu einer Prophezeiung gestempelt hat.
Der Zeichner hatte die Glieder des Direktoriums und dar-
unter eine Lanzette, Lattich und eine Batte dargestellt. Diese
drei Gegenstände heissen auf französisch: lancette laitue rat;
der Eingeweihte aber las:
tan sept les tuera.
In Wahrheit kam in diesem Jahre Bonaparte plötzlich von
Ägypten wieder, und wenn diese unerwartete Rückkehr
nicht die Direktoren tötete, sagt ein zeitgenössischer Schrift-
— 401 —
steller, so tötete sie allerdings das Direktorium und seine
Macht Das historische Rebus erinnert an das Wappen
der Familie Racine, das aus einer Ratte (rat) und einem
Schwan (cygne, gesprochen sign^) bestand.
Auch in Spanien sind dergleichen graphische Kunst-
stückchen von jeher Mode gewesen. Den Sklaven brannte
man einst mit einem glühenden Eisen ein S und einen Nagel
auf der Schulter ein: ein Nagel heisst auf spanisch clavOy
das Zeichen war also zu lesen: Es-clavo, das heisst: Sklave,
Auf unzähligen spanischen Denkmälern, am häufigsten in
Sevilla, bemerkt man die Devise oder die Empresa der
Katholischen Könige Ferdinand und Isabella. Sie befindet
sich gewöhnlich auf zwei Schilden, von denen einer ein
Bündel Pfeile (FlecJuis), der andere ein Joch (Yugo) darstellt;
unter den Pfeilen steht in gotischer Schrift ein F, der An-
fangsbuchstabe von Flechas und Fernando, unter dem Joche
ein Y, der Anfängsbuchstabe von Yugo und Ysahel, Unter
der Regierung der Katholischen Könige kamen diese beiden
Initialen F und Y nicht bloss auf Denkmäler, sondern auch
auf Waffen und Geräte, so auf die prachtvollen, metallisch
glänzenden spanisch-maurischen Fayencegefässe zu stehen,
die ini XV. und XVI. Jahrhundert in mehreren Provinzen
Spaniens hergestellt wurden. Die Worte TANTO MONTA,
die man gewöhnlich neben dem Joche liest, sollen wahr-
scheinlich bedeuten: Tanto monta Fernando como Ysäbel, das
heisst die beiden Fürsten kommen sich an Grösse und an
Macht gleich.
Die Stadt Sevilla, la muy noble ciudad de Sevilla, besitzt
ihr eignes Wappen vom Jahre 1 3 1 1 ; es stellt den heiligen
Ferdinand dar, wie er, ein breites Schwert in der rechten
Hand, auf seinem Throne sitzt, neben ihm stehen die beiden
Schutzpatrone der Stadt, der heilige Isidorus und der heilige
Leander; darunter liest man die Devise:
NO 8 DO.
Diese Devise oder Empresa, welche die Spanier el Nodo, das
heisst den Knoten nennen, kehrt ebenfalls auf den Denk-
Kleinpaul, Sprache ohne Worte. 26
— 402 —
mälem Sevillas alle Augenblicke wieder; sie bildet aber-
mals ein Rebus.
Als gegen Ende des XIII. Jahrhunderts der König
Alfons der Weise von seinem Sohne Don Sancho entthront
worden und die meisten Städte und Provinzen seines
Reiches von ihm abgefallen waren, blieb ihm Sevilla allein
treu. Zur Belohnung verlieh Alfons der Stadt den Knoten,
welcher ihre feste Anhänglichkeit versinnbildlichen sollte;
einen Knoten sollte die Figur, welche wie eine Acht aus-
sieht und die zwischen den Silben NO- DO steht, zunächst
vorstellen. Damit verband sich aber noch ein anderer ge-
heimer Sinn. Der Knoten hatte die Form eines Gebindes
Seide, eines sogenannten Stranges oder Strähns, spanisch
Madexa, Legt man das letztere Wort in die beiden Silben
ein, so entsteht die Phrase:
No-madexa-do
oder anders abgeteilt:
No m'[h]a dexado,
und das heisst: sie hat mich nicht verlassen (dexar, verlassen).
Noch ein Rebus aus Italien und aus der neueren Ge-
schichte. A. D. 1857 machte Pius IX. seine famose Reise
durch die Romagna und die übrigen Legationen des Kir-
chenstaats. Als er nach Bologna kam, erhielt er mit der
römischen Post einen Brief, in welchem weiter nichts stand
als:
Santo Padre! 610.
Die Zahl bedeutet, Ziffer für Ziffer gelesen, im Italienischen:
Sei uno zero,
das ist: heiliger Vater, du bist eine Null, und erinnert an den
komischen Fehler, welchen Casanova seinem Sekretär Costa
nie verzieh: der arme Teufel hatte die Stadt Trient, franzö-
sisch Trente in Ziffern geschrieben: 30! — Es heisst, dass
Pius IX., der sonst über Pasquinaden zu lachen pflegte, bei
dieser den Mund verzog.
— 403 —
Wie gesagt, das sind Bebusse, wie man sie in Zeit-
schriften alle Tage liest — Charaden, wie sie Gustav Frey-
tag in Soll und Haben auffuhren lässt: das Wort Referendarim
wird durch ein Reh, eine Fee, ein Wettrennen und den König
Darius, hinter dem Alexander der Grosse steht; das Wort
Farthenia durch ein Ehepaar, eine Theegesellschaft, eine Dame,
die Nie und ein Bauermädchen, das Ja sagt, dargestellt,
während Lenore beidemale als Ganzes, als Referendarim und
als Farthenia erscheint. Schon recht, nur dass diese Rebusse
und diese Charaden gar nichts anderes als moderne Hiero-
glyphen sind — nur dass die geistreiche Dame, die sie
löst, ohne es zu ahnen, dieselbe Kunst braucht als irgend
ein Champollion. Die alten Ägypter und Chinesen haben
eben Rebusse gemacht und Bilderrätsel erfunden, die jede
Redaktion für ihre Spielecke brauchen könnte. In der hiero-
glyphischen Schrift verlieren gewisse Zeichen für ein- oder
mehrsilbige Lautkomplexe ihre ursprüngliche ideographische
Bedeutung so weit, dass sie auch für andere Wörter oder
deren Teile, welche denselben Lautkomplex fürs Ohr wie-
derholen, gebraucht werden. Altägyptisch Mu bedeutet
Gewässer, Ma Löwe; im Koptischen hiess der letztere Mui,
sodass beide Worte noch ähnlicher waren. Das Bild des
Löwen konnte also auch für den Begriff Wasser verwendet
werden und wurde es nach dem Zeugnisse des Plutarch
(Symposiaca IV, quaest, 5. ed. Reiske Opera Vol.v, p. 663); ja, ver-
mutlich ist auf diese Homophonie die bis zu uns gedrungene
Sitte zurückzuführen, bei öffentlichen Brunnen das Wasser
aus Löwenrachen hervorquellen zu lassen, welche Sitte
allerdings auch daraus erklärt wird, dass der Nil zu steigen
beginnt, wenn die Sonne in das Zeichen des Löwen tritt
(20. Juli); wenigstens steigt er dann rapid, die Nilschwelle
beginnt bereits im Juni. Zoäga {Numi Egizi, p. 204) erklärt
sich die Begriffsverwandtschaft abgeschmackter Weise aus
den Katarakten des Nil, deren Heftigkeit und Getöse an
das Löwengebrüll erinnere! —
Mögliche Zweideutigkeiten werden dann durch ver-
26*
— 404 —
schiedene Hilfsmittel, namentlich durch hinzugefugte Deter-
minativa, vermieden. Vielleicht lassen sich dadurch die schwie-
rigsten Probleme der ägyptischen Mythologie sehr einfach
lösen. Neben den ägyptischen Göttern gehen gewisse Tiere
und gewisse leblose Gegenstände her, die ihnen bald nur
als Attribute beigegeben, respektive mit ihnen verschmolzen,
bald geradezu an ihre Stelle gesetzt werden, so dass sie
sich unter einander auswechseln. So entspricht dem Homs
der Sperber, der Hathor die Zmä, dem Phtha der Stier, der
Facht die Katze, dem Sehek das Krokodü, der Isis der T%ron,
der Nephthys das mit einem Korbe geschmückte Haus, der Neith
das Weberschiffchen. Man hat nun namentlich bei den Tie-
ren, die man ja bekanntlich auch göttlich verehrte, eine
Analogie ihres Wesens mit den betreffenden Göttern er-
kennen wollen. Der Sperber eilt, wie die Sonne, durch
den Luftraum und schwingt sich, gleich ihr, zur Himmels-
höhe auf; die Kuh ist die grosse Mutter, der Stier der
Erzeuger, die Katze ein Typus der Verliebtheit, das Kro-
kodil der des Nilwassers u. s. w. Aber abgesehen davon,
dass diese Analogie stellenweise hinkt, so sind doch nun
auch noch die Throne und die Körbe und die Weberschiff-
chen da, die sich zu ihren Trägem genau wie die hei-
ligen Tiere verhalten, wo aber jene Symbolik völlig ver-
sagt. Wie, wenn die ganze Parallele keinen anderen Grund
als den lautlichen Gleichklang in der armen ägyptischen
Sprache hätte, in der es von Homonymen wimmelt? Wenn
die Kombination von Thron und Isis auf dasselbe hinaus-
liefe wie etwa das Hinzumalen eines Scheunenthores zu
der Figur des Gottes Thor, damit er leichter erkennbar
sei? Wenn alle diese Tiere und Geräte eine Art von reden-
den Wappen darstellten, wie im spanischen Wappen das
Kastell von Kastüien, der Löwe von Leon und der Granatapfel
von Granada? In der That ist das um so wahrscheinlicher,
als dergleichen Determinativzeichen, wie wir sehen werden,
auch hinter die phonetisch ausgeschriebenen Gruppen als
erklärende Elemente zu treten pflegen; in unserem Falle
— 405 —
würden sie freilich nicht sowohl die Sache als vielmehr den
Namen andeuten sollen.
Ähnlich wie die ägyptische ist auch die chinesische
Bilderschrift von der phonetischen Krankheit, wenn ich
mich so ausdrücken darf, ergriffen worden. Die chinesische
Schrift wird in Säulen von oben nach unten und in Zeilen,
welche sich von rechts nach links aneinanderreihen, ge-
schrieben. Nun, wer jemals eine solche Zeile, etwa nur auf
einer Theekiste des Himmlischen Reiches, gelesen hat, der
weiss, dass sie aus zwei Gattungen von Zeichen zusammen-
gesetzt sind: aus Begriffszeichen oder wirklichen Bildern
(wen) und aus Lautzeichen oder Bildern, die ihre ursprüng-
liche Bedeutung verloren und an ihrer Statt eine phone-
tische angenommen haben (tse). Die letzteren sind wie
vorhin aus ersteren hervorgegangen. Die chinesische Schrift
war ursprünglich eine reine Wortschrift, ein jedes Zeichen
stellte einen Begriff dar, zum Beispiel die Sonne, •-
oben, -r- unten, wie die Astronomen den aufsteigenden
Knoten durch ß, den niedersteigenden durch ^ bezeichnen.
Die Bilder aber erwiesen sich teils als nicht ausreichend,
teils als nicht klar; es wurden daher mehrere vereinigt,
um neue Begriffe und Wörter zu bilden, zum Beispiel zwei
Bäume um Wald, zwei Weiher um Zanky Mutter und Kind um
Liehe, Vogel und Mund um Gesang auszudrücken. Weil nun
diese zusammengesetzten Bilder genauer und vollkommener
waren, kamen viele einfache Begriffszeichen , deren Aus-
sprache als allgemein bekannt vorausgesetzt werden konnte,
ausser Verkehr und dienten nur noch als phonetische
Komplemente; man setzte sie ohne alle Beziehung auf ihre
Bedeutung neben die Bilder, und dasselbe Ding fand sich
einmal seiner Gestalt, da^ anderemal seinem Namen nach
bezeichnet. Fast alle Blumen, Bäume, Fische, Vögel und
viele andere Gegenstände, deren rein bildliche Darstellung
unmöglich gewesen wäre, werden durch dergleichen Misch-
charaktere ausgedrückt. So bedeutet zum Beispiel ein
Sinogramm, das li ausgesprochen wird, wenn es allein ge-
— 406 —
braucht wird, eine chinesische Meile, zu dem Bild eines
Fisches hinzugefügt, bildet es den Namen des Fisches li,
das heisst einer Gattung des Karpfens, ich glaube des
Goldfisches. Die Ägypter machten ganz dasselbe, nur
umgekehrt. Sie hatten erst die Hieroglyphe für li ge-
schrieben und dann den Fisch als Determinativ hinzugefügt.
Hier jedoch bleiben die Chinesen stehen; in seine Elemente
haben sie das Wort nie aufgelöst, um so zu der vollendet-
sten Gattung der Schrift, nämlich der Buchstabenschrift, zu
gelangen.
Dagegen ist die Keilschrift, die im hohen Altertum an
den Ufern des Euphrat und Tigris entstand und hier von
den Chaldäem*) mit einem dreieckigen Stichel in feuchten
Thon geritzt ward, Stufe fiir Stufe von einer Bilder- eine
Wort-, und von einer Wort- eine Buchstabenschrift ge-
worden: der horizontale und der vertikale Keil sollen ur-
sprünglich identische Zeichen der Gottheit gewesen sein,
ersterer bedeutet noch jetzt den Gott wie das Land Assur.
Jetzt sehen diese Streifen und Striche nun allerdings Buch-
staben so wenig ähnlich, dass Grrotefend seiner Zeit erst
beweisen musste, dass sie wirkliche Inschriften und nicht
blosse Arabesken und Verzierungen seien. Am deutlichsten
aber lässt sich jener Übergang in der ägyptischen Schrift
verfolgen, wo er zugleich für uns am interessantesten ist;
in ihrem merkwürdigen Organismus sind alle Stufen zu-
gleich in einem ziemlich gleichmässigen Verhältnis ent-
halten.
Wer A sagt, muss auch B sagen; hat das Volk ein-
mal dcLS Wort vom Dinge getrennt und gleichsam eman-
*) Der Volksname Ckaldäer wird gleich dem hebräischen KascRm mit der
von den Chaldäern gebrauchten Keilschrift in Zusammenhang gebracht: dialed
bedeutet im Syrischen eingraben, kasad im Arabischen einschneiden, und chid ist
in der Sprache der Keilschriften der Pfeil. Da der Keil Symbol des Hermes
ist, keilförmige Steine auf alten Gräbern vorkommen und die keilförmige Hiero-
glyphe Hu, das ist Fülle, identisch mit dem Zeichen des Gottes Ao oder des
Adonis ist, so liegt dieser Schriftform jedenfalls eine religiöse, wahrscheinlich
phallische Idee zu Grunde.
— 407 —
zipiert, so macht es ihm notgedrungen noch weitere Zuge-
ständnisse und irrt immer mehr von seinem Prinzip ab.
An dem Lautkomplex, mit dem es das Bild identifiziert,
fällt ihm vor allem der Laut, mit dem er anhebt, der söge-
nannte Anlaut auf. Ächom heisst Adler im Ägyptischen,
MuLag^ Eule ; an Ächom nun scheint Ä , an Mülag* M das
Charakteristische zu sein. Was Wunder? Diese Buchstaben
sind gleichsam Häupter und Anführer ihrer Schar. Von
hier ist es nun nur ein Schritt bis zu dem Wagnis, die oben
erwähnten Bilder nicht mehr für den gesamten Wortkörper,
sondern nur für den besagten Kopf, den Adler für A, die
Eule für M zu brauchen. Ganz analog ist zum Beispiel
der Krokodilwächter, der auf den altägyptischen Denk-
mälern häufig erscheint, zum Buchstaben ü geworden.
Zuerst also sonderte man das Wort vom Dinge, dann
wieder vom Worte den Anlaut ab.
Eine Thatsache von unberechenbarer Wichtigkeit!
Denn indem man nun auf die verschiedenen Arten, wie ein
Wort anlauten konnte, achtete und von jeder einzelnen
Akt nahm, gelangte man zu einem gewissen System der
Laute überhaupt. Man lernte Vokale und Konsonanten
und unter den letzteren, nach den bei ihrer Hervorbringung
thätigen Organen, Kehllaute, Gaumenlaute, Zungenlaute,
Zahnlaute, Lippenlaute unterscheiden — jedem schob man
das Bild des Wortes unter, welches mit ihm anhob und
begründete dergestalt ein primitives Alphabet, gewisser-
massen das Inventar der Lautelemente, welche man besass.
Die Folge war, dass man nun für ein Ding, das man
vorher mit einem einzigen Bilde bezeichnete, ebenso viele
Bilder brauchte, als sein Name Laute enthielt, und diese
neuen Bilder standen ausser aller Beziehung zu dem Ding
selber. Eine so prinzipielle Umwälzung konnte nur lang-
sam vor sich gehen. Die literalen Bilder drangen zunächst
ins Innere der Wortkörper; denn am Anfange brauchte
man noch durchgängig das eigene Bild: es musste an-
stössig und ungerecht erscheinen, ein fi*emdes Bild gerade
— 408 —
für den Anfangsbuchstaben zu wählen, während man doch
überhaupt das eigene Bild so gut wie das fremde zum
Typus des Buchstabens hätte erheben können. Zum Bei-
spiel das Wort Änch, das ist Leben, schrieben die Ägypter
ursprüngUch mit dem Henkelkreuz (-^). Wollten sie es nun
alphabetisch schreiben, so hätten sie, nach dem Vorigen,
das Ä durch einen Adler ausdrücken müssen. Das thaten
sie aber nicht, sondern behielten, während sie n und ch aus
dem allgemeinen Alphabet ergänzten, für Ä das Henkel-
kreuz bei. Erst allmählich gelangte das Bild des Adlers,
so zu sagen, zur Alleinherrschaft und verdrängte die iden-
tischen Anlautzeichen vollkommen. Und so mit allen an-
deren Buchstaben.
Die Anzahl der für die 20 — 22 Laute der Sprache aus-
gewählten Hieroglyphen, welche in allen Fällen, wo nur der
einzelne Laut geschrieben werden sollte, gebraucht werden
konnten, wurde auf ungefähr 30 beschränkt. Man erlaubte
sich auch hierbei noch einen gewissen Wechsel vollkommen
homophoner Zeichen zur Bequemlichkeit in der Anordnung
der Gruppen für das Auge. Die ideographischen Zeichen
verschwanden damit noch nicht ganz; sie traten, wie vorher
erwähnt, als Determinativa hinter die phonetisch ausge-
schriebenen Gruppen, der vielen Homonymen wegen. Das
vielgenannte Änch bedeutet Leben; aber es bedeutet auch
Ohr, Spiegel, Ziege u. s. w. Der Leser würde nun leicht
in Irrtum verfallen und Änch nefer: ein schönes Lehen statt
eine schöne Ziege übersetzen können, wenn ihm nicht das
Determinativum zu Hilfe käme. Wie man bei uns, um
jeder Verwechselung vorzubeugen, hinter den Gott Thor
etwa einen Hammer und hinter den Thoren eine Narren-
kappe zeichnen könnte, so malten die alten Ägypter hinter
Aach, die Ziege, ihr geschwänztes Fell; hinter den Namen
des Löwen, Mut, das Bild eines Löwen, hinter Äh, Elefant,
das Bild eines Elefanten. Die Zeder heisst Äsch; weil
aber Zedemholz duftet, so wurde hinter diese Buchstaben
nicht nur ein Blatt, das Bild eines Baumes, sondern auch
— 409 —
ein Salbenbüchschen gesetzt. Die Trauer heisst Senem; weil
sich aber die Männer bei der Trauer das Haar abschnitten,
ward hinter Senem eine Haarlocke gezeichnet. Diese und
ähnliche Gepflogenheiten erscheinen gewissermassen wie
Spuren der ursprünglichen Ideographie, welche das Volk
noch nicht Zeit gehabt hat, völlig zu überwinden und abzu-
schütteln. Die ägyptischen Buchstaben stehen, so zu sagen,
noch nicht recht auf ihren eigenen Füssen, sie sind noch
nicht ganz reif und ausgeboren, sondern noch in der Ge-
burt begriffen und mit ihren mütterlichen Eihäuten bedeckt.
Aber den Weg, den sie dabei nehmen, die Stelle, wo sie
keimen und wo sie das Volk gewissermassen abpflückt,
haben wir glücklich aufgefunden.
Es ist genau dieselbe, wo die Taubstummen, wenn sie
die Buchstaben des Alphabets erlernen, ihre Konsonanten
pflücken. Während die fünf Vokale gewöhnlich durch die
fünf Finger der linken Hand repräsentiert werden, geschieht
die Darstellung der Konsonanten auf folgende Art: B (der
Anfangsbuchstabe von Barha) durch Berührung des Bartes,
C (Orinis) durch Berührung des Haares, D (Dens) durch
Berührung der Zähne, F (Frons) durch Berührung der
Stime; bei G (Oenu) wird auf das Knie gezeigt, bei H
(Hvmervs) die linke Schulter berührt, bei L (Lingua) auf die
Zunge gedeutet, bei M (Manm) die Oberfläche der linken
Hand, bei N (Nasus) die Spitze der Nase berührt. Die
übrigen Mitlaute werden durch eine eigentümliche Stellung
und Verbindung der Finger dargestellt.
410
III. Das griechisch-phönizlsche Alphabet.
Die Schrift tritt in den Dienst der Lautsprache — die Phönizier bekommen die
ägyptischen Buchstaben in die Hände und geben ihnen neue, aber gleich an-
lautende Namen — das Beth und das Gimel in den Schulen Karthagos zur
Zeit der Vandalenherrschaft — aus dem phönizischen Alphabet gehen die ver-
breitetsten Schriftarten der Erde, die arabische und die lateinische hervor —
Kadmus bringt sechzehn Buchstaben nach Griechenland — die Figuren werden
umgekehrt und die Zeichen für Hauchlaute in Zeichen für Vokale verwandelt —
durch die Griechen Siziliens und Unteritaliens wird das phönizische Alphabet
den Römern übermittelt — H wird wieder Zeichen der Aspiration — Geschichte
der Buchstaben F, Y, Z — Verhältnis der beiden Buchstaben C und G — Aus-
sprache des C im alten Rom — Cicero und die Kichererbsen — Erinnerung an
die Sizilianische Vesper.
So trat also die natürliche Schrift, unvollkommene, aber
ursprüngliche Dolmetscherin der Gedanken, bald nach ihrer
Entstehung in den Dienst der sogenannten Sprache, um
die Elemente eines grundverschiedenen Idioms, die Laute,
zu fixieren und sie bald in Säulen, bald wagerecht, bald
von rechts nach links, bald von links nach rechts, bald wie
in Solons Gesetzen ochsenwendig auf Erz und Marmelstein zu
zaubern. Wer mochte damals den Flug ahnen, den diese
dreissig ägyptischen Zeichen nehmen würden? Löscht sie
aus, und eine Welt versinkt in Finsternis. Sie waren nicht
das Resultat der langen Überlegungen eines sachverstan-
digen Gelehrten, sie waren nichts weniger als ein Standard-
Alphabet — vielmehr ganz und gar entwertete und bedeu-
tungslose Bilder, auf gutes Glück aufgegriffen, weil dem
ersten besten Wort entsprechend, weder besonders charak-
teristisch noch besonders einfach, noch besonders vollständig,
noch überhaupt besonders für ihren Zweck geeignet. Das
Glück begünstigte sie. Es spielte sie geschickt den Phöni-
ziern in die Hände, den grossen Kaufleuten und Seefahrern
des Altertums, die sie vielleicht zuvörderst als Zahlzeichen
übernahmen, und trieb die alten kanaanitischen Schrift-
zeichen daraus hervor, die ältesten Buchstaben, von denen
wir wissen.
— 411 —
Phoenices primi, famae si creditur, ausi,
mansuram rudibus vocem signare figuris.
Sie entlehnten angeblich dem hieratischen Alphabet
2 2 Buchstaben, die freilich mit den Hieroglyphen meist gar
keine Ähnlichkeit besassen und denen sie auch ganz neue
Namen gaben: dort war A der Adler (Achom), hier ist es
der Stierkopf (Äleph), wenn dieser Name nicht vielmehr
Häuptling, gleichsam Anführer der Buchstabenschar, be-
deutet, wie der Araber die erste Sure des Koran el-Fatiha,
den Anfang, nennt; dort war B entweder der Fuss oder
ein Schwimmvogel, der die Seele bedeutet (Bk), hier ist es
ein Zelt (Beth); dort war M die Eule (Mulag'), hier ist es
die Wasserwelle (Mem). Dafür fällt bei der oberflächlichsten
Betrachtung etwas auf: dass auch die phönizischen Buch-
staben mit dem Anlaut ihrer Namen identisch sind. Doch
wird man sich hier umgekehrt die Buchstaben als das
Primäre und die Namen als das Sekundäre zu denken
haben, und noch' dazu scheint bei der Auswahl sothaner
Namen oft nur auf den Buchstaben, keineswegs auf das,
was er darstellte, Rücksicht genommen worden zu sein.
Zum Beispiel, wir wollen einmal Beth und DcUeth als
Bilder eines Zeltes und einer Zeltthüre gelten lassen, ob-
gleich auch dazu schon einige Phantasie gehört; aber in
dem Oimel einen Kamelhals, in dem Besch einen Kopf, in
dem Koph ein Axtloch erkennen zu sollen, scheint mir doch
allzu viel verlangt, und man wird sich denken müssen,
dass die Phönizier die überkommenen Buchstaben ohne viel
Federlesens mit den ersten besten gleich anlautenden
Namen betitelten. Zur Zeit der Vandalenherrschaft stachen
die syrischen und jüdischen Knaben in den Schulen Kar-
thagos mit den Fingern in die Luft, um den Sinn eines
alten Buchstabenrätsels herauszubohren:
Das Gimel wird das Beth verderben
und wieder das Beth das Gimel —
und sie merkten allmählich, dass das Beth die byzantinischen
Feldherren BasilisJcus und Belisar, das Gimel die beiden
— 412 —
Vandalenkönige Genserich und Gelimer bedeute; denn Gen-
serich schlug den Basiliskus aus dem Lande und Belisar
den Gelimer. Wie man hier dem Beth und Gimd die vier
Personennamen substituierte, so mochten die alten Phönizier
ursprünglich Beth und Oimel selbst den hieratischen Buch-
stabennamen nur mit Rücksicht auf B und G substituieren.
Die ganze Hypothese von dem äg^yptischen Ursprünge der
phönizischen Schrift hängt eigentlich von dem Grrad unserer
Bereitwilligkeit ab, die Zeichen, wie sie in alten phönizischen
Inschriften vorliegen , den gleichbedeutenden hieratischen
der Ägypter ähnlich zu finden. Der französische Agyptolog
Emanuel de Rouge findet sie ähnlich; Wuttke findet sie
nicht ähnlich. Er leitet sie aus der Keilschrift ab, welche
aber nach ihm aus ägyptischen Anregungen entstanden
ist. Fest steht nur, dass das phönizische Alphabet seiner-
seits als die Mutter fast aller Alphabete der neueren Kul-
turvölker zu betrachten ist.
Aus ihm gingen mittelbar die beiden verbreitetsten
Schriftarten der Erde, die arabische und die lateinische,
hervor, die mit dem Koran und mit dem Evangelium über
alle Lande getragen worden sind. Jene, die sich in der
Stadt Kufa aus der Schrift der syrischen Christen, dem
sogenannten Estrangelo, entwickelte, wollen wir einstweflen
ihrem Schicksal überlassen; die Entstehung dieser, zugleich
unserer eigenen, müssen wir sofort ausftihrlicher beleuchten.
Die phönizischen Kaufleute führten viele Schmuck-
sachen aus Gold und Silber, Edelsteine und herrliche Pur-
purgewänder nach Griechenland; aber die köstlichste Waren-
probe brachte wohl der phönizische Prinz Kadmus; er
brachte sechzehn von den Buchstaben seines Volkes. Ob
sie Zugriffen, die Hellenen! Sie nahmen ohne Umstände die
Zeichen mit den Namen. Das Beth wurde Beta, das Gimel:
Gamma, das Daleth: Delta; Lanibda, der Ochsenstecken, My
die Welle, Ny der Fisch sind semitische Buchstaben und
Fremdwörter, wo nur, wie bei r und ud die Figur umge-
kehrt erscheint, weil die Griechen, die erst ebenfalls von
— 413 —
der rechten zur linken Seite, dann nach Art pflügender
Ochsen (bustrophedon) schrieben, es schon zu Herodots Zeiten
von der linken zur rechten Seite thaten. Ausserdem aber
beliebten sie noch eine andere Veränderung des Systems.
Das phönizische Alphabet bezeichnete vorzugsweise die
Konsonanten und überliess die Vokale dem Leser zur Er-
gänzung, weil die Semiten überhaupt die Konsonanten als
die eigentlichen Träger der Bedeutung eines Wortes be-
handeln und durch die Vokale nur gewisse Schattierungen
dieser Grundbedeutung ausdrücken. Anderseits enthielt es
mehrere Zeichen für Hauchlaute, die im Griechischen nicht
vorkamen und dem indogermanischen Organe, wie einem
unvollkommenen. Instrument, abzugehen scheinen. Es fand
daher eine Fusion von Zeichen für Hauchlaute in Zeichen
für Vokale statt. Das Äleph wurde zum Rang eines Alpha,
das Cheth zum Rang eines Eta, das He zum Rang eines
Epsilon, das Am zum Rang eines Omikron erhoben. Der
sechste Buchstabe im phönizischen Alphabet hiess Vav, was
einen Nagel bedeutete; aus ihm entstand das sogenannte
Digamma (F), welches, wie der Laut V selbst, im späteren
Griechisch verloren ging, aber an dessen Stelle Pythagoras
das Ypsilon erfand, um dem Menschen die Scheidung des
Lebensweges zum Guten und zum Bösen anzudeuten. Da-
mit endlich kein Jota fehle, ward aus dem phönizischen
Zeichen für j das griechische I gewonnen. Gleichwohl war
der gelehrte General Palamedes, der mit Agamemnon gegen
Troja zog, noch nicht zufrieden, namentlich vermisste er
das Ix, das der Schleifstein des Schülerverstandes ist. Er,
der die Würfel, die Wage, die Leuchttürme, die Masse
und so viele andere nützliche Sachen erfunden hatte, ersanrt
auch vier schöne Buchstaben, das Theta, das Phi, das Chi
und das Zi, und beschloss so glorreich das erste Alphabet,
das fortan nicht nur den griechischen Klassikern zur Auf-
zeichnung der höchsten Meisterwerke, sondern hemachmals
auch den Christen des Morgen- und Abendlandes, dem
koptischen Patriarchen für seine Homilien, dem Apostel der
— 414 —
Slaven und dem gotischen Bischof für seine Bibelüber-
setzung diente. Unter den vielen Formen desselben ge-
langte die aus 24 Zeichen bestehende ionische, wahrschein-
lich als Schrift der Homerischen Gresänge, zur alleinigen
Herrschaft, und wurde zu Athen Ol. 94, 2 angenommen,
um dieselbe Zeit wohl auch in ganz Griechenland.
Der besondere Genius dieser dreissig Zeichen, welcher
dieselben, wie ein guter Vater seine Kinder, zuerst bei
Kaufleuten, dann bei Schöngeistern und Schriftstellern in
Pension gegeben, wollte sie nun, wo er sie hinlänglich vor-
bereitet glaubte, in die grosse Welt einführen:
pueros ausus Romam portare, docendum
artes quas doceat qnivis eques atque Senator
semet prognatos.
Horaz Satirae I, 6, 76.
Er Hess sie durch die Griechen Siziliens und Unter-
italiens in der Residenz vorstellen. Die Römer nahmen
sie gut auf imd adoptierten sie nach Form, Bedeutung und
Namen, welche letzteren sie indes häufig abkürzten (Be
statt Beta). In der That können ja die griechischen und
lateinischen Zeichen für B, für Jf, für N kaum unterschieden
werden. Offenbar war die römische Schrift nur eine der
vielen altitalischen Schriften, die allmählich durch sie ver-
drängt wurden, die aber doch selbst nicht ohne Einfluss
auf sie geblieben sind; zum Beispiel sieht das römische B
dem umgekehrten faliskischen D viel ähnlicher, als dem
dreieckigen griechischen Delta, das lateinische B erinnert
durch das Strichlein unten (das sich allerdings auch schon
an dem Bho von Melos, Korinth, Anaktorion und Athen
selber findet) durchaus an das faliskische und messapische
B; und vielleicht sind diese Schriftarten auch direkt von
der phönizischen beeinflusst worden. Bekannt ist, dass der
gelehrte Kaiser Claudius drei neue Buchstaben in das rö-
mische Alphabet einführen wollte : sie wurden während
seiner Regierung auch wirklich angewendet und fielen mit
ihm. Übrigens hatten die einzelnen Buchstaben wirklich
— 415 —
ihre Schicksale wie die Menschen, ja, teilweise wurde
sogar die obenerwähnte Fusion der Hauchlaute in Vokale
wieder rückgängig gemacht. Das H war zwar im älteren
griechischen Alphabet ebenfalls als Zeichen der Aspira-
tion, später aber als Eta verwendet worden. In der römi-
schen Schrift erschien das Zeichen nun wieder fiir den
Hauch, weil langes und kurzes E verschmolz, und nur der
Umstand, dass man ihm in der Versmessung keine Geltung
zukommen liess, erinnert an die geringe Achtung, die man
vor ihm hatte. Das obenerwähnte Digamma erhielt sich
unter dem Namen F, anfangs das VaVy dann, nachdem sich
dieses aus dem Ypsilon entwickelt, den harten Laut des
griechischen Fhi vertretend; Ypsilon und Zeta erscheinen
erst gegen das Ende der Republik bei den Römern, welche
diese Buchstaben an das Ende des Alphabets setzten, und
nun statt ab ovo usque ad mala auch sagen konnten: von A
bis Z. DcLS griechische Zeta zeigte in seiner ältesten Form
(I) viele Ähnlichkeit mit dem phönizischen und hebräischen
Schriftzeichen des Zam; manche wollen aus eben derselben
Figur das lateinische S entstanden wissen, so dass sie dann
im lateinischen Alphabet doppelt vorhanden wäre. Wirk-
lich lässt sich die altitalische Form des S: Z als eine Ver-
schiebung jenes J, oder schon das griechische Sigma (E),
welches auch in altitalischen Schriften wiederkehrt, als ein
um einen Strich bereichertes Z auffassen, wenn man will.
Besonders merkwürdig ist die Geschichte des lateinischen
C Vielleicht hat schon mancher darüber nachgedacht,
warum es bei uns heisst ABC und im Griechischen Alpha
Beta Gamma, Nun C ist in der That nicht nur seinem
Rang, sondern auch seiner Gestalt und Aussprache nach
der Nachfolger des griechischen Gamma (LECIONES =
LEGIONES), der aber den verwandten K-Laut schon früh-
zeitig in sich schloss und daher allmählich für das Kappa
in Gebrauch kam. Weil nun aber wiederum das G fehlte,
so schuf man ein solches gegen die Zeit des zweiten Puni-
schen Krieges aus dem C durch eine leichte graphische
— 416 —
Veränderung desselben. Man machte ein (von den moder-
nen Österreichern, die zum Beispiel die Station Golling:
COLLINC schreiben, wieder vergessenes) Häkchen an das
C: G und schob nun das G zwischen f und h an der
siebenten Stelle ein. Hieraus geht übrigens hervor, dass
im alten Rom C vor i und e, nicht wie ts, sondern wie k
gesprochen worden ist , und dass man Kaesar und Kikero
gesagt hat, wie wir Kaiser und Kichererbsen sagen, daher
auch Plutarch diese Namen mit Kalaaq und Ktniqoyv trans-
skribiert.
Man darf annehmen, dass C während der ganzen Dauer
des weströmischen Reiches vor allen Vokalen wie K ge-
klungen hat, ja selbst nachher kann diese Aussprache noch
nicht gleich verschwunden sein, wie die vielen lateinischen
ins Deutsche übergegangenen Wörter beweisen, die sich
erst seit der Völkerwanderung festgesetzt haben können,
zum Beispiel Kerker (carcer), Keüer (cellarium), Kiste (dsta),
Kirsche (cerasus) , das ebenerwähnte Kicher (cicer) u. s. w.
Auch in griechisch geschriebenen Urkunden des VI. und
VIT. Jahrhunderts sieht man c vor i und e mit k wieder-
gegeben: cpe'Kir = fecit, q)BVx,(xeQO^ = fecerunt, TcaxeKpcxog =
pacificus, TCQOvxeg t= crucis, nißcrare = civitate u. s. w. ; erst
später sieht man rteqra = certa, ivT^sQrog = incertos. Im
VII. Jahrhundert wird es in den beiden östlichen roma-
nischen Sprachen üblich geworden sein, c vor e, i, ae und oe
als harten Palatal (c) und in den vier westlichen ihn als
Sibilant (g) zu sprechen, und seit dem VIII. Jahrhundert
mag es dann vor e und i auch im deutschen Alphabet für
z gegolten haben.
Es ist bekannt, dass der Name des grossen Redners
nicht bloss wie Kicher ausgesprochen, sondern ganz eigent-
lich von dieser Erbsenart (lateinisch cicer) entlehnt worden
ist, weil der erste Cicero entweder ein fleissiger Bauer der-
selben war oder, nach Plutarch, weil er an der Nasenspitze
ein garbanzosartige Kerbe hatte. Nicht minder ist bekannt,
dass die Kichererbsen eben ihrer Aussprache wegen einmal
— 417 —
verhängnisvoll für Tausende geworden sind. Das alte dcer
lebt in französisch chiche, italienisch cece und cicerchia (latei-
nisch dcercula) fort; in Sizilien sagt man einfach dceH. Nun
bei der sizilianischen Vesper gab man den Flüchtlingen
auf, dieses dceri auszusprechen; die Franzosen konnten dcis
nicht, sondern brachten nur entweder siseri oder schischeri,
aber niemals das palatale tschitscheri heraus, und daran
wurden sie erkannt. Der Kustode von S. Giovanni degli
Eremiti unterlässt es nicht, den Fremden diese an das
hebräische Schihholeth erinnernde Anekdote zu erzählen.
IV. Die lateinische Schrift in Deutschland.
Durch Ulfilas und Cyrillus kommt die griechische Schrift zu den Germanen und
zu den Slawen — die Cyrillica bildet die Grundlage der russischen Schrift —
die ältesten Schriftzeichen der Germanen waren die Runen — sie sind aus dem
lateinischen Alphabet hervorgegangen — das Futhark — jede Rune hatte einen
bestimmten Namen, der bald aus der Mythologie, bald aus dem Leben genom-
men war — die Runen wurden auf Buchstaben eingeritzt, welche man zur Losung
und Weissagung benutzte — sie galten als Zauberzeichen — allmählich fingen
die Runen an, nur den Anlaut ihres Namens zu vertreten und wurden schliess-
lich zu Lautzeichen überhaupt — seit dem V. Jahrhundert wird das Runen-
alphabet, als ein deutsches und heidnisches, durch das lateinische Alphabet ver-
drängt — die Mönche, die lange im alleinigen Besitze der Schreibkunst waren,
machten eine ganz neue Schriftart daraus, die deutsche oder gotische — dieselbe
ist jedoch nichts Deutsches — von den Klöstern ist auch der Missbrauch aus-
gegangen, die Hauptwörter gross zu schreiben — die phonetische und die histo-
rische Schreibweise — man soll nicht dieselben Laute durch verschiedene
Zeichen, noch verschiedene Laute durch dieselben Zeichen wiedergeben — was
dasselbe ist: jeder Laut soll nur einunddasselbe Zeichen und jedes Zeichen nur
einenunddenselben Laut haben — wie viel ein deutsches Kind Unterrichtsstunden
braucht, um fest in der Orthographie zu werden — Vereinfachung der Zeichen
— mit allen ihren Mängeln ist doch auch unsere Schrift ein Erbteil uralter
Weisheit — jedes geschriebene Wort ein optisches Vexierbild — dieses Buch,
welches die Schrift als einen Ableger der Sprache ohne Worte zu erweisen
sucht, wäre selbst ohne die Schrift nicht denkbar.
Während sich so das griechisch-phönizische Alphabet
im römischen Reiche weiterentwickelte, gelangte es durch
K 1 e i n p a u I , Sprache ohne Worte. 27
— 418 —
das Christentum auch in solche Länder, die in keinem oder
doch nur in entferntem Zusammenhange mit der Kultur
der Römer standen. Wir erwähnten bereits oben den go-
tischen Bischof imd den Apostel der Slawen. Der gotische
Bischof war Ulfilas, welcher im IV. Jahrhundert die Bibel
ins Gotische übersetzte und sich zu dem Zweck aus dem
griechischen Alphabete eine neue Schrift schuf; der Apostel
der Slawen war Cyrillus, welcher im IX. Jahrhundert die
Bibel für die Mähren ins Slawische übersetzte und zu dem
Ende die griechische Majuskelschrift auf das Slawische
übertrug. Diese sogenannte Cyrillische Schrift oder die Cy-
rillicay die beim Druck der Kirchenbücher der griechisch-
katholischen Slawen noch heute angewandt wird, bildet die
Grundlage der russischen Schrift. Ulfilas hatte seine Schrift
an Stelle des alten gotischen Runenalphabets gesetzt, von
dem er mit ehrfiirchtsvoller Schonung soviel beibehielt, als
nur irgend zulässig war; und dieses Runenalphabet, nach
den sechs ersten Zeichen Futhark genannt, war seiner-
seits aus dem lateinischen Alphabet und zwar aus dem
Kapitalalphabet der ältesten Kaiserzeit gebildet worden —
in den Eddaliedern werden die Runen, diese Geheimzeichen
einer frühen Periode, freilich auf Odin oder Wuotan zurück-
geführt, der sie bevorzugten Menschen mitgeteilt haben
soll. Gewiss ist, dass die Runen die ältesten Schriftzeichen
der Germanen gewesen sind und dass sie am ersten das
darstellen würden, was man als eine nationale, deutsche
Schrift bezeichnen könnte; denn was gegenwärtig als eine
solche im Gegensatz zur lateinischen namhaft gemacht und
zärtlich gehegt uiid gepflegt, ja als dem Auge wohlthuend
betrachtet wird, ist erst recht nur eine Abart der lateini-
schen Schrift, die sich etwa zum Runenalphabet verhält,
wie der heilige Martin zu Allvater. Eine deutsche Schrift
scheint es überhaupt niemals gegeben zu haben; wenn wirs
aber nicht anders thun wollen, so müssen wir Odins Runen
lernen.
Wir treflFen die Runen genau auf jener Entwicklungs-
— 419 —
stufe, auf welcher sich die Hieroglyphen befanden, als sie
zu den Phöniziern wanderten, nämlich auf der, dass sie keine
Gegenstände mehr, sondern alle mit ihrem Namen gleich
anlautenden Wörter bezeichneten. Wie dort das Ö^Bild
den Namen Gimel und das K-'&ä.d den Namen Koph erhielt,
so nannten zum Beispiel die alten Angelsachsen das Zeichen
für Fl Feoh, das ist Vieh, das Zeichen für 0: 6$, das ist
Gott, das Zeichen für T: Tiv^ das ist Kriegsgott, das Zeichen
für R: Bad, das ist Wagen, das Zeichen für B: Beorc, das
ist Birke, das Zeichen für L: Lagu, das ist Meer oder
Wasserstrom, ohne dabei an eii^e andere Übereinstimmung
als die im Anfangsbuchstaben zu denken. Es war gleich-
sam nur eine Fusion der alten mitüberlieferten, aber un-
verständlichen phonetischen Namen in neue, einheimische.
Die letzteren wurden nun abermals stabil, so dass jede
Rune einen bestimmten Namen hatte und, wie eine kon-
ventionelle Hieroglyphe, das damit gemeinte Ding vertrat.
Entweder nun, dass diese Runennamen schon vorher
besonders wichtige Begriffe waren, oder dass man sie erst
als solche zu bearbeiten und auszudeuten anfing: jedenfalls
war man allmählich imstande, mit ihnen den ganzen Kreis
der damals vorhandenen Ideen zu erschöpfen. Zunächst
benutzte man die logische Elastizität der Begriffe selbst, in-
dem man zum Beispiel Vieh, gleich dem lateinischen Pecunia,
für Geld und Reichtum im allgemeinen brauchte; dann aber
wusste man durch abermalige Determination der solchergestalt
erweiterten Begriffe neue Wörter zu gewinnen, zum Bei-
spiel lagu-räd, das ist Meerwagen oder Schiff, räd-os, das ist
Wagengott oder der Gott Thor; Birke mit Gold zusammen
bedeutete eine Frau, ein männlicher Baumname mit einem
S3nionym von feoh zusammen einen Mann u. s. w. Alle
diese Modifikationen und Kombinationen der Begriffe
machten nun natürlich auch die Runen durch, welche ihnen-
gleich waren.
Diese Runen wurden von den alten Germanen auf
buchenen Stäben, sogenannten Biichstahen eingeritzt, welche
27*
— 420 —
man dann zur Losung und Weissagung benutzte. Die höl-
zernen Stäbchen, die man mit unsem bleiernen Lettern
vergleichen kann, wurden a.uf ein ausgebreitetes Tuch ge-
schüttet, dann in zufälliger Folge wieder aufgenommen und
zu Orakeln benutzt. Es galt für die aufgenommenen Runen
einen Vers zu finden, in welchem die Runenstäbe als Reim-
Stäbe standen. Die Übertragung des Anlautzeichens auf
das Stäbchen, auf welchem es eingeritzt wurde, war eme
sehr natürliche; aber wunderbar, wie sich die längst unver-
standene Benennung in allen deutschen Sprachen bis auf
heute erhalten hat; nur im Englischen ist das Wort er-
loschen und verdrängt durch letter, obgleich hook und staff
in der Sprache leben. Dafür haben die Engländer die ur-
alte Bezeichnung für schreiben, to write = reissen, das ist
einritzen, bewahrt, für die wir das lateinische Fremdwort
setzten.
In Italien werden mitunter bei Verlosungen Stäbchen
an die Mitspieler verkauft, auf denen die Nummern stehen;
so wie diese stecche, mögen etwa unsere Buchstaben ausge-
sehen haben. Auch an die Belomantie darf man denken,
wo mit Pfeilen wahrgesagt ward, die man aus Köchern
zog, namentlich aber an die ÄstragcUomantie, die Wahrsagung
mit Würfeln , worauf Buchstaben stehen , aus denen man
nach jedesmaUgem Würfeln eine Antwort auf die vorge-
legte Frage zusammensetzt.
Wie nun durch alle Völker der Glaube geht, dass im
gebundenen, feierlich gefassten Wort eine zauberische Kraft
verborgen ruhe, die zu Segen und Fluch gedeihlich ver-
wendet werden möge, so verehren sie auch ihre Buchstaben,
solange sie ihnen noch neu sind, als etwas Heiliges und
Übernatürliches und wie göttliches Geflüster und Greraune.
Daher wurden unsere Runen zu mystischen Zeichen, die der
Magier unter bestimmten Gebetesformeln auf Waffen, auf
Trinkhömer, auf Steuerruder ritzte, etwa wie man noch jetzt
Drudenfiisse an die Stallthüren zeichnet, um die Hexen ab-
zuhalten, oder wie man sich bekreuzt, um der Versuchung
— 421 —
des Bösen zu entgehen. Die siegbringende Rune Tius grub
der Germane auf das Schwert, und wenn er sich vor schäd-
lichem Tranke wahren wollte, so zeichnete er das heimische
Zeichen des N, die Rune Not, auf den Nagel des Fingers,
mit dem er das dargebotene Trinkhom ergriff. Doch wurde
darüber die eigentliche, einfache Bedeutung der Runen
nicht vergessen, vielmehr machten diese deutschen Buch-
staben ganz die oben geschilderte normale Entwicklung
durch: wie die Hieroglyphen, fingen sie an, nur den Anlaut
ihres Namens zu vertreten und wurden sie schliesslich zu
Lautzeichen, die für jede Stelle im Wort anwendbar waren.
Wahrscheinlich geschah dies nicht ohne Einfluss der römi-
schen Buchstabenschrift, welche die Germanen bei den
Nachbarvölkern kennen lernten. Doch sind die Runen nie-
mals in ausgedehnter Weise als Schriftzeichen verwendet
und meist nur zu kürzeren Inschriften auf Holz, Metall und
Stein verwendet worden ; die älteste bekannte Runeninschrift
stand auf einem 1734 bei Gallehuus, unweit Mögeltondern
in Schleswig, gefundenen, später aber aus der königlichen
Kunstkammer in Kopenhagen gestohlenen und von den
Dieben eingeschmolzenen goldenen Hom. Den Fundort
passiert man auf der Route nach Sylt. Mit Feder und
Tinte auf Pergament sind Runen nur sehr selten geschrieben
worden, und sie dienten hinfort nur zu einer Art von Chiffer-
schrift, in welcher zum Beispiel Ekkehard, damit kein Un-
berufener ihn lese, einen Brief an seinen Neffen schrieb.
Denn mit dem Christentum und der römischen Zivili-
sation fand das lateinische Alphabet bei der grossen Mehr-
zahl der europäischen Völker Eingang und verdrängte vom
V. Jahrhundert an unser nationales Futhark» Es war so
wenig ein unvollkommenes zu nennen, dass im Gegenteil
andere Alphabete daraus ergänzt worden waren, und die
Römer selbst, wie Faulmann wahrscheinlich macht, ihr R,
die Griechen ihr altes B aus unseren Runen entnahmen;
Ulfilas, welcher im vierten Jahrhundert das griechische
Alphabet der gotischen Sprache anpasste, nahm die fehlen-
— 422 —
den Zeichen ebenfalls aus dem Runenalphabet herüber; und
wenn der fränkische König Chilperich, ein merovingischer
Claudius, die vier neuen Buchstaben, die er zur Bezeichnung
der deutschen Laute: ö, a, th imd w brauchte, nicht selbst
ersonnen hätte, er würde sicher gleichfalls auf das Alphabet
seiner Ahnen zurückgegriffen haben. Aber es war freilich
ein deutsches und heidnisches, zwei Begriffe, die sich deck-
ten; es musste also ausgerottet werden. Das Christentum
und Rom unterbrachen die Entwicklxmg unserer Sprache,
unserer Religion, unserer gesamten Nationalität Sie störten
auch unsere Schrift.
Das letztere wäre weniger zu bedauern, wenn wir da-
durch unser Teil zu der Einheit hinzugethan hätten, welche,
wie die Münzeinheit, die Einheit des Zahlensystems, ja die
Einheit der Sprache, im Interesse der Zivilisation und der
Bequemlichkeit des Völkerverkehrs ist. Fast alle europä-
ischen Völker bedienen sich des von den Römern entlehn-
ten Alphabets, und es ist bereits eine Art Standard-Alphabet.
Leider aber gehen wir dieser Einheit wiederum verlustig,
weil wir die lateinische Schrift nicht in ihrer ursprüng-
lichen Einfachheit belassen, sondern die Schnörkeleien und
die unberufenen Zierereien der Mönche adoptiert haben,
die lange im alleinigen Besitze der Schreibkunst waren
und eben eine ganz neue Schriftart, die sogenannte deutsche
oder gotische, daraus machten — die Franzosen imd die
Engländer haben solche Verimingen gleichfalls durchge-
macht, sind aber meistenteils zu den alten, einfachen
Buchstabenformen zurückgekehrt. Bei uns dagegen wird
die Antiqua nur vereinzelt und in wissenschaftlichen Wer-
ken angewendet; ein Buch, das eine weite Verbreitung
haben soll, und zum Beispiel eine Zeitung wagt kein Ver-
leger anders als in Fraktur zu drucken, weil sich das deutsche
Volk erfahrungsmässig an der lateinischen Schrift stösst;
und ein Fremder muss nun unsere Schrift erst lesen lernen,
wie Wir die russische. Schliesslich, dass dem einen die
Antiqua, dem anderen die Fraktur gefällt, ist Geschmack-
— 423 —
Sache, und darüber, was dem Auge wohlthut und nicht
wohlthut, lässt sich nicht rechten. Sanders erklärt die la-
teinische Schrift für schädlich; andere wollen im Gegenteil,
mit grösserem Rechte in unserer eckigen Druckschrift die
Hauptursache der Kurzsichtigkeit erblicken, die notorisch
in keinem Lande Europas so verbreitet ist, wie in Deutsch-
land. In der That, wo die lateinische Schrift sanfte, dem
Auge wohlthuende Rundungen zeigt, ist die deutsche
scharf und zackig; wo jene einfache, klare, sofort erkenn-
bare Formen bietet, da ist diese gestrichelt, ineinanderge-
hakt und gleichsam verfilzt. Man vergleiche nur einmal
s mit §
k mit f
ch mit d^
B mit »
V mit SB
G mit ®
K mit t
C mit 6
E mit @
oder, um einen ganzen Komplex herauszugreifen,
GASTWIRTSCHAFT mit ®2l®3:aB^s9fi3:®e$2tg3:.
Beim Lesen eines Buches wirken diese qualvollen und
schwierigen Buchstabenformen nicht vereinzelt, sondern in
Masse, und die Reizung, welche sie auf der Netzhaut be-
dingen, wird ins Unendliche vervielfacht Grimm bemerkt
in der Einleitung zu seinem Wörterbuch: es verstehe sich von
selbst, dass die ungestalte und hässliche Schrift, die noch immer
unsere meinen Bücher gegenüber denen aller übrigen gebildeten
Völker von atissen barbarisch erscheinen lasse, beseitigt bleiben
müsse. Aber diese Schrift für etwas deutsches zu halten,
ist jedenfalls ein Irrtum.
Viele Leute haben die Gewohnheit, nicht nur ihren
eigenen Namen, sondern auch fremde Eigennamen bei
Unterschriften oder auf Briefadressen mit lateinischer Schrift
— 424 —
zu schreiben. Das that auch Goethe, der den in seinem
Namen enthaltenen Umlaut von o demgemäss mit oe statt
mit ö wiedergab. Dieses oe behielt er dann auch in der
deutschen Schrift bei, und daher die allgemeine, aber un-
deutsche Schreibung Goethe, die nur für die Antiqua passt
In engem Zusammenhange mit der Korruption der
edlen lateinischen Schrift steht ein anderer Gebrauch, wel-
cher ebenfalls von den Klöstern ausgegangen und bei uns
chronisch geworden ist, so dass er uns von allen unseren
Nachbarn unterscheidet: der die Hauptwörter gross zu
schreiben. Jakob Grimm sagt: alle Schrift sei ursprünglich
Majuskel gewesen; man könnte ebenso gut behaupten, sie
sei ursprünglich Minuskel gewesen; denn die Majuskel ist
eigentlich das Sekundäre. Wie bei Griechen und Römern,
so wurden auch im frühen Mittelalter alle Buchstaben der
Schrift gleich hoch und gross geschrieben. Bald jedoch
begann man zu Anfang eines Buches, dann der Haupt-
abschnitte und einzelnen Absätze den ersten Buchstaben
grösser zu schreiben als die übrigen des Textes und pflegte
dieselben mit bunten Farben und allerlei Verzierungen,
welche nicht selten künstlerischen Wert haben, zu schmük-
ken (Initialen), In Urkunden des XIII. Jahrhunderts findet
sich die Majuskel bereits ins Innere eingedrungen, wenn
auch nur vereinzelt bei Eigennamen und dem Namen
Gottes, bis sie seit dem XIV. Jahrhundert auch in den ge-
wöhnlichen Handschriften vorkommt. Noch in Handschriften
und Drucken des XV. und XVI. Jahrhunderts herrscht im Ge-
brauche der Majuskel vollständige Regellosigkeit. Adjektiva
stehen gross geschrieben neben kleinen Hauptwörtern und
selbst neben kleinen Eigennamen; ja Eigennamen werden
unmittelbar auf einander bald gross, bald klein geschrieben.
In Luthers Zeit, wie zum Beispiel in dessen Bibel von 1545,
ist meist alles, was eine religiöse Beziehung hat, durch die
Älajuskel ausgezeichnet; ja für Jehovah oder Jahve ist in der
Lutherischen Bibel sogar regelmässig der HEER gesetzt
Im XVII. Jahrhundert ward es endlich Brauch, alle Sub-
— 425 —
stantiva und alle substantivisch gebrauchten Wörter gross
zu schreiben, sp dass nun nach Grimms anschaulicher Be-
zeichnung die Eigennamen unter der Menge der Substantiva sich
verkrochen und die Schrift überhaupt ein buntes y schwerfälliges
Ansehen gewann, da die Majuskel den doppelten oder dreifachen
Baum der Minuskel einnimmt. Natürlich verbannt er diese
sinnlose Verkleisterung der Substantiva ebenfalls aus seinem
Wörterbuch.
Übrigens ist vieles faul im Staate Dänemark, ja bleibt
es trotz aller orthographischen Konferenzen und orthogra-
phischen Wörterbücher. Man spricht so viel von einer phone-
tischen und von einer historischen Schreibweise, wovon die
letzte durch Frankreich und England, die erstere durch
Italien vertreten sei. Diese Terminologie ist nicht ganz
zutreffend, weil sie den Irrtum veranlasst, als ob die
historische Schreibweise der phonetischen entgegengesetzt
und dem einfachen Grundsatz zuwider sei: schreibe ivie du
sprichst. Die historische Schreibweise ist in ihrer Art auch
eine phonetische, und anders zu schreiben als man spricht
wäre der bare Unsinn. Der Unterschied zwischen den
beiden Methoden besteht nur darin: dass bei der einen ge-
schrieben wird, wie man heutzutage spricht, bei der anderen,
wie man früher einmal gesprochen hat; die historische
Schreibweise ist ihrerzeit eine phonetische gewesen. Wir
schreiben in Deutschland unzähligemal, als ob wir für die
Germanen des Tacitus schrieben. Wie die Franzosen noch
immer parlent und hommes schreiben, weil sie früher einmal
so gesagt, so schreiben wir noch Stahl mit h, weil es ein-
mal stahel geheissen hat, obgleich wir das h nicht mehr
aussprechen; und Tier mit e, weil das Wort einmal zwei-
silbig gewesen ist. Diese historische Schreibweise hat ihre
unleugbare Berechtigung, denn relativ kann man sie auch
phonetisch nennen; was uns jetzt phonetisch heisst, kommt
jedenfalls späteren Jahrhunderten wieder historisch vor.
Nicht nur, dass es nicht Tollheit ist, so hat es ausserdem
noch Methode.
— 426 —
Aber keine Methode hat es, wenn wir in unserer
phonetischen Schreibweise nicht konsequent sind, sondern
bald dieselben Laute durch verschiedene Zeichen, bald ver-
schiedene Laute durch dieselben Zeichen wiedergeben. Eben
die historische Treue, mit der wir vorhin h in StcM und e
in Tier festhielten, wurde verführerisch für uns; wir kamen
auf den falschen Gedanken, h und e seien bloss phonetische
Hilfsmittel, um die Länge des vorhergehenden Vokals an-
zuzeigen, und wir wendeten nun diese Buchstaben auch in
Wörtern an, wo sie eine historische Berechtigung nicht
hatten; zum Beispiel Wahn ist niemals wahen gesprochen
worden, sondern wan, siegen niemals dreisilbig, sondern stets
zweisilbig gewesen (mittelhochdeutsch sigen). Schon das
ist nun nicht gerade löblich, dass wir besagte historische
Buchstaben zu bloss phonetischen Zeichen degradieren
wollen, während man im Mittelhochdeutschen die langen
Vokale viel rationeller durch den Cirkumflex bezeichnete.
Aber selbst diese Laune könnte man allenfalls dem Volke
zugute halten; das h gefällt ihm nun einmal als Dehnungs-
zeichen, dagegen lässt sich weiter nichts einwenden; aber
kaum, dass man ihm dieses Spielzeug gelassen hat, wirft
es dasselbe weg und will ein anderes haben. Das unnötige
h lassen wir nicht einmal immer an dem Platze stehen, wo
es noch allenfalls einen Sinn haben könnte, sondern fugen
es, wenn dem Vokal ein T vorausgeht oder folgt, an dieses
an: Thal = TaM, Rath = Raht Und neben dem h haben
wir das e, wir schreiben ihr, aber Thier, ja bei diesem letzten
Worte machen wir nun gar ein h, nachdem schon ein e
vorhanden. Immer noch nicht genug; ein drittesmal schrei-
ben wir weder ein h noch ein e, sondern wir verdoppeln
den Vokal, zum Beispiel Schaar, Ein viertesmal endlich
schreiben wir gar nichts, zum Beispiel gar. Also ein halb
Dutzend verschiedene Zeichen haben wir, um die Länge
eines Vokals auszudrücken! Dies ist unsystematisch.
Umgekehrt, um die Kürze eines Vokals auszudrücken,
verdoppeln wir bald den nachfolgenden Konsonanten, wie
— 427 —
zum Beispiel in Mann; ja, man entblödete sich nicht, bis
ins XVIL Jahrhundert hinein für in: inn, für oft: offtj für
gescheit: gescheidt, für und: unnd, undt, unndt zu schreiben. Bald
unterlassen wir es, wie zum Beispiel in ,man. Im Mittel-
hochdeutschen galt jeder nicht bezeichnete Vokal für kurz,
und man schrieb die Konsonanten nur im Inlaute zwischen
zwei Vokalen, deren erster kurz war, doppelt, wo sie auch
doppelt gesprochen werden.
Unzähliger solcher Inkonsequenzen machen wir uns
schuldig, bei denen weder von phonetischer noch von histo-
rischer Schreibweise, sondern einzig und allein von mangeln-
der Methode die Rede ist und die zur Folge haben, dass
ein deutsches Kind, und sollte ihm das Abc, wie in dem
Basedow'schen Philanthropin , von Lebkuchen gebacken
werden, 1300 Unterrichtsstunden braucht, um fest in der
Orthographie zu werden: ein englisches hat allerdings noch
mehr nötig, nämlich 2306, ein italienisches aber bloss 950.
Ich will nur noch eine Inkonsequenz erwähnen. Den aspirier-
ten Lippenlaut schreiben wir bald wie /", bald wie v, ja so-
gar etymologisch offenbar zusammenhängende Wörter, wie
füllen und voll, für und vor scheiden wir durch eine ganz
und gar prinziplose Schreibung. In der That sollten wir,
wie J. Grimm vorschlägt, w gänzlich eliminieren, an seiner
Stelle V und überall, wo wir f sprechen» auch f also fer-
vcUten, ßfuss, ßvissend schreiben. Bei keinem Volke in der
Welt, sagt er, geht die Vereinfachung der Schrift so schwer
wie bei uns von statten; in Spanien bedurfte es nur einer
von wenigen Gelehrten ausgegangenen Feststellvmg der
Massregel, wonach x mit j vertauscht ward, und jedermann
w^ar damit einverstanden.
Mit alledem würden wir nur eine grössere Methode
und Konsequenz erreichen; aber auch manche wirkliche
Vereinfachung der Zeichen wäre denkbar, wie sie zum
Beispiel die Slaven sehr zu ihrem Vorteil mit seh, ch und sz
vorgenommen haben. Zum Beispiel den Namen Schafarik
schreiben die Czechen SafaHk, sie drücken also den Zisch-
— 428 —
laut schy wie es in sprachwissenschaftlichen Werken und
im Standard-Alphabet geschieht, durch § aus; es ist der Laut,
der im deutschen schon, im französischen chat, im englischen
show gehört wird.
Der Umstand, dass wir für diese häufigen Verbindungen
einfacher Zeichen entbehren, während wir gleichzeitig so
stark zur Verdoppelung der Buchstaben und Einschaltung
unnötiger Dehnlaute geneigt sind, macht, dass die Darstel-
lung unserer Laute so breit ins Auge fällt, was bei Versen^
und wenn eine fremde Sprache daneben steht, am sicht-
barsten wird. Kürze und Leichtigkeit des Ausdrucks, die
im ganzen nicht unser Vorzug sind, werden uns gewisser-
massen noch durch diese schleppende Orthographie er-
schwert. Doch wollen wir weiter nicht mäkeln an dem
Schriftsystem der deutschen Sprache, welches wohl in
Einzelheiten entstellt und verwirrt sein kann, aber nichts-
destoweniger auch seinerseits ein Erbteil uralter Weisheit
ist. Denn wenn ich, indem ich dieses schreibe, wirkUch
noch die kleinen Gemälde nachmale, die so viel tausend
Jahre vor mir ein göttlicher Bibliothekar in Ägypten vor-
gezeichnet hat; wenn ich wirklich noch bei einem ein
Auge, bei einem Ä einen Stierkopf, bei einem B ein Haus
mache, und wenn jedes geschriebene Wort gewissermassen
eines von jenen optischen Vexierbildern vorstellt, die von
vorn die Liehe, von der rechten Seite den Glauben, von der
linken Seite die Hoffnung, oder in derselben Reihenfolge
den Kaiser Wilhelm, Bismarck und Moltke zeigen, während
sie doch immer nur ein einziges Bild bleiben; wenn ich,
der ich sie schreibe, diese meine Buchstaben kaum ver-
stehe, der, welcher sie liest, wenig von ihrer Bedeutung
weiss, und sie trotzdem den Geist gefangen halten — wie
sollte mich nicht eine gewisse Bewunderung für diese selt-
same Mosaikmalerei ergreifen, die nachgerade die erste
Grossmacht der Erde geworden ist! Auf ihr beruht das
Gedächtnis und das Selbstbewusstsein des Menschenge-
schlechts. Vierundzwanzig bewegliche Buchstaben änderten
— 429 —
die Welt — ohne sie wäre die verhallende Wortsprache
wie der Schatten eines Vogels, der spurlos über die er-
leuchtete Erde hinfleucht. Dieses Buch, das die Kunde
von der Sprache ohne Worte und damit von der Schrift in
weiten Kreisen verbreiten möchte , dankt seine Existenz
nur ihr; denn nur mit ihr kann ich es mir selber deutlich
machen — wie so ich dieses schreibe.
V. Tabelle.
Buch-
stabe
Ursprüngliche
hieroglyphische
Gestalt
Nene, aus dem
Buchstaben ent-
standene Zeichen
Gegenstände, auf weiche
der Name übertragen
worden ist
Nationen , denen der
Buchstabe abgeht
Stierkopf; die
beiden Füsse
stellen die
Homer vor
B
Zelt
Der Bauch eines a
im Französischen ty-
pisch für den ersten
geringen Anfang ei-
ner Schrift {n*avoir
pas fait une pause
(Va, wie wir sagen:
keinen Buchstaben ge-
schrieben haben).
In Italien sagt man
von einem Manne,
der einen grossen
dicken Bauch hat :
somiglia un B,
Chinesen und Neu-
griechen. Daher
in einem chine-
sischen Werke
über den Krieg
i^'joi'jiBenedetti
in Pennitenti
transscribiert.
Die Neugriechen
umschreiben B in
Fremdwörtern
mit |M7r, zum Bei-
spiel fJLTliQa =
Bier, fiTCQdtao
= braccioy Elle.
— 430
Bach-
Stabe
Ursprüngliche
hieroglyphisohe
Gestalt
Nene, aas dem
Boohstaben ent-
standene Zeichen
Gegenstlnde, aof welche
der Marne übertragen
worden Ist
Nationen, denen der
Bachstabe abgeht
D
Zeltthüre
Fenster
H
Kamelhals
Zaun, Hecke
Aus d[eleatur]y
man tilge,
und aus ä[e-
»flWi«], Pfen-
nig, entstand
das Zeichen
^. In Eng-
land schreibt
man einfach
d für Penny,
in Bayern dl.
Aus lateinisch
ET entstand
erstf. \;dann
AasII[ersc/tel],
dem Entdek-
ker des Ura-
nus, ging das
Zeichen für
Uranus 't'
e
hervor (ge-
wöhnlicher S)
Die Figur des grie-
chischen £>eUa (J)
typisch für alles
Dreieckige, zum Bei-
spiel für die drei-
eckigen Landstrecken
und Inseln an den
Mündungen der
Ströme, den drei-
eckigen Muskel am
Oberarm, die Harfe
u. s. w.
Recks und Galgen
haben die Figur eines
griechischen P. Gam-
f/iaäia nannte man
im christlichen Alter-
tum eine kreuzför-
mige Stickerei auf
geistlichen Gewän-
dern, die aus vier
grossen Gammas zu-
sammengesetzt war.
Im Italienischen ty-
pisch für das Ge-
ringste, was man von
einer Sache weiss
{non sapere un* accd).
Die Figur trifft mit
der des griechischen
Eia zusammen, da-
her I. H. S., grie-
chisch /. H. 2,, die
drei ersten Buchsta-
ben des Namens Jesu,
an den Professhäu-
sem der Jesuiten.
NeugriecheD,dereii
6 die Aussprache
des weichen eng-
lischen th hat
Unser d geben sie
in Fremdwörtern
durch VT wieder
(vTißdnov =
Divariy vto?.ficig
as* türkisch Dol-
md).
Russen, die daher
in Fremdwörtern
G an die Stelle
setzen (Gamburg
= Hamburg.
431 —
Buch-
stabe
K
M
N
O
Ursprüngliche
hieroglyphische
Gestalt
Drei ausge-
streckte Fin-
ger, der rohe
Zug einer
Hand
Ausgestreckte
Hand
Hirtenstaby
Ochsenstecken
Wasserwelle
Fisch, angeb-
lich ein ge-
wundener Aal
Auge. Danach
glauben die
Italiener im
Gesicht des
Menschen das
Wort Omo zu
sehen (die
zwei O die
beidenAugen,
das M die
Nase)
Nene, ans dem
Bachstaben ent-
standene Zeichen
Aus lateinisch
io, d. i. heisa,
juchhe, ent-
stand, indem
man einen
Buchstaben
über den an-
•
dem setzte: J
u. daraus das
Ausrufungs-
zeichen: !
Gegenstände, auf welche
der Name Übertragen
worden ist
Nationen, denen der
Buchstabe abgeht
Das kleine Jota schon
bei den Griechen
typisch für den klein-
sten Teil eines Wor-
tes, daher mit dem
Accente zusammen-
gestellt: ioixcx. BV fj
fila scsQala ov fi^
naQkkd^y änd tov
vöfiov {Evangelium
Matthäi V, l8).
Die Lambdanaht am
Hinterhaupt hat die
Form des griechi-
schen A»
Das O wird auf alles
Runde (O- Beine,
runde Fenster und
Gebäude) übertragen,
ja als vollkommener
Kreis betrachtet (/'O
di Giotto) und von
den Alten zum Sym-
bol der Ewigkeit,
und der vollkomme-
nen Zahl, der Drei,
genommen.
Perser; in Fremd-
wörtern geben
sie es durch R
wieder, zum Bei-
spiel das Pippali
des Sanscrit,
Pfeffer , durch
Pippari,
Die Litauer haben
kein kurzes 0.
— 432 —
Buch-
stabe
Ursprüngliche
hieroglyphische
Gestalt
Neue, ans dem Gegenstünde, auf welebe
Buchstaben ent- der Name Übertragen
standene Zeichen worden ist
Nationen, denen der
Buchstabe al^ht
Mund, gleich-
sam ein Kopf;
der gerade
i
Strich ist der '
Hals
Eine vorspringende
Terrasse im Hippo-
drom zu Konstanti-
nopel, welche die
Form eines griechi-
schen n hatte, hiess
Pü Der griechische
Buchstabe hat auch
die Form eines Gal-
gens , daher sagten
die Römer: y ad
graecum Pi^ geh zum
Galgen, zum Henker.
Axtloch ; das
Schwänzchen
ist der Stiel
(Y). Unrich-
tig von den
Engländern
Tail - htter
genannt, als
ob es aus O
und einem
Schwänzchen
(tpitue) ent-
standen wäre
A\isQ[uaestio\
Frage, ent-
stand, indem
man den er- 1
sten Buch- -
Stäben über
den letzten
setzte , das
Fragezeichen,
das eigentlich, |
wie es im t
Spanischen
geschieht,
über das erste
Wort der
I Frage zu ste- t
, hen kommt:
Araber; in Fremd-
wörtern geben
sie es durch B
(Bosta = Post)
oder F wieder
(Ferdaus = per-
sisch PardeSf Pa-
radies).
— 433 —
Buch-
stabe
Ursprüngliche
hieroglyphische
Gestalt
Neoei aus dem
BQohstaben ent-
standene Zeichen
Gegenstände, anf welche
der Name fibertragen
worden ist
Nationen I denen der
Buchstabe abgeht
S(hebr,
Samech)
Kopf
Lehne, Stütze
Aus r[aäix]
entstand das
Wurzelzei-
chen: y
Aus S[imilis]
entstand das
Zeichen der
Ähnlichkeit :
cn, aus S[ig'
num S[ectio-
nis] das Para-
graphzeichen:
§ , welches
anderseits als
Abbreviatur
von S[ud]-
S[cripsi] zu
dem der Na-
mensunter-
schrift hinzu-
gefügten Fa-
rafe ward
Die Figur des latei-
nischen Buchstabens
ist typisch für schlan-
genförmige Windun-
gen, zum Beispiel
die der Seine in Paris,
des Tiber in Rom,
des Nils in Nubien;
die der dritten Ab-
teilung des Grimm-
darms u. s. w. Ein
Betrunkener, der
nicht gerade vor-
wärts gehen kann,
macht, wie die Fran-
zogen sagen, des S.
Nach der älteren Ge-
stalt des griechischen
Sigma: C , nannten
die Römer auch
halbkreisförmige
Esstische Sigtnata.
Chinesen, .die in
. Fremdwörtern an
die Stelle des R
ein L setzen :
Eulopa = Euro-
pa^ Kilissetusi=^
Christtis, Schon
daraus kann man
schliessen , dass
das Wort Man-
darin kein chine-
sisches ist.
Kleinpaul, Sprache ohne Worte.
28
— 434 —
Bncta-
stobe
Ursprüngliche
hleioglyphUche
Gestalt
Nene, ans dem
Bnohataben ent-
standene Zeichen
T
Kreuz
Nagel, Pflock
Gegenetinde, auf welche
der Name ttbwtnigen
worden ist
Aus der Dop-
pelsetzung
von V = U
entstand der
Buchstabe W
(englisch
double u)
Das griechische Tau
hat die Form eines
Kreuzes mit auflie-
gendem Querbalken
(T). Dies ist zugleich
die Gestalt emer
Knicke, und da sich
der heilige Antonius
der Grosse eines sol-
chen Krückenstocks
bediente, so wird das
Tau auch Antomtis-
kreuz genannt. Weil
endlich auch der so-
genannte Nilschlüssel
oder da^enkelkrttiZj
das die ägyptischen
Gottheiten in den
Händen tragen (■¥■)>
diese Form hat, so
wird auch dieses Tau
genannt {ägyptisches
Kreuz),
Oft auf Dinge über-
tragen, welche einen
auf dem Scheitel
stehenden Winkel
darstellen und, wie
die Italiener sagen,
a Vu sind, zum Bei-
spiel auf das von
den Zungenwärzchen
gebildete Zungenvau
(französisch V lin-
gt*al).
Nationen , denen der
Bachstabe abgeht
435
Bach-
Stabe
ursprüngliche
hieioglyphische
Gestalt
Neae } aus dem
Buchstaben ent-
standene Zeichen
Gegenstände, auf welche
der Name tibertragen
worden ist
Nationen, denen der
Baohstabe abgeht
X
Z(hebr.
Zain)
Der lateinische Buchstabe X ist identisch niit dem griechischen X {Chi),
Ehe nämlich die Griechen das Zeichen S für Xi annahmen, schriebisn
sie die Lautverbindmig: K2 oder gewöhnlicher XS, Das ahmten
die Römer nach und so finden sich in lateinischen Inschriften Formen
wie MAXSUMÜS PROXSUMUS. Später Hessen die Römer das S
weg, so dass nur der eine Buchstabe X übrig blieb. Daran erinnert
noch die spanische Aspirata X, an deren Stelle jetzt J gesetzt wird.
Das griechische X oder Chi stand einst als Anfangsbuchstabe des
Namens Christus {XQiaxoq), zugleich als P'orm des Andreaskreuzes,
in hoher Verehrung. Aus diesem Kreuze als dem Zeichen des Lebens
ging das Multiplikationszeichen hervor (8 X 8). Das lateinische X
oder Ix auf einwärts gebogene Beine übertragen, vergleiche Seite 139,.
Der Buchstabe
wurde von
den Griechen
erfunden und
dem phönizi-
schen Alpha-
bet hinzuge-
fügt.
Waffe
Zeichen an den
pariser Läden,
welches Feste
Preise besagt.
Gregenwärtig
selten.
AusZ[ev$] das
astronomische
Zeichen für
den Planeten
Jupiter: S\.\
der senkrechte
Strich bedeu-
tet die Ab'
kürzung.
Der griechische Buch-
stabe (Y) hat die
Form eines Schacher-
oder Gabelkreuzes;
er ist typisch für die
Scheidung des Le-
bensweges (vergl.
Seite 25), für die
Teilung des Landes
oder Meeres in Arme
(holländisch het If),
für einen Kopf mit
Hörnern u. s. w.
Typisch für das Aller-
geringste, was man
von einer Sache
weiss (italienisch non
intendere una zeta).
Die französische Ce-
dille y italienisch Ze-
diglia (gewöhnlicher
Codetta , Schwänz-
chen) ist eigentlich
ein kleines .Zei:
früher schrieb man
nämlich, um dem c
den Ton eines ss zu
geben, ein z daneben
(leczon == legon).
28*
Viertes Kapitel.
Unsere angebornen Ziffern.
Die Ziffern ein Rest der alten Bilderschrift — ihr Ursprung dunkel — Erinne-
rung an einen Professor der Mathematik, der die Revolution der Zahlen predigte
— er behauptete, jede Ziffer müsse so viel Striche haben als Einheiten, danach
restaurierte er die Ziffern — wie er die Null geschrieben wissen wollte — alle
Ziffern sind gewissermassen Nullen — der arabische Ursprung unserer Ziffern
— Unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzten Ziffern — nur um
die ersteren handelt, es sich: auf welchem Wege gewannen die Völker ein-
fache Ziffern? — erstens auf dem ebenang^ebenen: soviel Striche zu machen
als Einheiten vorhanden sind — zweitens dadurch , dass sie die Anfangsbuch-
staben der Zahlwörter zu Ziffern erhoben — drittens, indem sie die Buchstaben des
Alphabets zu Zahlzeichen benutzten und dieselben die ihrer Stelle entsprechende
Zahl vertreten liessen — an diese Methode eriimert der Ausdruck KwnmelbläU-
cheriy eigentlich GimelbläUchen — viertens, indem sie die Ziffern durch Dinge
ausdrückten, welche erfahrungsgemäss eine bestimmte Anzahl von Einheiten ent-
hielten — die römische Ziffer V hat die Porm einer Hand, X ist eine doppelte
Hand — es giebt Dinge, wtlche zufällig die Gestalt von Ziffern haben, sie
gehen uns nichts an, ebensowenig die Ziffern, welche mit den Fingern nachge-
macht werden -^ dagegen besteht bei der Hand und der Fünf ein innerer Zu-
sammenhang, denn die Hand ist eine lebendige Fünf, die Finger sind lebendige
Einheiten — die italienische Einheit in Neapel — die Dreieinigkeit mit den
Fingern dargestellt — Hand und Fünf sind in der Sprache des Volkes geradezu
gleichbedeutend, wie bei den modernen Römern die Beine der Frau die Zahl
Zwei bedeuten — wie, wenn alle Ziffern aus solchen natürlichen Zahlen hervor-
gegangen wären?
Von der alten Bilderschrift, die, ursprünglich ein Organ
der Sprache ohne Worte, allmählich ihres selbständigen
Charakters verlustig -gegangen und in den Dienst der Laut-
sprache getreten ist, ragt noch ein merkwürdiger Rest in
— 437 —
unsere Zeit hinein: die Ziffern oder die Zahlzeichen, die noch
heute offiziell neben den Zahlwörtern hergehen. Ob freilich
eine arabische i gleichsam ein Bild der Einheit darstellt,
wie das A einmal das Bild eines Stierkopfs dargestellt hat,
darüber sind die Meinungen sehr geteilt; man schreibt den
ZiiFem bald diesen, bald jenen Ursprung zu, der eine will
sie aus den Zahlwörtern selbst, also doch wieder aus der
Lautsprache und den gänzlich entwerteten Buchstaben her-
vorgehen lassen, der andere führt sie auf Dinge zurück,
die gleichsam natürliche Zahlen sind, wieder ein anderer er-
kennt in ihnen eigene, einfache, nur durch den Gebrauch
entstellte Zahlfiguren. Man gestatte mir eine kleine Er-
innerung aus meiner Studentenzeit.
Damals lernte ich einen Mathematiker kennen, der
Professor an einer leipziger Schule war und daneben gut
Schach, gut Skat, am liebsten aber Sechsundsechzig spielte.
Nicht dass er dieses letztere Spiel etwa für besonders geist-
reich und interessant gehalten hätte, aber es gab ihm die
erwünschte Gelegenheit, sich über die Revolution der Zahlen
zu verbreiten, die dem guten Manne am Herzen lag. Er
hatte nämlich ein neues Zahlensystem erfunden, in welchem
66 die Grundzahl bildete — die Sechs oder wie er sie nannte
die Seh betrachtete er überhaupt als den Schlüssel zum Welt-
ganzen, weil sie die verdoppelte Trias oder die verdreifachte
Dycis, die Regel aller Organisation und die Venuszahl sei.
Das spreche sich, meinte er, schon in der Gestalt der Ziffer
Sechs aus, als welche naturgemäss ein Haus vorstelle und
so aussähe: hier malte er ein kleines Quadrat mit einem
Dache oben drauf: {J. Diese Figur, aus welcher unsere
Sechs mit Abschleifung der scharfen Ecken hervorge-
gangen sei, bestehe aus sechs Strichen, und das sei das
Wesentliche: jede Ziffer müsse überhaupt genau so viel
Striche haben als Einheiten, auf diesem Grundsatze, nach
welchem die Kinder in den Schulen zählen lernen, beruhe
das ganze Zahlensystem, das in einem Quadrate mit zwei
— 438 —
Diagonalen enthalten sei. Die Eins repräsentiere von Haus
aus einen einfachen'Strich, die Zwei zwei Striche, die Drei
drei Striche und sofort Nach diesem Prinzip, dass die Zahl
der Linien mit der Zahl der Einheiten übereinstimme, seien
alle Zahlzeichen gebildet und nach diesem Prinzip seien sie
zu restaurieren. Einzelne Ziffern, seine besonderen Stecken-
pferde, bestätigten die angegebene Methode überraschend:
so die I , die 5 , die er aus j , und die 8 , die er aus <>
herleitete; es war doch zu evident, wie diese charakteristi-
schen Figuren nur in der Kurrentschrift abgestumpft und
abgerundet worden waren. Aber er blieb die Erklärung
für keine Ziffer schuldig. Statt der 4 machte er ein Quad-
rat, statt der 9 zwei durch eine gerade Linie verbundene
Parallelogramme. Schliesslich war er mit diesen Problemen
den ganzen Tag über beschäftigt, man sah ihn nichts als
Ziffern probieren, rektifizieren und emendieren, wobei ihm
das obenerwähnte Quadrat mit den zwei Diagonalen, oft
auch ein einfaches Briefkouvert als Schema diente. Er
glaubte dadurch seiner Schule, ja der Menschheit unschätz-
bare Dienste zu erweisen, die ohne seine Methode nicht
Drei zählen könne.
Die ganze Welt, sagte er, dreht sich um Ziffern; die exakten
Wissenschaften beruhen auf Ziffern; keine Rechnung, keine Bank-
note, kein Vermögen ohne Ziffern; durch eine Ziffer kann man
einen Menschen glücklich und unglücklich machen, Schicksale schaffen
und vernichten. Und ich sollte nicht alles daransetzen , diese
heiligen, teuren, unentbehrlichen Zeichen vnederherzustellen und
meinem Geschlechte die Seh reinzuerhalten? Droht ihm nicht
völlige Blindheit ohne meine heilsame Reformation? Offenbar hat
mir die - Vorsehung gerade diese Schule als Pflanzstätte der neuen
Zahlentheorie gegeben, aber die dummen Jwngen ärgern mich, die
mich nicht begreifen und mir mit Undank lohnen. Begraben ist
in ewige Nacht der Erfinder grosser Name gar oft!
Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Neulich setzte ich in einer
Klasse den Schlingeln mein System auseinaiider, das so eiwfa^i und
— 439 —
so natürlich ist; sie schienens auch zu fassen. Ich schrieb eine
Ziffer nach der andern aufs Papier und lehrte sie die Striche
zahlen; es ging gut Zuletzt nahm ich ein weisses Blatt und
fragte, was das für eine Ziffer wäre. Da sahen sie mich gross
an, Ihr Esel, sagte ich, seht ihr denn nicht, dass das die NtUl
ist? Da kommt Einer und faselt, wenn man eine Null schreiben
wolle, so müsse man ein machen wnd lacht mich a%Ls, Der
Dummhut! Wenn man nichts ausdrücken wül, so darf man doch
auch nichts schreiben! Ich gab ihm eine Ohrfeige,
Ich erlaubte mir dem Herrn Professor zu bemerken,
dass alle Ziffern gewissermassen Nullen seien, sintemal das
arabische Wort Ziffer eigentlich leer und Null bedeute und
mit dem romanischen Zero identisch sei — noch Luther
brauchte Ziffern im Sinn von Nullen, als er sagte, der Papst
mache aus den Bischöfen nur Ziffern und Ölgötzen — was an
den Ausdruck des Horaz {Epistulae I, 2, 2y) erinnert: nos
numerus sumus, wir sind Nullen. ^ Ich erlaubte mir eben an
diesen Umstand die Erinnerung an den arabischen Ursprung
unserer Ziffern überhaupt zu knüpfen, deren Grundformen
man daher nicht bei uns, sondern im fernen Osten suchen
müsse, und zwar bis nach Indien hin; denn das arabische
^fr sei wiederum nur eine Übersetzung des Sanskritwortes
^nja-s, welches ebenfalls leer und Null bedeute, und mit
dem griechischen ytevog verwandt sei. Ich bemühte mich
schliesslich, bezüglich der Null zu konstatieren, dass wir
gerade bei diesem Zeichen der ältesten, indischen Methode
folgen, indem wir es wie im Devanagari, das ist der gang-
baren Sanskritschrift, im Tibetanischen und sonst durch
einen kleinen leeren ICreis ausdrücken, während die Araber
den Kreis gewissermassen ausgefüllt und einen Punkt dar-
aus gemacht haben, welcher sich zwcir dem absoluten
Nichts nähert, zu dem aber (genau wie im Französischen
ne zu point) die Negation erst hinzugedacht werden muss:
nicht einmal einen Punkt, das ist gar nichts. Die Franzo-
sen sagen, wie wir aus der vorhergehenden Buchstaben-
tabelle wissen: n^avoir pas fait une panse d^a fiir nichts ge^
— 440 —
schrieben hdben^ wörtlich nicht einmal den Bauch eines Meinen, a;
dieser Bauch wäre die Figur der indischen Null, und nicht
undenkbar, dass auch ihr irgend ein solcher geringfügiger
Buchstabenbestandteil zu Grunde liegt; denn die Buchstaben
werden überhaupt gern zu Typen des Allergeringfugigsten
erhoben. Doch fand ich für alle meine Vorstellungen kein
Gehör — der Professor blieb dabei, dass die Null ihrer
Natur nach überhaupt nicht geschrieben werden dürfe, dass
daher auch die Engländer niu" von nine digüs redeten, weil
die Null nur a cipher sei, und um mich besser zu überfuhren,
gab er mir ein englisches Rebus auf: er nahm ein weisses
Blatt Papier und schrieb das Wörtchen ado mehrmals im
Kreise auf; dann fragte er mich, was das bedeute? — Es
bedeutete Mtich ado dbout nothing y viel Lärmen um nichts.
War das nun Tollheit? — Es Hess sich nicht leugnen,
dass sich im Kopfe dieses modernen Pythagoras wahre und
irrtümliche Ideen gleichsam kreuzten und einander die
Wage hielten, ja, dass ihnen eine ganz richtige und frucht-
bare Beobachtung zu Grunde lag — Kinder und Narren
reden bekanntlich oft die Wahrheit, und zum Narren fehlte
nicht gerade viel. Der Einfall mit den Strichen ist in der
That ein vollkommen gesunder und gar nicht prinzipiell
von der Hand zu weisen. Der Professor hätte nur seine
Ziffern nicht a priori konstruieren, sondern historisch ent-
wickeln sollen. Er brauchte sich in den Zahlensystemen der
Völker nur ein wenig umzusehen, so fand er wirklich
Ziffern, die augenscheinlich nach seiner Methode gebildet
worden waren — ich meine natürlich einfache Ziffern, ele-
mentare Ziffern, was die Engländer Digits oder Finger nennen.
Über diese Einschränkung müssen wir zuvörderst eine kurze
Erklärung geben.
Man muss offenbar einfache und zusammengesetzte
Ziffern unterscheiden, das heisst, solche, wo zum Ausdruck
einer Zahl ein einziges Zeichen verwendet wird, und solche,
wo man mehrere dazu braucht: zum Beispiel 6 ist eine
einfache, 666 eine zusammengesetzte Ziffer, M eine einfache.
— 441 —
looo eine zusammengesetzte, umgekehrt IV eine zusammen-
gesetzte, 4 eine einfache Ziffer. Für die sogenannten Zahlen-
systeme ist nun allerdings die Methode dieser Zusammen-
setzung das Wichtigste; für den Ursprung der Ziffern aber
ist sie gänzlich indifferent, da sie auf einer mathematischen
Operation beruht, welche mit den bereits vorhandenen ein-
fachen Ziffern vorgenommen wird; denn die Elemente der
Zusammensetzung sind eben keine neuen, sondern immer
jene alten Ziffern. Wirklich originelle Schöpfungen waren
nur die letzteren; bei den komplizierteren Zahlengebilden
reichte gleichsam die Kunstfertigkeit des Geistes nicht mehr
aus, er musste zu einer Umschreibung mit bekannten
Grössen seine Zuflucht nehmen. Eine Ziffer wie 6 verhält
sich zu einer Ziffer wie i6, genau so wie die beiden Zahl-
wörter sechs und zehn, welche beide einfach sind, zu dem
Zahlwort sechzehn, welches aus sechs und zehn zusammen-
gesetzt ist. Wenn man will, kann man auch überhaupt
nur die einfachen Ziffern Ziffern, die zusammengesetzten da-
gegen Zahlen nennen, obgleich das etwas Willkürliches haben
würde, da man im allgemeinen unter Ziffer, im Gegensatze
zu Zahl und Zahlwort, das Zahlzeichen schlechthin versteht.
Wenn wir nun demgemäss die Zifferkomplexe vorderhand
ganz ausser Betracht lassen und nur fragen: auf wel-
chem Wege gewannen die Völker einfache Ziffern?
— so finden wir unter den mehrfachen Wegen, die einge-
schlagen wurden, in der That den obenangegebenen: so-
viel Striche zu machen als Einheiten vorhanden
sind, er ist unstreitig einer der allematürlichsten (i).
Augenscheinlich beruhen auf dieser Methode die vier
ersten phönizischen und altgriechischen Zahlzeichen I, II,
111, IUI, femer die drei ersten römischen Ziffern I, II, III;
und sie dürfte, nur in anderer Weise als unser Mathematikus
wollte, auch unseren drei ersten Ziffern, i, 2, 3 zu Grunde
liegen. Diese sehen in der arabischen (und demnach auch
in der persischen und türkischen) Schrift so aus:
— 442 —
und im Devanagari, mit geringen Abweichungen nach der
älteren oder neueren Druckschrift:
Es kann nun, meine ich, auch dem oberflächlichsten
Betrachter nicht entgehen, dass die i durch einen Haupt-
strich ausgedrückt und diesem bei der 2 ein einziges, bei
der 3 ein doppeltes Häkchen hinzugefugt wird: dieses
doppelte Häkchen bildet mit Weglassung des Grundstrichs
unsere 3; unsere 2 unterscheidet sich von der arabischen
Ziffer Y wesentlich nur durch ihre Lage: der gerade Grund-
strich steht nicht aufrecht wie ein Stiel, sondern hegt wag-
recht am Boden. Ich gebe zu, dass diese Erklärung vde
in der lateinischen Schrift nur auf . die drei ersten Ziffern
passt, denn die folgenden müssen, wenigstens im vorliegen-
den Stande der Schrift, ihre Entstehung einem andern
Prinzip verdanken; sie sehen folgendermassen aus:
4 arabisch 1^ oder ^, indisch 8
D
6
6
"i
7
V
8
A
9
^
»>
»>
»»
»1
>»
C
o „ . f, o
Ich weiss wohl, dass die indischen Zeichen die Anfangs-
buchstaben der entsprechenden Zahlwörter im Sanskrit ge-
wesen sein sollen, gemäss einem andern wichtigen
Prinzip der Zifferbildung (2). Auf ihm beruhen die
übrigen Zahlzeichen der älteren griechischen Inschriften,
wie n {nivre) für 5, J {Mm) für 10, H (HsxaTov das ist
Hmov) für 100, X (Xlhoi) für looo, M {Mvqioi) für loooo;
und offenbar die beiden römischen C (Centum) für loo und
M (Mille) für 1000; L für 50 vnrd als die Hälfte von E«C,
100 erklärt. Für das Auge ist die römische Ziffer L aller-
— 443 —
dings der Buchstabe L, den auch der Franzose meint, wenn
er von einem Mann über die fünfzig sagt: ü en a dans Vaüe,
Sicher ist auch D, 500 eine solche Hälfte, nämlich die einer
andern Ziffer für Tausend: CIO, nur kann man darüber in
Zweifel sein, ob das letztere Zeichen wirklich das Primäre
und nicht vielmehr das Ganze aus der Verdoppelung der
Hälfte hervorgegangen ist. CIO wird für etruskisch aus-
gegeben.
Nach dieser Analogie hat man also auch die indischen
Ziffern erklären wollen, wonach, wenn man das Devanagari
zu Grunde legt, das Zeichen für fünf, yi, der Anfangsbuch-
stabe von Pauli an j fünf, oder P (u), das Zeichen für sechs,
€, der Anfangsbuchstabe von Shash, sechs, oder Sh (ir) sein
müsste und so fort. Bei der Fünf wäre das ziemlich plau-
sibel, indem da nur der obere Querstrich des Sanskritbuch-
stabens fehlte; bei der Sechs dagegen müsste man eine so
g-ewaltsame Verstümmelung der Form annehmen, dass die
Leugnung jedes Zusammenhangs zwischen Buchstabe und
Ziffer offenbar mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat. Es
steht zu glauben, dass in der indischen Schrift wie in der
lateinischen und anderwärts nicht alle Ziffern nach einem
und demselben Prinzip gebildet worden sind; so scheint
mir, wenn ich diese Vermutung äussern darf, die indische
•6 wieder auf die Sprünge von i, 2 und 3 zu kommen:
lässt man das dritte Häkchen weg, so hat man genau die
Figur einer umgekehrten Drei: a = 3, e == 6; da die ent-
gegengesetzte Stellung eines einzigen Häkchens bereits
genügt, die Ziffer zu charakterisieren, so begnügten sich
die Araber mit der Figur i, und imsere 6 ist aus der
letzteren genau so wie unsere 3 aus si entstanden: wir
Hessen den Grundstrich weg.
Aber Buchstaben und Zahlzeichen hängen noch auf
eine andere Art zusammen, und dies führt uns auf einen
dritten Weg der Zifferbildung, der, ich will nicht
sagen für die indischen, aber für andere Systeme sehr
wichtig geworden ist (3). Auf alten Inschriften entlehnten
— 444 —
die Griechen ihre Ziffern den Anfangfsbuchstaben der Zahl-
wörter, wie wir sahen; seit dem fünften Jahrhundert vor
Christus benutzten sie einfach die Buchstaben des Alphabets
als Zahlzeichen, indem sie dieselben die ihrer Stelle ent-
sprechende Zahl, will sagen die Einer, die Zehner und die
Hunderte vertreten Hessen, also a die i, ß die 2 und so
fort, i die 10, x die 20 und so fort, q die 100, a die 200
und so fort; ja sie ergänzten zu diesem Zwecke ihr ioni-
sches Alphabet durch drei sogenannte Episemen, nämlich
durch das Digamma F, welches 6, das Koppa 9 , welches
90, und das sogenannte Sampi, welches 900 vertrat. Genau
so ist es in der hebräischen Quadratschrift, wo Aleph bis Thet
I bis 9, Jod bis Sade lo bis 90, Koph bis Taw 100 bis 400
vertritt; um die Zahlen bis 900 auszufüllen, dienen gewöhn-
lich die fünf Finalbuchstaben; die Tausende werden durch
die Einer bezeichnet mit darübergesetzten Punkten, zum
Beispiel n = 1000. Darauf gründeten die Juden ihre Kab-
bala, und noch heute erinnert der Name des berüchtigten
Hazardspiels Kümmelhlättchen an diese Zählmethode: Kümmel-
hlättchen ist soviel wie Oimelhlättchen , mithin, da der hebrä-
ische Buchstabe Oimel, als der dritte im Alphabet, die
Dreizahl bedeutet, soviel wie Dreihlättchen: bekanntHch wer-
den beim Kümmelhlättchen drei Karten verdeckt aufgelegt.
Man weiss, dass sich in der Gaunersprache oder dem Bot-
welsch namentlich hebräische Ausdrücke vorfinden. Nach
Faulmanns Vermutung waren überhaupt die Zahlzeichen
das Primäre, die Lautzeichen das Sekundäre, und die Er-
findung der Buchstabenschrift bestand darin, dass man die
Ziffern zur Schreibung von Wörtern verwendete (Btich der
Schrift, S. 77).
Wäre dem so, so würde der Wert der Zahlzeichen
nicht auf der Anordnung des Alphabets, sondern umge-
kehrt die Anordnung des Alphabets auf dem Werte der
Zahlzeichen beruhen, und in Beziehung auf die letzteren
stünden wir wieder auf dem alten Flecke. Wie sind sie
entstanden? Nun, man gestatte mir, wenn die eben ange-
— 445 —
gebene Methode in Wegfall kommen soll, eine an ihre
Stelle zu setzen, welche dann als die dritte zu gelten
hätte und die wiederum auf einer direkten Abbildung der
wirklichen Dinge, ohne Vermittlung der Lautsprache, be-
ruht (4).
Diese Methode ist, die Ziffern durch Dinge auszu-
drücken, welche erfahrungsmässig eine bestimmte
Anzahl von Einheiten enthalten. Hierfür gibt es ein
sehr hübsches Beispiel: die römische Ziffer V, welche äusser-
lich mit dem Buchstaben V, wie X mit dem lateinischen
X und dem griechischen X zusammenfällt — ein X für ein
U machen bedeutet eigentlich eine römische Zehn statt einer
römischen Fünfe schreiben; genau so nennt man in Frank-
reich betrügliches Rechnen allonger les S, das heisst aus den
s am Ende der Rechnung, welche Sou^s, fs machen, welche
Francs bedeuten.
Die Ziffer V hat die Form einer geöffneten Hand, die
oft damit verglichen wird; X sind zwei Hände. Diese
Deutung scheint mir mindestens ansprechend; doch wollen
wir uns bemühen, die Sache recht zu verstehen und die
Analogie prüfen, wie sie eigentlich gemeint ist. Es gibt
viele Dinge, welche zufällig die Gestalt von Ziffern haben,
an uns und ausser uns. Die Acht hat die Gestalt einer
Brezel, daher hat man das laufende Jahr 1888 das Drei-
Brezel- Jahr getauft Das an den Schläfen vorgekämmte
Haar, wie es die preussischen Soldaten tragen müssen,
nennt man eine premsische Sechse, Im Kladderadatsch befand
sich Ende November 1880 ein Bild: Statistikers iMst am
i. Dezember. Der Statistiker weidete sich an dem Anblick
von mehr als 40 Millionen Zählkarten. Sein Gesicht war
gleichsam aus Ziffern gebildet. Es stellten vor
das Obr eine 2
die Augen eine liegende 8
der Backenbart eine 9
die Nase mit Kinn eine 3
die Stirnlöckchen und Stirne eine 5
— 446 —
die Feder hinterm Ohr eine i
die Nasenlöcher eine 4
die Schläfe eine 6.
Dergleichen Analogien gehen uns nichts an, denn die Kör-
perteile, welche gerade die Gestalt von ZiflFem haben, ver-
danken diese Gestalt nur einer Laune der Natur, sie ent-
halten nicht die Einheiten einer Zahl, sie stehen in gar
keiner Beziehung zu der Zahl, sie sind keine ZahleiL
Vermöge der vielgerühmten Plastizität unseres Leibes
vermögen wir femer mit den Fingern neben andern Dingen
auch Ziffern nachzumachen. Der Gott Janus war ein Son-
nengott: das deuteten die alten Römer damit an, dass sie
ihn in der rechten Hand 300, in der linken 65 Steinchen
zählen Hessen; ursprünglich aber hatten die Finger seiner
rechten Hand die Zahl 300 (CCC), die Finger seiner linken
Hand die Zahl 55 (LV) selbst angegeben (Plinius H, N,
XXXIV, 7). Dergleichen Analogien gehen uns abermals
nichts an, denn die Hände, welche künstlich zu Ziffern
gestaltet worden sind, stehen abermals in keiner inneren
Beziehung zu den Zahlen; die Ziffern, die man sonst in Erz
und Marmelstein einzugraben pflegt, werden nur zufallig
einmal am Leibe ausgedrückt.
Wenn dagegen die römische Ziffer V von der mensch-
lichen Hand entlehnt und ihre Verdoppelung, die X, auf
zwei Hände zurückgeführt wird, so besteht zwischen Hand
und Ziffer in der That ein innerer Zusammenhang. Denn
die Hand ist gleichsam eine lebendige Fünf, jeder Finger
eine Einheit, die uns angeboren ist, ja das Zahlwort Fünf
soll nach Grimm selbst von den fünf Fingern, das Zahlwort
Zehn von den Fingern beider Hände abgeleitet sein. Als
im Jahre 1860, am Vorabend der Madonna di Fiedigrotta
Garibaldi in Neapel einzog und durch Dekret vom 15. Ok-
tober das Königreich beider Sizilien für einen Bestandteil
des einen und unteilbaren Italiens erklärte, wurde dies eine
Italien von den Unterthanen plastisch dargestellt — schon
vor 1864 dargestellt, wo man es an der Nordseite des
— 447 —
königlichen Palastes in Marmor abbildete. Am 21. Oktober
fand eine allgemeine Volksabstimmung über die Annexion
statt: die Neapolitaner hatten mit Staunen einen einzigen
Mann, nur von fünf oder sechs Soldaten begleitet, uner-
schrocken in die Stadt kommen sehen, wo noch 6000 Prä-
torianer eines absoluten Königs standen: die lebhaften
Lazzaroni begeisterten sich für einen Mut, der ihnen so
ferne lag; sie durchzogen lärmend die Strassen und riefen
aus Leibeskräften: Itälia unaf Itolia una! — Sie brüllten, bis
sie nicht mehr konnten; um aber ihren Einheitsbestrebungen
fort und fort beredten Ausdruck zu geben, hielten sie
den Zeigefinger in die Höhe. Der Finger war die
italienische Einheit! — Bekanntlich braucht schon Homer für
zählen das Wort ftef-iTtatetv , gleichsam fünfern {TtewaCeiv)
oder abfingern; denn die älteste und einfachste Zählungsart
ist die, etwas an den fünf Fingern abzuzählen, und es gibt
Völker, die, sich mit einer Hand begnügend, nur bis zu
fünf zählen und von sechs bis zehn die nämlichen Wörter
mit einem Beisatze wiederholen.
Wenn wir beim Schwur die rechte Hand erheben und
den Daumen, den Zeige- und den Mittelfinger ausstrecken,
um die Dreieinigkeit anzudeuten — wenn der Papst zum
Zeichen derselben Dreieinigkeit mit den erhobenen drei
ersten Fingern die Völker segnet, während der griechische
Metropolit, angeblich den Namen ^Iriaovg KgiOTog nach-
bildend, den Zeige-, den Mittel- und den kleinen Finger
ausstreckt und den Daumen und den Goldfinger zusammen-
schliesst: ist es etwa eine andere Zählmethode? — Wie man
in den Kirchen hin und wieder als Symbol der Dreieinigkeit
ein Dreieck mit einem Auge abgebildet sieht, so werden
die Finger als eine leibhaftige Dreieinigkeit gezeigt und,
wie das Volk sagt, aus fünfen gezogen.
Daher denn in der Sprache des Volks Hand imd Fünfe
geradezu gleichbedeutend geworden ist. Wenn man einem
die Hand drauf gibt, so gibt man ihm Fünfe drauf — wenn
man einem eine Ohrfeige gibt, so thut man ihm fünfe aus —
— 448 —
wenn der französische Vater seinem Sohne zwei Ohrfeigen
erteilt, so gibt er ihm cinq et quatre, das heisst eine mit der
flachen Hand und eine andere mit dem Handrücken (wo
bloss vier Finger treffen) — wenn der Grieche einem Tür-
ken flucht, so ruft er ihm zu Va Ttevre ^g rä ^fidzid aov, das
heisst, möchten dir die Fünfe in die Äugen [fahren] und streckt
die fünf Finger aus wie Proteus, als er seine Robben zählte.
Wie wenn daher auch eine römische HI nicht drei
abstrakte Striche, sondern drei lebendige Finger, und, wie
die Engländer sagen, drei Digits bedeutete, obivohl dieses
Wort gegenwärtig nicht mehr die Einheiten selber, sondern
die Ziffern von eins bis neun auszudrücken pflegt? Wie
wenn alle Ziffern aus Dingen hervorgegangen wären, die
wie die Hände und die Finger natürliche Zahlen sind? Ein
Uhr nach Mittag oder nach Mittemacht nennt der Italiener
il Tocco, das heisst den Schlag, weil die Uhr bloss einmal
schlägt; und bei der Tombola pflegt das römische Volk die
Zahl Zwei durch le gambe della donna, die Beine des Weibes
zu umschreiben. Die Duale sind reichlich gesät, dieser ist
dem Volke gerade im Gegensatz zum männlichen Ge-
schlecht charakteristisch. Ha! Mein Mathematiker glaubte
wohl recht einfach zu sein, indem er die Ziffern aus geraden
Linien zusammensetzte; aber über die Einfachheit der Natur,
die uns ohne Worte sprechen und zählen lehrt und die uns
die Ziffern mit den Zahlwörtern an die Hand gegeben
hat, geht doch keine Schrift der Welt.
Sach-Register.
A.
Adler, von Karl dem Grossen zum
Symbol des von ihm gegründeten
Reiches erhoben 340. Der Dop-
peladler bezieht sich auf das ost-
und weströmische Reich 341.
Affen, Alarmsignale 217.
Akazie, heiliger Baum 35. Die
Freimaurer legen ihren Brüdern
Akazienzweige aufs Grab 36.
Ameisen, Alarmsignale 217.
Anspeien oder Ausspeien vor
einem, Zeichen der Verachtung
270.
Antonius, Leichenrede, die er
Julius Cäsar hielt 282.
Apokalyptische Reiter 84.
Aristodicus jagt alle Sperlinge aus
dem Tempel des Apollo 304.
Arsch, das Bieten oder Weisen
desselben, Zeichen der Verachtung
271.
Augen, physiognomische Bedeutung
derselben 115.
Augustinus, wie er durch eine
höhere Stimme bekehrt ward 88.
B.
Bäcker, was sie für Beine bekom-
men 138.
Bäckerbeine 138.
Kleinpaul, Sprache ohne Worte.
Besitzergreifung, faktische 288.
Beth und Gimel, Buchstabenrätsel
in den Schulen Karthagos zur Zeit
der Vandalenherrschaft 411.
Bienen, Zeichen, die sie sich geben
217. In Wappen 342. 304.
Blumen, vegetabilische Geschlechts-
teile 28.
Blumensprache 316.
Brandmarkung 329. 401.
Brazen Head des Roger Bacon zu
Oxford 237.
Brief marken spräche 315.
Brot. Wie die berliner Taubstum-
men diesen Begriff ausdrücken 387.
Bülbül, die persische Nachtigall 15.
21.
Buckelige, gewöhnlich geistreich
105.
Bundschuh, Abzeichen der Bauern
327-
G.
C, Geschichte des lateinischen Buch-
stabens und Aussprache desselben
415.
Cagots, Abzeichen im Mittelalter
328.
Ceder, heiliger Baum 35. Die Zitro-
nen wurden für ihre Früchte ge-
halten 36.
Charlottenburg, Zeichen, welches
29
— 450
die Zöglioge des berliner Taub-
stummeninstituts für diese Stadt
haben 386.
Chinesische Schrift 405.
Chironomia 366.
Cicero, der Name von den Kicher-
erbsen 416. Schibboleth bei der
Sizilianischen Vesper 416.
Cisterziense r beobachten das Ge-
lübde des Stillschweigens 383.
Condianus. Ihm wird seine und
seines Bruders Ermordung durch
einen Traum verkündigt 66.
Croquis der Einjährig- Fr«willigen ;
lehrreich für die Entstehung der
Schrift 393.
Cy presse, heiliger Baum 35. Sym-
bol des Lebens und der Unsterb-
lichkeit 36.
D.
Dämon als Todesbote 86.
Daumen, wie ein alter Herzog da-
mit spricht 314. Das Publikum
gibt damit im Amphitheater den
Befehl zur Erteilung des Todes-
stosses 362.
Den Daumen beissen, Zeichen
der Verhöhnung 276.
Den Daumen stecken 273.
Davidsschild, Bild des Namens
Gottes 396.
Dion, Erscheinung, die er vor sei-
nem Tode hatte 82.
Dolman, ungarisches Montierungs-
stück 336.
Doppelgänger 89.
Dreieck, mit der Spitze nach oben,
Symbol des Feuers und des Gottes
Siva; mit der Spitze nach unten,
Symbol des Wassers und des Gottes
Vischnu 395. Symbol des weib-
lichen Gliedes 376. Apotheker-
zeichen 396. Das sehende Drei-
eck, Symbol der Dreieinigkeit 25.
Dreieinigkeit, beim Segen mit den
Fingern dargestellt 447.
Dreizehn, gefahrliche Zahl, Ur-
sprung dieses Aberglaubens 53.
E.
Ei, Weltsymbol 24.
Einhorn, Symbol der Keuschheit
32. Es versinnlicht die Fleisch-
werdung des göttlichen Wortes im
Schoose der Jungfrau Maria: Be-
schreibung eines alten deutschen
Bildes^ welches die Verkündigung
Afariä unter dem Bilde einer
Treibjagd darstellt 33.
Erbschlüssel; Rest der Coscino-
mantie 32.
Erinyen, die personifizierten Flüche
81.
Eselbohren, Zeichen des Spottes
265.
Eumeniden 81.
F.
Fächersprache 320.
Feige, Symbol der Gebärmutter
und der weiblichen Scham über-
haupt 28. 99. 274. Z>ie Feige
bieten^ Zeichen der Verachtung 273.
Cato wirft Feigen in den Senat
280.
Feigenbaum, heiliger, Symbol der
Gottheit 26.
Fica, obscöne Bedeutung dieses
Wortes im Italienischen 274.
Finger, die natürliche Einheit 447.
Durch die Finger sehen, ein
Auge zudrücken 261.
Fisch, Typus der Fruchtbarkeit 27.
Mystisches Zeichen des Christen
und Christi selbst 43.
451
Flüche und Schwüre, absichtlich
verkleidet und verhüllt 169.
Franklin schickt dem englischen
Minister Klapperschlangen 303.
Frauen, ihr dämonischer Charakter
80.
Freitag, bei uns ein Unglückstag,
in Amerika ein Glückstag 53. Das
Omen ausgegangen vom Karfreitag
53.
Früchte. Bilder der Gebärmutter
28. 99.
Fünf und Hand in der Sprache
des Volkes gleichbedeutend 447.
Fuss, charakteristisch für die weib-
liche Scham 108.
Gauner- und Spitzbubenzinken
374.
Geige, volksmässiges Sinnbild für
das Weib, wurde zum Ausdrucke
des Spottes 372.
Gelimer erbittet in seiner Not ein
Brot , einen Schwamm und eine
Harfe 302.
Gemsen zeigen die Gefahr durch
Pfiffe an 216.
Geschlechtscharaktere 109.
Gladiatoren heben einen Finger in
die Höhe, wenn sie um ihr Leben
bitten 362. Die Zuschauer geben
den Befehl zur Erteilung des To-
desstosses, indem sie den Daumen
nach unten wenden 362.
Granatapfel, Symbol der ehelichen
Fruchtbarkeit 27.
Guelfen und Ghibellinen, Feld-
geschrei und Abzeichen 328